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Wie fasziniert Kunst? - bewusst und ästhetisch

  • Dominik Paß: Bewußtsein und Ästhetik. Die Faszination der Kunst. Buch und CD. Bielefeld: Aisthesis 2006. 492 S. Gebunden. EUR (D) 45,00.
    ISBN: 978-3-89528-588-2.
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Zusammenfassung

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Niklas Luhmanns Soziologie sah sich immer wieder mit bewusstseinstheoretischen Fragestellungen konfrontiert, eine systemtheoretische Bewusstseinstheorie existiert bislang jedoch nicht. Mit der vorliegenden Studie versucht Dominik Paß nichts Geringeres, als dieses Desiderat zu beheben. Die wichtigsten Thesen der Systemtheorie bündelnd, werden diese in Erweiterung des Formkalküls George Spencer Browns und im Anschluss an den différance-Begriff Derridas von Paß neu konturiert und integriert.

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Paß entwirft damit ein Theoriekonzept, das ihm die Grundlage liefert, Ästhetik entgegen der klassisch-systemtheoretischen Ästhetiktheorie wieder auf Bewusstsein zu beziehen und die Theorie der Kunst (als soziales System) in eine Theorie der Wahrnehmung beziehungsweise in eine Theorie der Wahrnehmung von Kunstwerken im engeren Sinne umzuschreiben. Ihre Anwendbarkeit wird mittels verschiedener Wahrnehmungsphänomene, vorwiegend aus dem Bereich des Akustischen, demonstriert.

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Die Unwahrscheinlichkeit und
Unbestimmbarkeit des Bewusstseins

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Eine Theorie der Wahrnehmung, die ihr ästhetisches Erleben wieder auf Bewusstsein bezieht, »[...] kann sich nicht ausschließlich und primär auf kommunikative Artefakte alleine konzentrieren, sondern muss beschreiben können, wie sich die Wahrnehmung von Kunstwerken vollzieht.« (S. 18) Die Basis einer entsprechenden Ästhetik ist folglich eine Bewusstseinstheorie, in der die zentrale Frage zu klären ist, was Bewusstsein ist und wie es sich konstituiert / konstruiert. Eine derartige Frage erweist sich aufgrund ihrer Komplexität als überaus problematisch. Dominik Paß begegnet ihr in dem Auftakt seiner Studie, indem er unter Bewusstsein zunächst etwas Unbestimmbares und Unwahrscheinliches versteht.

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In einer ersten disziplinären Verortung (Naturwissenschaft, Philosophie, Literaturwissenschaft) des Begriffs sieht er seine Annahme begründet. Er arbeitet nacheinander die zahlreichen Positionen ab mit dem Ergebnis, dass die verschiedenen Herangehensweisen allein Lösungen anböten, die auf das Schema der Kausalität zurückgingen und damit schnell an ihre Grenzen stoßen. Für Paß liegt das Problem im Detail verborgen: Bewusstsein lässt sich nur bestimmen, wenn es »[...] im Unterschied zu anderen möglichen Untersuchungsgegenständen« (S. 29) untersucht wird. Damit wird von ihm ein Perspektivenwechsel hin zu einer differenzorientierten Theorie – in diesem Fall zur Systemtheorie – vorgenommen, die von der Unterscheidung von Bewusstsein und Kommunikation getragen wird. Um jedoch eine gegenseitige kausale Abhängigkeit beider Begriffe zu umgehen und das Bewusstsein weiterhin als Universale konstituieren zu können, weicht Paß auf die Autopoiesis des emergenten Systems aus. »Und das heißt für das Bewusstsein (aber auch für die Kommunikation) vor allem: seine spezifische Zeit- und Sinnstruktur, die Operativität.« (S. 32)

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In einem zweiten Schritt nimmt er eine soziohistorische Verortung vor, um damit die Unwahrscheinlichkeit des Bewusstseins deutlich zu machen. Unwahrscheinlichkeit als ein Theorem der soziologischen Systemtheorie wird mutatis mutandis auf die Genese psychischer Systeme angewendet und in den entsprechenden Argumentationsverlauf übersetzt. Den umfassenden Untersuchungen stellt er zunächst Überlegungen aus historischer und kommunikativer Sicht voran. In der Hauptsache werden Luhmann, aber auch Norbert Elias und Sigmund Freud, herangezogen, um den Prozess der Ausdifferenzierung des Bewusstseins als einen »Wandel der primären Form gesellschaftlicher Differenzierung« 1 nachzuzeichnen und in seinen Konsequenzen für das Individuum abzuschätzen, so dass Paß Bewusstsein als historisch relative Größe annehmen kann. Aus diesem Prozess, in dem sich das Individuum mehr und mehr der Gesellschaft gegenüber distanziert und dabei gleichsam die eigene Differenz auf sich selbst zurückinterpretiert, will Paß die Genese eines fokussierteren Erlebens begründen.

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Der Begriff des Bewusstseins, so Paß, bezeichne jedoch weit mehr als diese ersten Bemühungen der Selbstzuschreibung des Individuums, und seine Verwendung ergebe sich vielmehr aus den Formulierungsschwierigkeiten zur Beschreibung des Phänomengeschehens. Ein ähnliches Problem zeige sich in der aktuellen Beschreibung des Bewusstseins, das heißt in diesem Fall in der Beschreibung des Unwahrscheinlichen, die sich in einer gewissen Widerständigkeit der Sprache begründe (vgl. S. 55 f.). Paß sieht deshalb die Beschreibung »[...] im Rahmen einer so weit als möglich de-ontologisierten Theorie [...]« (S. 56) vor. Um ein »Nachhinken« der Sprache gegenüber der Komplexität des zu untersuchenden Gegenstandes zu umgehen, schlägt er deshalb die Signifikation des Bewusstseins als Konstruktion vor. Signifikation meint einen Prozess, der nach Paß nur zirkulär-kausal zu begreifen ist und dessen Bezeichnungsleistungen das Bewusstsein zugleich schaffen und verändern. 2

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»Wie also vom Bewusstsein sprechen, wie nicht von ihm sprechen?« (S. 61) – Mit dieser Frage deutet Paß bereits an, dass in der gewählten Form der Beschreibung nicht ohne eine »Minimalontologie« 3 auszukommen sei. Diese wird von Paß jedoch so klein wie möglich gehalten, indem er – Bewusstsein fortan als System verstanden – die residualontologische Prämisse der Systemtheorie, die mit Luhmann davon ausgeht, dass es Systeme gibt, um Plausibilitätsprämissen erweitert und damit konstruktivistisch transformiert. Er weist aber darauf hin, dass die Sprache und ihre »Ontologisierungs-›Leistungen‹« (S. 65) in letzter Konsequenz kaum umgehbar seien und die Beschreibung deshalb nur unter diesem Vorbehalt stattfinden könne.

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Bis hierhin vorgedrungen, sollte dem aufmerksamen Leser klar geworden sein, wie Paß seinen Auftakt geschickt entlang der Problemfelder führt, von denen die Bewusstseinsthematik immer schon beziehungsweise immer noch umgeben ist, um eigene, vorerst skizzenhafte Lösungen anzubieten, die, so darf der Leser hoffen, am Ende seiner Studie eingelöst werden.

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Grenzen und Resonanzen
der (akustischen) Wahrnehmung

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Obschon Paß in seinem Auftakt eine Terminologie für eine Theorie des Bewusstseins noch nicht en detail erarbeitet hat, ist es ihm dennoch möglich, über einige wenige Begriffe (System, Umwelt, Operationen) erste Überlegungen zu Wahrnehmungsprozessen anzustellen und diese an einzelnen Phänomenen deutlich zu machen. Mit »[...] einer ersten, gleichsam summarischen und ›medienpraktischen‹ Annäherung sollen die Grenzen des Bewusstseins verdeutlicht werden.« (S. 81) Wenngleich Paß mit Beispielen aus dem Bereich des Optischen beginnt, entscheidet er sich begründet gegen diesen Zugang und für den Bereich des Akustischen 4 ,

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[...] weil sowohl phonetische Poesie als auch elektronische Musik noch eine Rolle spielen werden und die folgenden Überlegungen damit in einem ästhetischen Kalkül integrierbar sind, dass das Erarbeitete in bezug auf eine zu formierende Ästhetik (die Phänomenotechnik als Technik des Produzierens und Provozierens von Wahrnehmungen) fruchtbar machen kann. (S. 88)
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Mithilfe akustischer Wirklichkeitsexperimente lassen sich für Paß auf praktikable Weise die Grenzen der Wahrnehmung markieren, die dann von ihm, auf Bewusstsein bezogen, in differenztheoretische Überlegungen übersetzt werden. 5 Dabei fasziniert, dass es zuweilen nicht möglich scheint zu unterscheiden, ob hier allein eine differenzlogische Beschreibung der akustischen Wahrnehmung und damit des Bewusstseins stattfindet, oder aber einzelne differenztheoretische Axiome von Paß akustisch »unterlegt« werden.

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Ohne hier auf jedes der Beispiele im Einzelnen eingehen zu wollen, gelingt es Paß mit diesen zu veranschaulichen, wie und warum daran gezweifelt werden kann, dass das Bewusstsein (als geschlossenes System) in unmittelbarem Kontakt zu seiner Umwelt steht. Es sind Beispiele akustischer Illusionen, die zeigen, dass das Bewusstsein selektiv wahrnehmen muss, um existent und reaktionsfähig zu bleiben. Mittels Reduktion von Komplexität, hier durch die Ausgrenzung von potenziell wahrnehmbarer Akustik, wird zugleich der eigene Aufbau von Komplexität durch Differenzierung ermöglicht. Das Bewusstsein als geschlossenes System ist in der Lage, die Umwelt zu registrieren, ohne von ihr destruiert zu werden, weil es nicht von ihr durchflutet wird. Kognition gilt dabei als das Verbindungsstück, jedoch nicht als »[...] Import einer Umwelt oder von Umweltelementen, sondern vielmehr das Errechnen der Umwelt, das ›Errechnen einer Realität‹, die durch das System beobachtbar wird und in die Realität eingeht.« (S. 139) Über diese Errechnung ist das System letztlich dazu fähig, importierbare Bereiche sowohl zu bevorteilen oder aber zu benachteiligen und das heißt: zu unterscheiden.

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Form, Kalkül, System

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Paß ist nun an einem Punkt angelangt, an dem die Aufarbeitung zentraler Begrifflichkeiten und Kategorien unabdingbar geworden ist und er deshalb den Fokus insbesondere auf den Systembegriff richtet. Im Vordergrund stehen der Aspekt der Zeitlichkeit und die Notwendigkeit der Reproduktion der Systemelemente.

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Für den Spezialisten liest sich dieses Kapitel wie ein Exkurs in die vertrauten zentralen Theorien der Differenzlogik: Niklas Luhmanns Systemtheorie und George Spencer Browns Laws of Form 6 . Dem Nicht-Spezialisten fällt es jedoch mitunter schwer, die Engführung dieser beiden (Super-)Theorien in ihren differenzlogischen Strukturmustern nachzuvollziehen. Vielmehr könnte der Eindruck entstehen, ein Theoriebaukasten würde geöffnet, der allerlei Bausteine anbietet, dem jedoch ein Bauplan fehlt.

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Anders als konventionelle Systemdefinitionen, die auf die Identität der Letztelemente abzielen und auf diese Weise um eine mehr oder weniger verdeckte Verankerung in der soliden Dinglichkeit der Objekte bemüht sind, nimmt Paß den Weg über die Konstitution des Systems aus sich selbst heraus hin zu einem operativen Systembegriff und legt damit den Zugang zur Systemtheorie. Unklar bleibt zunächst, warum er dafür den mühseligen Umweg über das Formkalkül Spencer Browns geht. Erst später wird verständlich, dass es Paß längst nicht allein um die Frage geht, »[...] was ein System zu einem System macht, das heißt: Wie ein System wird, was es ist oder: wie es sich fortschreibt [...]« (S. 144). Er geht vielmehr einen Schritt weiter und fragt nach der Operation des Beobachtens der Systeme. Unter Anwendung des Formkalküls innerhalb der Systemtheorie wird das System in die Unterscheidung von System und Umwelt gebracht und damit als ihre Differenz (mit allen Konsequenzen: Form, Operation, re-entry-Figur, Paradoxien und ihre Entfaltung) bestimmt. Und gerade die von Paß unternommene Anwendung dieser Unterscheidungen auf soziale Systeme eröffnet die Möglichkeit, Begrifflichkeiten der Laws of Form auf die Struktur der Kommunikation anzuwenden und führt zugleich auf den Begriff des Bewusstseins zurück (vgl. S. 191).

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Grundstrukturen der Operationen
des Bewusstseins

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Um die Grundstrukturen der Bewusstseinstheorie freizulegen, entfaltet Paß die Operationen des Bewusstseins in ihren Grundstrukturen. Zu den Laws of Form werden dafür erneut die Systemtheorie und nunmehr auch der différance-Begriff Derridas herangezogen und auf das Äußerste strapaziert, insofern sie an die eigenen Grenzen ihrer Beobachtungsmöglichkeiten geführt werden. Denn Paß wendet sie zum ersten Mal auf einen Bereich an, der für diese Theorien bislang unerreicht zu sein schien. Zu Beginn wird das Bewusstsein auf der Basis der zentralen Begrifflichkeiten der Laws of Form in drei wesentlichen Schritten analysiert und auf seine Parameter festgelegt (vgl. S. 192):

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1. Die Form des Bewusstseins: Zunächst gilt es, das Bewusstsein über dessen operativen Charakter als Differenz zu bestimmen, um damit die zentrale Bedingung der Möglichkeit des Bewusstseins als (autonomes) System zu schaffen. Paß wendet nun die Zwei-Seiten-Form der Formenlogik Spencer Browns und die Theorie der Beobachtung zweiter Ordnung so an, dass er das Bewusstsein als die Differenz von Selbstreferenz und Fremdreferenz handhaben kann. Dem Bewusstsein wird damit eine eigene Konstituierungsleistung zugeschrieben, wodurch es sich schließlich anderen Systemen, insbesondere dem psychischen System, gegenüber durch Ausgrenzung abgrenzen kann. 7

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2. Der Operator: Die Identifikation des Operators des Bewusstseins geht für Paß mit der Frage einher, mit welchem Letztelement das Bewusstsein operiert. Er kann dieses Letztelement als Gedanken demaskieren, insofern er nicht als das Gedachte eines Denkvorgangs aufgefasst wird, sondern vielmehr den Denkvollzug eines psychischen Vorgangs beschreibt. Solche Gedankenereignisse erzeugen und reproduzieren sich in der Konstituierung des Bewusstseins als Differenz. Die für diese Operation benötigten Letztelemente geschehen als elementare Ereignisse.

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3. Das re-entry des Bewusstseins: Damit sich das Bewusstsein schließlich selbst identifizieren kann, muss es sich selbst beobachten, es muss sich selbst erscheinen können. Dies setzt voraus, dass es sich von anderen und anderem unterscheiden und sich gleichzeitig über diesen Unterschied identifizieren kann. Das heißt in der Beobachtung seiner selbst sind die bewusstseinseigene und die aktuelle Unterscheidung, die beobachtete und die beobachtende, identisch. Das Bewusstsein kann also die Operation der Unterscheidung auf sich selbst anwenden, sie als Teil seiner selbst behandeln.

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Paß’ Grundlage ist damit ausreichend operativ-konstruktivistisch angelegt, so dass er daran anschließend die Operationen des Bewusstseins näher in den Blick nehmen kann. Als Figur der Differentialität, wie Paß das Bewusstsein bis hierhin skizziert hat, kann das Bewusstsein nicht länger im Sinne des »Seins als Präsenz« 8 nach Derrida gedacht werden: Die Reflexion auf sich selbst bedeutet gleichzeitig eine Spaltung, die das Bewusstsein von sich selbst trennt und die bedingt, dass die »eigene ›Präsentierung‹« (S. 236) immer misslingen muss. In dem Versuch, sich selbst zu präsentieren, beansprucht das Bewusstsein wiederum Zeit und Raum. Da die »eigene ›Präsentierung‹ « immer eine verschobene ist, ist sie sich selbst gegenüber temporalisiert und findet räumlich statt. Zeit und Raum sind jedoch nicht Bedingung der Möglichkeit ihrer selbst, sondern erst Effekte der Operationen des Bewusstseins. So auch in der Operation der Beobachtung und mehr noch in der Operation als Vollzug der Beobachtung. Der hier auftretende zeitliche Effekt, der Zusammenfall von Operation und Beobachtung, ist für die aktuelle Konstitution des Bewusstseins von elementarer Bedeutung, denn auf dieser operativen Ebene wird es konstitutiv intransparent. Das Bewusstsein ist dadurch blind für sich selbst, zumindest für seine aktuelle Gegenwart. Dieses scheinbare Dilemma macht Paß sich zunutze. Indem er Operation und Beobachtung »auseinander zieht«, kann er diesen Sachverhalt als zwei Zeitverhältnisse handhaben. Diese »Doppel-Zeit des Bewußtseins« (S. 248) bietet ihm die Vorlage, das Konzept der Autopoiesis des Bewusstseins zu einem Zeitkonzept umzukonzipieren und die Produktion der Elemente Sinn und Natur als Koproduktion von Sinnzeit und Naturzeit zu konzipieren.

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Konnte Paß bis hierhin das Bewusstsein als ein System mit operativem Charakter konstituieren, soll in einem letzten Schritt die für das System notwendige Kopplung zu anderen Systemen untersucht werden. Die beiden entscheidenden Bezugssysteme für das Bewusstsein sind Natur / Leben und Kommunikation. Paß kann hier wiederum auf systemtheoretische Anleihen zugreifen und das Verhältnis von Bewusstsein und Kommunikation als strukturelle beziehungsweise operative Kopplung beschreiben, die durch gegenseitige Abhängigkeit gekennzeichnet ist. Das Verhältnis lässt sich jedoch nicht linear-kausal bestimmen, sondern wird über das den beiden in gleicher Weise zur Verfügung stehende Medium Sprache hergestellt und über die Funktion des einen für das andere System definiert.

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Die entscheidende Funktion der Kommunikation für das Bewusstsein begründet sich darin, dass seitens des Bewusstseins das Operieren mit Sprache gleichsam den Effekt der eigenen operativen Verfertigung hat. 9 Aufgrund der »basale[n] Analogizität der Struktur« (S. 289) (Signifikant und Signifikat) kann sich Sprache in die Form des Bewusstseins einfügen, dieses strukturieren und schließlich zur eigenen Reproduktion verhelfen.

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Der Körper des Bewusstseins
(Leben / Leib)

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Im Gegensatz zur Kommunikation als die eine »›Front‹« (S. 295) des Bewusstseins bildet der Körper – stellvertretend für Natur / Leben – die andere Front.

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Obwohl der Körper nicht als Sinnsystem – und eine Kopplung kann nur zwischen Sinnsystemen hergestellt werden – aufgefasst werden kann, ist es dem Bewusstsein möglich, einen Bezug zu ihm herzustellen. Voraussetzung ist, dass der Körper nicht im biologischen Sinne, sondern bereits als ein sozialisierter Körper verstanden wird. Um dieses Verhältnis zwischen Bewusstsein und Körper zu beschreiben, konsultiert Paß das Konzept des symbiotischen Symbols beziehungsweise des symbiotischen Mechanismus aus der Systemtheorie. Dient das Konzept aus systemtheoretischer Sicht der »›Über-Setzung‹ des Körpers in die Kommunikation«, modelliert Paß es in Bezug auf das Bewusstsein neu. Er nimmt einen Perspektivenwechsel vor, indem das Augenmerk nicht länger auf das Zusammenleben verschiedener Körper gerichtet ist, sondern vielmehr auf das »›Zusammenleben‹ von Bewusstsein und Körper; und zwar Bewusstsein als vom Körper unterschiedenes.« (S. 305) Unter Bezugnahme auf die in der Phänomenologie stammende Unterscheidung von Körper und Leib kann er das Verhältnis von Bewusstsein und Körper über den Leib als symbiotischen Mechanismus zwischen beiden im Bewusstsein darstellbar machen. Der Körper, für das Bewusstsein unzugänglich, wird auf symbiotische Weise durch den Leib vom Bewusstsein ersetzt, wodurch es sich nicht nur räumlich verorten, sondern gleichsam sichtbar werden kann. Das anfängliche Problem der Unzugänglichkeit wird vom Bewusstsein selbst gelöst: Ist der Körper die notwendige, aber nicht zugängliche, Umweltvoraussetzung, ist der Leib ein vom Bewusstsein transformierter Körper,

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[...] ein anderes Selbst des Bewußtseins, kein Selbst für sich; es ist die Erfindung des Bewußtseins, die mit dem Körper nichts zu tun hat. ›Leib‹ ist vielmehr der Titel für den Bezug des Bewußtseins auf den Körper (der symbiotische Mechanismus), er bezeichnet die Unüberbrückbarkeit der ökologischen Differenz. (S. 322)
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Ästhetik / aisthesis:
Die Kunst des Bewusstseins

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Nach nunmehr dreihundert Seiten intensiver Auseinandersetzung mit dem Begriff des Bewusstseins unter differenzlogischen Bedingungen von Systemtheorie und Formkalkül schreibt Paß eine Bewusstseinstheorie, die sich im zweiten Teil der Studie zu bewähren hat. Sie bildet die Grundlage für eine Ästhetiktheorie, die, wie bereits zu Beginn der Studie angekündigt, zu beschreiben hat, wie sich die Wahrnehmung von Kunstwerken vollzieht. Ästhetisches Erleben wird nun zur »Sache des Bewusstseins« gemacht und fällt somit nicht mehr in den »Zuständigkeitsbereich« der systemtheoretischen Ästhetiktheorie, die sich auf das soziale System Kunst konzentriere und dabei mehr an der Kommunikation der Kunst interessiert sei als an deren Wahrnehmung. 10 Diese – möchte man Paß fast entnehmen – würde »vorsätzlich« verhindert, indem »[...] die Systemreferenz (das Sozialsystem Kunst) außer acht [ge]lassen [wird]. Und bezeichnenderweise wird [...] eine Systemebene völlig ausgeklammert: Die Ebene der Bewusstseinssysteme.« (S. 341) Das Versäumnis der Systemtheorie, so könnte man mit Paß sagen, ist, dass sie das Kunstwerk bereits als etwas Wahrgenommenes voraussetzt und dabei »[...] die Wahrnehmung eines Kunstwerks, die bis hierhin noch nicht kommuniziert ist« (S. 432) außer Acht lässt.

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Diese Wahrnehmung zu beschreiben erfordere deshalb, den Kommunikationsbegriff durch den der Kunst zu ersetzen. Das Verhältnis beider Begriffe, die strukturelle Kopplung, wird von Paß weitergeführt. Um sie zu beschreiben, macht Paß sich den Begriff des Designs zunutze. Als struktureller Mechanismus sei das Design die wahrnehmende Bedingung und wird als die verbindende Komponente zu Bewusstsein und Kunst wirksam. Seine Leistung besteht darin, das Kunstwerk nicht nur als kommunikatives Artefakt, sondern auch dessen ästhetische Wahrnehmung zu beschreiben, nicht jedoch, wann was wie als ästhetisch wahrgenommen wird. Ästhetisches Erleben werde erst möglich, wenn es der Kunst mittels Faszination, Bindung, Orientierung gelungen sei, das Bewusstsein in seiner kompakten Realität zu irritieren und diesem gleichzeitig die Kontingenz seiner Wahrnehmung vorzuführen. Der Zustand des Bewusstseins, eine »Orthoästhesie des Immergleichen« (S.465), wird durchbrochen und in eine heteroästhetische Erfahrung überführt.

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Metempsychosis

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Die Frage ist also, wie die Kunst eine Faszination des Bewusstseins erreicht. Unter normalisierten Bedingungen ist die Wahrnehmung des Bewusstseins ordnungsgemäß und in sich stimmig. Die Kunst muss deshalb in der Lage sein, Unstimmigkeiten zu evozieren, indem sie provoziert. Paß zufolge geschehe dies im Vollzug der Rezeption und trete insbesondere in dem (ästhetischen) Phänomen der metempsychosis auf.

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Nicht das Kunstwerk als Kommunikation (Reflexion über Kunst), sondern die Rezeption des Kunstwerks, mit der das Kommunikative einhergeht, mache das ästhetische Erleben möglich. Allein die Reflexion der Kunst könne das Bewusstsein nicht faszinieren; sie kommt gegenüber der Rezeption immer schon zu spät. Doch komme die Rezeption ebenso wenig ohne die Reflexion aus: Wenn das (kunsthistorische) Wissen um ein Kunstwerk nicht mitvollzogen werde, lässt es sich nicht aus sich selbst heraus verstehen. Bei gegenseitiger Vermittlung jedoch »[...] ist die Verzögerung und Reflexivierung Bedingung der Möglichkeit ihrer unmittelbaren Erfahrung (Ästhetik)« (S. 372). Auf diese Weise vermag Paß, das geschlossene Kunstwerk mit eigener Autonomie zu modellieren, das über die Vernetzung und Akkumulation der eigenen Formen Komplexität aufbaut. Damit nun Kunst als ästhetisches Phänomen gelingt, müsse die Welt des Kunstwerks an die »Stelle« der Fremdreferenz des Bewusstseins treten. Zur Welt des Bewusstseins werdend, würde das Bewusstsein vom Kunstwerk im Moment seiner aktuellen Rezeption absorbiert und gleichzeitig seiner operativen Form (von Selbstreferenz und Fremdreferenz) entzogen. Rezeption bedeutete in diesem Fall Entdifferenzierung.

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Ästhetisches Erleben von Kunst wäre Paß zufolge also ein »[...] metempsychotisches Umformen des Bewußtseins in die Aktualität der so angebotenen Fremdreferenz [...]« (S. 387), die in jedem Moment der Rezeption stattfindet. Und ein Phänomen ist genau dann ästhetisch, wenn es das Kriterium des Entdifferenzierens erfüllt.

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Die Wahrnehmung der Kunst
– ästhetische Intensität

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Am Ende seiner Studie kann Paß zeigen, wie sein Theoriemodell sowohl in der Literatur der Moderne als auch in der Musik sich als literarische beziehungsweise musikalische Ästhetik wiederfinden lässt und zur Anwendung kommt.

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Das wesentliche Merkmal moderner Literatur, das sowohl in der Literaturtheorie als auch in der literarischen Moderne beschrieben wird, sei die Wahrnehmung unmittelbar durch das Bewusstsein und die Aufhebung der Subjektivität und des Ichs. Demzufolge wird der Text im Akt der Rezeption für das Bewusstsein zu einem phänomenalen Geschehen und im Sinne der Theorie zur metempsychotischen Erfahrung. Diese ist allerdings von extremer Art. Für die moderne Literatur, so könnte man sagen, gilt: Das Bewusstsein ist Geschehen und Geschehen ist Bewusstsein. Damit ist das Bewusstsein »[...] vom Zwang zur Selbstreferenz zeitweise entlastet [...]«, doch sind die heteroästhetischen Erfahrungen dabei von so radikaler Art, dass es »[...] zu den sich ereignenden Wahrnehmungen (Metamorphose) [wird]« (S. 398). Im Sinne Paß’ beschreibt metempsychosis nicht länger ein Umformen, sondern nunmehr eine Metamorphose, die, indem sie die Identität des Bewusstseins in Richtung Auflösung treibt, gleichsam die Intensität der Wahrnehmung, des ästhetischen Erlebens, markiert.

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Für Paß stellen die phonetische Poesie und die elektronische Musik Kunstformen dar, die zu einer möglichen Provokation heteroästhetischer Phänomene fähig sind. Das entscheidende Charakteristikum beider ist die Form der Wiederholung. Damit sind beide in ihrer jeweiligen Struktur so angelegt, dass der Zugang zum Bewusstsein über die Repetition stattfinden kann. Die Wiederholung als solche scheint in ihrer Rezeption durch das Bewusstsein für dieses zunächst unbedeutend, ist es doch das existenzgarantierende Merkmal des Bewusstseins als System. Repetition als ästhetisches Phänomen, sprich als metempsychosis, funktioniere nach Paß aus genau diesem Grund, jedoch in entgegengesetzter Richtung: Nicht die Fremdreferenz, sondern die Selbstreferenz des Bewusstseins werde hier eingezogen. Das heißt: »Das rekursive Aufblenden von ›Selbigkeiten‹ als Fremdreferenzen hat für das System so aufmerksamkeitsabsorbierenden Charakter, daß die Operativität im Sinne der Bireferentialität ins ›Stocken‹ gerät.« (S. 419)

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Erhofft sich der Leser abschließend eine praktische Anwendung am Beispiel des Monolog der Terry Joe von Max Bense, muss er jedoch feststellen, dass dieser Text und der Verweis auf Kleists Über die allmählige Verfertigung der Gedanken beim Reden Paß als Negativbeispiele dienen, um zu zeigen, was phonetische Poesie aus der Perspektive der Wahrnehmung ihrer Kunstwerke nicht ist. Sie dienen vielmehr als Beispiele für die ›künstlerische‹ Umsetzung eines Themas zur Verdeutlichung von Bewusstseinsprozessen in der Literatur, die sich für Paß’ Begriffe noch nicht genug von der Sprache gelöst haben, zumindest aber als erste Versuche angesehen werden können. 11

[44] 

Paß wählt den Weg über die Beschreibung phonetischer Poesie, grenzt ihren Begriff gegenüber dem der phonologischen Poesie ab, »[...] welche die Bedeutungsaspekte der literarischen Elemente noch wesentlich berücksichtigte [...].« (S. 428) Für eine phonetische Poesie müsse gelten,

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[...] sich [...] weder an den Realitätskonstruktionen der Umwelt der Kunst [zu orientieren], noch an den Restriktionen und Bahnungen der ›Semantik‹ im konventionellen Sinne, um ihre Kunstwerke hervorzubringen. Es geht nicht darum, die ›Klarheit der Bedeutung zu befriedigen‹, sondern vielmehr darum, ›sie zu verschleifen‹. Phonetische Poesie ist der explizite Widerstand gegen jene ›Sucht der Sprachbenutzer nach Bedeutung‹, sie kommen nicht umhin, die ›Materialität‹ der Sprache als ihre akustische, ihre lautliche und das heißt: phonetische Textur zu registrieren. 12
[46] 

Gleiches gilt für die elektronische Musik und ihre Form der »Clicks & Cuts« (S. 444), die auf ihre Weise ein ähnliches phänomenales Geschehen evozieren kann, zum Teil noch eingehender als die Sprache.

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Fazit

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Diese Arbeit ist ein »Herkulesprojekt«, wie es nur wenige ihrer Art gibt.

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Paß legt mit seiner Arbeit eine kritisch reflektierte und analytisch scharfsinnige Studie vor, die nicht nur ihren eigenen Ansatz zelebriert, sondern zudem die eigenen Anschlussmöglichkeiten diskutiert und konkrete Anwendungsbeispiele mitliefert. Dennoch sollte nicht unerwähnt bleiben, dass Paß für eine derart komplexe Thematik wie dieser den Aufbau und Verlauf seiner Argumentation zum Teil nicht hinreichend transparent macht. Wünschenswert wäre gewesen, den bisherigen Erkenntnisstand an einigen Stellen weit gründlicher zu reformulieren als geschehen. Dieses wäre leicht über Kapiteleinführungen und -anschlüsse zu bewerkstelligen gewesen, bleibt jedoch auf einige wenige bilanzierende Fazits beschränkt.

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Dies ändert jedoch nichts daran, dass die in dieser Studie erzielten Ergebnisse von hohem Erkenntniswert sind und in der nachfolgenden Theoriearbeit weitere, je kunst-spezifische Profilierung finden sollten.

 
 

Anmerkungen

Niklas Luhmann: Individuum, Individualität, Individualismus. In: N.L.: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft. Band 3. 2. Aufl. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1998. S. 149–259, hier S. 155.   zurück
Für Paß hat dieser Prozess sowohl konstruktiven als auch dekonstruktiven Charakter, wodurch er eine diskursive Begrenzung auf die Systemtheorie zu vermeiden versucht und eine Brücke zur Dekonstruktion zu schlagen versucht.   zurück
Peter Fuchs: Die Metapher des Systems. Studien zur allgemein leitenden Frage, wie sich der Tänzer von Tanz unterscheiden lasse.Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2001. S. 92, Anmerkung 332.   zurück
Da im Bereich des Akustischen nicht mehr auf das Medium der Schrift zugegriffen werden kann, ist dem Buch eine CD beigelegt.   zurück
An dieser Stelle sei lediglich angemerkt, dass eine solche Vorgehensweise immer die Gefahr in sich trägt, die Beispiele so auszuwählen, dass sie den Theorievorlagen entsprechen. Vgl. S. 137 f.   zurück
George Spencer Brown: Laws of Form. Gesetze der Form. Lübeck: Bohmeier 1997.   zurück
Vgl. dazu auch den psychologischen Exkurs: Zur differentiellen Realität des psychologischen Systems, S. 202–209.   zurück
Jacques Derrida: Die Struktur, das Zeichen und das Spiel im Diskurs der Wissenschaften vom Menschen. In: J.D.: Die Schrift und die Differenz. 7. Aufl. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1997. S. 422–442, hier S. 424.   zurück
Diese sucht Paß an einer Kleistlektüre nachvollziehbar zu machen. Vgl. dazu das einschlägige Kapitel 4.7.3 »Die operative Verfertigung des Bewußtseins am Medium (eine Kleistlektüre)«, S.275–277.   zurück
10 
Das Kunstwerk bleibt dabei etwas Wahrgenommenes.   zurück
11 
S. 427 f. Für Paß nutze Bense die Möglichkeiten textlicher Dekonstruktion nicht weit genug aus; er arbeite weiter auf der Ebene der Wörter und also weder lettristisch, geschweige denn ultralettristisch.   zurück
12 
S. 430. Diesen Anspruch sieht Paß in der phonetischen Poesie der Wiener Gruppe verwirklicht, was er am Sinngedicht Gerhard Rühms nachzeichnet und bei Jaap Blonks Adaption des Gedichts brüllt als besonders markant feststellt.   zurück