IASLonline

Sappho und Philomela

Weibliche Lyrik im England des 18. Jahrhunderts

  • Paula R. Backscheider: Eighteenth Century Women Poets and Their Poetry. Inventing Agency, Inventing Genre. Baltimore: The Johns Hopkins University Press 2005. 514 S. Paperback. USD 35,00.
    ISBN: 978-0-8018-8746-8.
[1] 

Während die Genre konstituierenden Einflüsse von Autorinnen auf den englischen Roman des 18. Jahrhunderts in den letzten Jahren – nicht nur innerhalb der feministischen Forschung – erhebliche Resonanz gefunden haben, ist die weibliche Lyrik des so genannten ›long eighteenth century‹ noch größtenteils unerforscht. Diesen Zustand kritisiert Paula R. Backscheider, die Philpott-Stevens EminentScholar an der Auburn University ist, nicht nur äußerst überzeugend, sondern sie schlägt mit ihrer ambitionierten Studie Eighteenth-Century Women Poets and Their Poetry einen ersten Schritt zu einer Re-Modellierung der poetischen Landschaft des 18. Jahrhunderts vor.

[2] 

Hehre Ziele

[3] 

Backscheider schwebt nichts Geringeres vor als eine Neuevaluierung der weiblichen Lyrik des 18. Jahrhunderts. Dass dies sehr hoch gegriffen ist, wird klar, wenn man das programmatische Kapitel »Plan of the Book« liest, das sich sehr detailliert und transparent mit Zielsetzung, Methodologie und dem unzulänglichen Forschungsstand auseinandersetzt.

[4] 

Obwohl Backscheider auf eine systematische, literaturhistorische Einführung abzielt, möchte sie zu einer komplexeren und subtileren Literaturgeschichte (vgl. S. 317) beitragen, die sich abseits des traditionellen, nach Geschlecht hierarchisierten Narrativs manifestiert. An verschiedenen Stellen bemängelt sie, dass der modernen Literaturkritik bislang jedoch das Instrumentarium fehle, um die Lyrik der Frauen angemessen kritisieren und klassifizieren zu können. Daher soll ihr Buch auch einen Beitrag zur kritischen Revision der Gedichte von Frauen leisten und dazu dienen, neue Interpretationsmodelle zu schaffen. (S. xvii)

[5] 

Aus Hunderten von Autorinnen wählt Backscheider für ihr Projekt etwa vierzig aus, deren Texte sie einer genaueren Analyse unterzieht. Bewusst werden dabei Autorinnen vernachlässigt, die von der Forschung bereits wahrgenommen wurden. Stattdessen liegt der Fokus auf bislang eher unbekannten Frauen, deren Gedichte bis dato größtenteils unzugänglich und (auch) deshalb unbeachtet geblieben sind. 1 Die unausweichliche Selektion der Dichterinnen und Backscheiders Ausführungen thematisieren mehrere Problemfelder, mit denen sich die feministische Forschung in der
(Rück-)Gewinnung und Revision frühneuzeitlicher Texte von Frauen konfrontiert sieht: die Zugänglichkeit der Texte sowie geschlechtlich kodierte Kanonisierungsprozesse, Trivialisierungstendenzen von weiblichen Texten und ›gender balkanization‹ 2 , also die einseitige Kontextualisierung frühneuzeitlicher Texte von Frauen, sind dabei nur die Spitze des Eisbergs.

[6] 

Aufbau und Struktur des Buches

[7] 

Das Einführungskapitel bietet eine sehr detaillierte Kontextualisierung, die sowohl die kulturhistorischen Hintergründe als auch die inneren Prozesse der Lyrik von Frauen und ihre literarischen »Traditionen« im 18. Jahrhundert reflektiert. Darüber hinaus führt Backscheider in die Praktiken des aufstrebenden zeitgenössischen Buchhandels und das weibliche Leseverhalten im England des 18. Jahrhunderts ein.

[8] 

Die Hauptkapitel des Buches sind lediglich grob chronologisch konzipiert. Angefangen mit Anne Finch und den für sie »typischen« Formen und Themen (z.B. metrische Fabeln, pastorale und metapoetische Gedichte) in Kapitel zwei, konzentriert sich Backscheider in Kapitel drei auf die Partizipation von Frauen, wie Lady Mary Wortley Montagu, in öffentliche Diskussionen. Das vierte Kapitel beschäftigt sich mit religiöser Dichtung hauptsächlich von Elizabeth Singer Rowe (z.B. Hymnen und Oden), in Kapitel fünf steht das Freundschaftsgedicht im Mittelpunkt – beides, religiöse wie Freundschaftsdichtung, sind Subgenres, die von Zeitgenossen als weibliche Gattungen rezipiert wurden. In Kapitel sechs setzt sich Backscheider ausführlich mit weiblichen Rückzugstexten auseinander; die letzten beiden Kapitel konzentrieren sich wieder auf poetische Formen: die Elegie und, vor allem im Zusammenhang mit Charlotte Smith, das Sonett.

[9] 

Grundsätzlich sind die einzelnen Abschnitte sehr weit gefasst und leider häufig redundant in ihren Aussagen zu Forschungsstand und -aufgaben – einige Passagen gleichen sich wortwörtlich. Die zahlreichen Textbeispiele machen Backscheiders Buch jedoch eigentlich aus, da sie häufig Gedichte auswählt, die nur selten oder gar nicht anthologisiert oder anderweitig veröffentlicht werden. Leider sind die dazugehörigen, zum Teil zu abstrakten Analysen und Interpretationsansätze nicht immer ad hoc nachvollziehbar, was Backscheiders Argumentation stellenweise abschwächt.

[10] 

Schlüsselbegriffe

[11] 

Wie der Untertitel Inventing Agency, Inventing Genre bereits impliziert, rekurriert Backscheiders Buch auf zwei zentrale Konzepte. Der Begriff ›agency‹ wird als »ability and will to act purposefully, independently, and self-consciously« (S. 22) definiert. Zum Konzept der ›agency‹ gehört auch die selbstbewusste Darstellung der eigenen Identität als Dichterin, die sich, laut Backscheider, unter anderem in der Entwicklung distinktiver Stimmen, ›signature poems‹ und eigenen Schreibstrategien manifestiert. (S. 16–27) Zwar kann ›agency‹ bestimmte Fragen im Bereich der historischen Genderforschung neu beleuchten, es bleibt jedoch unklar, inwieweit sie als Instrument der Literaturanalyse brauchbar ist. Somit ist eine Fragestellung Backscheiders, nämlich die nach der eigentlichen literarischen Qualität der Texte, weiterhin unbeantwortet. ›Agency‹ wird von Backscheider als eine Art Kontinuum konstruiert, das den nur lose chronologisch angeordneten Kapiteln eine innere Struktur verleiht. Durch diese innere Linearität, vielleicht sogar implizierte Teleologie, wird eine stetig wachsende, selbst definierte und bewusste Dichteridentität vom ersten Kapitel über Anne Finch bis hin zum letzten über Charlotte Smith suggeriert.

[12] 

Das zweite Schlüsselkonzept fokussiert den literaturwissenschaftlich problematischen Begriff ›Genre‹ 3 , den Backscheider eigentümlich unerklärt lässt und auf verschiedene, leider manchmal unklare Weisen nutzt. Einerseits dient ›Genre‹ – ähnlich wie ›agency‹ – als grundlegendes Ordnungselement des Buches, denn die einzelnen Kapitel gruppieren sich um (zumeist männlich dominierte) poetische Formen (Ode, Elegie, Sonett), welche die Frauen, so Backscheider, nicht nur adaptieren, sondern auch maßgeblich weiter entwickeln oder letztlich geschaffen haben. Andererseits bezeichnet ›Genre‹ für Backscheider auch thematische Gemeinsamkeiten und Verwandtschaften von Texten. Tatsächlich trennen nur poröse Kapitelgrenzen diese inhaltlichen Strukturen voneinander, und religiöse Gedichte, Freundschaftsgedichte und ›retirement poems‹ laufen ineinander über, sodass mögliche Grenzen des Gattungsbegriffes weiterhin an Schärfe und Klarheit verlieren. Auf diese Art werden Genre, Versform und Thematik bei Backscheider fast zu Synonymen, und diese terminologische Verquickung macht es stellenweise schwierig, ihrer bereits im Titel propagierten Idee von ›inventing Genre‹ zu folgen. (vgl. S. xxii und xxv f.)

[13] 

Sappho und Philomela

[14] 

Kapitel drei bis einschließlich sieben stellen einzelne poetische Formen und (Sub)Genres ins Zentrum. In Abgrenzung davon konzentrieren sich Kapitel zwei und acht, die sich in ihrem Aufbau spiegeln, auf zwei gut erforschte Autorinnen Anne Finch und Charlotte Smith. Die beiden markieren nicht nur Beginn und Ende des 18. Jahrhunderts, sondern bilden auch die Eckpunkte des teleologischen Kontinuums ›agency‹.

[15] 

Mit dem Terminus ›agency‹ verbindet Paula Backscheider unterschwellig auch die antiken Frauenbilder von Sappho und Philomela, die sie im Verlauf der Kapitel sowohl als Symbol als auch als direkte Textzitate wiederholt aufruft, um sie als Symptom der zunehmend selbst-bewussten Identitätskonstruktion der Dichterinnen zu lesen. Sappho wird dabei bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts als dichterisches Ideal stilisiert, wie Backscheider an Mary Leapors Hymn to Morning (1748) exemplarisch zeigt:

[16] 

Thus from Mira to her Lyre, Till the idle Numbers tire:
Ah! Sappho sweeter sings, I cry,
And the spiteful Rocks reply,
(Responsive to the jarring Strings)
Sweeter – Sappho sweeter sings. (S. 26)

[17] 

Während Sappho (vorerst) als unerreichbar gilt, wird der Topos der ovidschen Philomela – auch in ihrer Gestalt als Nachtigall – zunehmend von den Dichterinnen aufgegriffen und die eigene poetische Identität maßgeblich durch das Bild des stillen Widerstandes geprägt: »In their hands the nightingale became a powerful symbol for freedom and musicality and, of course, of the woman who cannot be silenced.« (S. 108) So wird ein Sobriquet zum Statement, wie im Falle von Elizabeth Singer Rowe, die als Dichterin auch als ›Philomela‹ bekannt war. Rowes religiöse und oft als ›fromm‹ kategorisierten Texte in diesem Licht neu zu lesen, bleibt zukünftigen Studien vorbehalten.

[18] 

Im ausgehenden 18. Jahrhundert gewinnt Sappho in zweifacher Hinsicht wieder mehr an Aufmerksamkeit. Auf der einen Seite wird sie zunehmend als Emblem transgressiver Sexualität verstanden. 4 Auf der anderen Seite verliert sie ihre von Leapor besungene Unerreichbarkeit, was die Stilisierung von Dichterinnen – wie beispielsweise Mary Robinson – als »English Sappho« möglich macht. (S. 341)

[19] 

Religion – Freundschaft – Rückzug

[20] 

Neben den Ausführungen zu weiblichen Adaptionen und den Einflüssen traditioneller, überwiegend männlich konnotierter Versformen, sind vor allem jene Kapitel interessant und aussagekräftig, die sich ausschließlich den ›weiblichen‹ Genres (religiöse Dichtung, Freundschaftsgedichte, ›retirement poetry‹) widmen. Für Backscheiders Argument der aktiven und innovativen Partizipation von Dichterinnen an der Entwicklung neuer Versformen sind sie immens wichtig, denn sie sollen ›Genre‹ neben ›agency‹ als zweiten Schlüsselbegriff plausibel machen, was auch zum überwiegenden Teil gelingt.

[21] 

Den Auftakt bildet das sehr klar abgegrenzte Kapitel zur religiösen Dichtung von Frauen. Darin werden verschiedene Formen (Hymnen, Paraphrasierungen von Bibeltexten) in Texten der relativ unbekannten Dichterinnen Elizabeth Tollet und Mary Barber intensiv untersucht. Hauptsächlich konzentriert sich dieses Kapitel allerdings auf die für ihre zahlreichen religiösen Hymnen und Elegien bekannte nonkonformistische Dichterin Elizabeth Singer Rowe. Noch wichtiger als die Partizipation von Frauen an männliche dominierten Formen ist für Backscheider jedoch, dass Rowe, eine ganz eigenständige religiöse Gattung einführt, die in verschiedenen lyrischen Formen auftritt und die Backscheider mit dem Begriff ›devout soliloquy‹ bezeichnet. Darunter versteht sie eine Form des dramatisierten Gebets und Selbstgesprächs, das zwar an Gott gerichtet ist, gleichzeitig jedoch auf den Ausdruck persönlicher Gedanken und Gefühle abzielt und Einsamkeit als grundlegende Erfahrung menschlichen Daseins verkörpert. (S. 169 f.)

[22] 

Das nächste Kapitel fokussiert das Freundschaftsgedicht, das die Dichterinnen des 18. Jahrhunderts als Erbe des vorherigen Jahrhunderts, vor allem von Katherine Philips, rezipieren und als weibliche Tradition fortschreiben. Backscheider liest diese Freundschaftsgedichte unter Frauen als genuin weibliches Genre, in dem sich die Dichterinnen ausprobieren und Kritik üben können, und implantiert diese frühen Texte in Simone de Beauvoirs Konstrukt der weiblichen ›Gegenwelt‹. Dies führt zu einer Entwicklung des Gedichts vom literarischen Artefakt zum Zeitdokument weiblicher Subjektivität und ›agency‹:

[23] 
It [i.e. the women’s counteruniverse, S.B.] sifts the friendship poem as a source of new evidence about early modern women’s lives and opinions, something feminists continue to seek, and argues their significance in empowering women and encouraging them to write and publish. (S. 176)
[24] 

In Kapitel sechs konstruiert Backscheider den nahtlosen Übergang des Freundschaftsgedichts in Texte des persönlichen Rückzugs aus sozialen und gesellschaftlichen Verbindlichkeiten, aus Politik und dem urbanen Lebensraum. Wie in den Kapiteln zuvor liest Backscheider auch ›retirement poems‹ auf dem darin zum Ausdruck kommenden Verlangen nach Subjektivität und autonomer dichterischer Identität. (S. 240) Da dies lediglich eine allgemeine Interpretation von Rückzugsgedichten ist und gleichermaßen auf Texte männlicher oder weiblicher Autorschaft zutrifft, konstruiert Backscheider einen Kontrast zwischen männlichen und weiblichen ›retreat poems‹:

[25] 
The greatest contrasts between men’s and women’s retreat poems are that women’s are neither solitary, melancholy, nor especially steeped in sensibility. (S. 241)
[26] 

Diese Aussage wirkt nicht besonders überzeugend, da sie auf Textbeispiele von Anne Finch und Elizabeth Carter zurückgreift, die oftmals – und zu Recht – unter dem Aspekt der Melancholie rezipiert werden. Backscheiders Ausführungen zur Melancholie sind allerdings durchweg inkohärent, wie weiter unten noch ausführlicher beschrieben.

[27] 

Die Kapitel über Religions- und Freundschaftsgedichte sowie ›retirement poetry‹ bilden den Kern des Buches und illustrieren Backscheiders Inventing Agency, Inventing Genre-These an zahlreichen Beispielen und Textanalysen. Hier wird gezeigt, dass die Lyrik der Dichterinnen des 18. Jahrhunderts ein Ort des Experimentierens und Wachsens, kurz: der Konstruktion einer dichterischen Identität werden kann. Für diese Frauen wird sie zu einer Form des ›life-writing‹ (S. 101), aber auch zu einer Chance, sich an öffentlichen Diskursen und Debatten – zum Beispiel über die Natur der Frau oder über Religion, Freundschaft und Rückzug in die Natur und Subjektivität – aktiv zu beteiligen.

[28] 

Melancholie

[29] 

Wie so oft nimmt die Melancholie auch hier einen gesonderten Platz ein. Wiederholt taucht dieses kulturelle Phänomen, das für die englische Lyrik des 18. Jahrhunderts allgemein eine sehr wichtige Rolle spielt, bei Backscheider auf. Sie betrachtet dieses höchst genderspezifische Thema allerdings nicht differenziert genug. Dies hat zur Folge, dass ihre thetischen Aussagen über weibliche Lyrik und Melancholie, wie z. B. »[n]or do women court melancholy, as it is generally agreed many male poets of the time do«, in dieser Form nicht haltbar sind. (S. 248) Obwohl sie durch ihre Interpretation von Finchs Gedicht The Spleen bereits den Weg für Melancholie als gegendertes Phänomen ebnet, fokussiert sie im Verlauf des Buches einzig auf den Nexus von Melancholie und künstlerischer Kreativität und schließt somit andere Möglichkeiten des melancholischen Schreibens als die in Thomas Grays Elegy Written in a Country Churchyard für Frauen nahezu kategorisch aus.

[30] 

Dieser Ansatz, der in Kapitel sechs in Zusammenhang mit den Rückzugsgedichten schon beträchtlich schwankt, bricht in Kapitel acht schließlich zusammen, wenn Backscheider die Gedichte Charlotte Smiths analysiert, die deutlich auf die männlich-melancholische Tradition der ›Graveyard Poets‹ zurückgreifen und gleichzeitig Ansätze des romantischen Melancholie- und Geniekonzepts aufzeigen. Differenzierter betrachtet, könnte das Melancholie-Argument Backscheiders Forderung, Smith als ›transitional poet‹ des 18. Jahrhunderts zu rezipieren, weiter stützen, doch ist es ihrem rigorosen Ansatz geschuldet, dass sie diese Möglichkeit vorüberziehen lässt.

[31] 

Plädoyer und blinde Flecken

[32] 

Nur marginal die vorausgehenden Kapitel – jedoch alle ursprünglichen Fragen – wieder aufgreifend, liest sich Backscheiders ausgezeichnetes Schlusskapitel als Appell an die Wissenschaft: sie soll sich zum einen ihrer blinden Flecke bei der kritischen Rezeption weiblicher Lyrik des 18. Jahrhunderts bewusst werden; zum anderen muss statt den beinahe bereits stereotyp diskutierten kulturellen Hindernissen der Autorinnen endlich die Analyse ihrer Texte in den Mittelpunkt rücken. Eindringlich stellt Backscheider umfassende Forderungen an die Forschung:

[33] 
we need to [...] survey the landscape carefully, open-mindedly, and in detail. We need to recognize and compensate for the barriers, and we need to assess the value of the poems we are rediscovering in new and even radical ways. [...W]e need to do no less than rewrite the history of entire decades and poetic genres in the period, [...], we need to widen the eighteenth-century poetic landscape and revise our reception of women’s contribution to literary history. (S. 386)
[34] 

Überzeugend ist die Kritik am unreflektierten Umgang mit historischen und modernen Anthologien. 5 Durch den Auswahlcharakter von Anthologien wird, so Backscheider, der jeweilige Lesergeschmack und die mögliche Kanonisierung von Texten maßgeblich beeinflusst, vor allem aber beschneidet die verkürzte Wiedergabe längerer Gedichte – oftmals stillschweigend – die literarische und ästhetische Qualität im wahrsten Sinne des Wortes. (S. 393 f.)

[35] 

In ihrem Schlusswort wirft Backscheider mehr Fragen auf, als ihr Buch beantworten kann und möchte. Dies geschieht im vollen Bewusstsein hinsichtlich der Forschungssituation und auf der Basis des dringenden Anliegens, neue Analysekategorien und Instrumentarien zu erarbeiten, die den Gedichten der Autorinnen des 18. Jahrhunderts gerecht werden können.

[36] 

Fazit

[37] 

Trotz aller Kritik ist Paula R. Backscheiders Eighteenth-Century Women Poets and Their Poetry: Inventing Agency, Inventing Genre ein in vielerlei Hinsicht wichtiges Buch. Es muss als Teil eines Projektes verstanden werden, das sich noch in seinen Anfängen befindet und das Backscheider mit dieser Studie ins Leben gerufen hat.

[38] 

Backscheiders Bemühungen und Textforschungen, bisher schwer zugängliche Gedichte zu veröffentlichen und der Literaturkritik freizugeben, sind dabei vor allem hervorzuheben. Dabei sind ihre Interpretationen den Texten und den Dichterinnen gegenüber teilweise jedoch zu unkritisch, so dass sich immer wieder die Frage nach der literarischen Qualität der Texte stellt.

[39] 

An zahlreichen Stellen gibt die Autorin deutlich zu verstehen, wie groß ihrer Meinung nach der Handlungs- und Forschungsbedarf die englische weibliche Lyrik des 18. Jahrhunderts betreffend ist, und regt eine Vielzahl neuer Studien auf diesem Gebiet an. Sie mag nicht allen ihren hehren Zielen gleichermaßen gerecht geworden sein, dennoch gewinnen wir durch dieses Buch die Möglichkeit, lang unzugängliche, ›verlorene‹ Texte und ihre Dichterinnen neu zu entdecken und vielleicht tatsächlich eine detailreiche, neu modellierte poetische Landschaft des 18. Jahrhunderts inklusive ›Sappho‹ und ›Philomela‹ zu entwerfen.

 
 

Anmerkungen

Die Zugänglichkeit weiblicher Gedichte des 18. Jahrhunderts stellt eine besondere Forschungshürde dar, die Backscheider auch durch die Veröffentlichung von Texten auf ihrer Homepage zu nehmen versucht, siehe URL: http://www.auburn.edu/~pkrb/ (Zugriff 26.5.2008).    zurück
Den Begriff der ›gender balkanization‹ und die daraus resultierenden Folgen umreißt Barbara K. Lewalski wie folgt: »For the studies of women’s writing, the unfortunate balkanization of our intellectual landscapes creates large problems. Several scholars are now attending to Renaissance women’s text, publishing essays and collections of essays about particular authors and issues as well as anthologies and surveys of women’s writing. [...] But this work has not received much attention from traditional scholars of Renaissance literature, or from newer scholars of early modern ideology and culture in their analyses of class, race, gender, and power relations. As a consequence, the newly important women’s texts are often too narrowly contextualized – studied chiefly in relation to other women’s texts, or to modern feminist theory, or to some aspect of the period’s patriachal ideology.« In: Writing Women in Jacobean England. Cambridge, MA: Harvard University Press 1993, S. 1.   zurück
Zur Geschichte und Problematik des Begriffes ›Genre‹, siehe beispielsweise Klaus Müller-Dyes: Gattungsfragen. In: Heinz Ludwig Arnold / Heinrich Detering (Hg.): Grundzüge der Literaturwissenschaft. München: DTV 1996, S. 323–348.   zurück
So zum Beispiel im Kontext der ›Ladies of Llangollen‹ – gemeint ist Anna Sewards lesbisches Freundespaar Lady Eleanor Butler und Sarah Ponsonby, die von der Autorin Hester Lynch Thrale (Piozzi) boshaft als »damned Sapphists« bezeichnet werden. (S. 310)   zurück
Z.B. George Colman / Bonnell Thornton (Hg): Poems by eminent ladies. Particularly, Mrs. Barber, Mrs. Behn, Miss Carter, Lady Chudleigh,... 2 Vols. London: printed for R. Baldwin 1755. Oder: Roger Lonsdale (Hg.): Eighteenth-Century Women Poets. An Oxford Anthology. Oxford, New York: Oxford University Press 1989.   zurück