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Schriftprobe

  • Peter Hughes / Thomas Fries / Tan Wälchli (Hg.): Schreibprozesse. (Zur Genealogie des Schreibens 7) Paderborn: Wilhelm Fink 2008. 325 S. 49 Abb. Kartoniert. EUR (D) 38,00.
    ISBN: 978-3-7705-4470-7.
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Textgenese und Poetologie

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Glaubt man der Ankündigung des Verlags, dann verdankt sich der jüngst erschienene Band einem neu erwachten, spezifisch poetologischen Interesse am Prozeß des Schreibens. Das ist werbewirksam übertrieben. Spätestens seit Mitte des 20. Jahrhunderts hat die Literaturwissenschaft die prinzipielle Bedeutung der Textgenese für die Texttheorie erkannt und – insbesondere im Zusammenhang großer Editionsprojekte (Hölderlin, Kleist, Mallarmé, Proust, Kafka, Joyce, Celan) – eine ganze Reihe von Einzeluntersuchungen zum Thema vorgelegt. Allerdings gab und gibt es in der Tat ein gewisses Vermittlungsdefizit zwischen editionsphilologisch-praktischen und philosophisch-hermeneutischen Fragestellungen. Darauf hat etwa der 1994 erschienene, von Axel Gellhaus und anderen (darunter dem Rezensenten) herausgegebene Band Die Genese literarischer Texte. Modelle und Analysen reagiert und versucht, den Werkentstehungsprozeß als solchen stärker ins Blickfeld zu rücken und in eine literaturtheoretische Grundlagenreflexion einzubinden.

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In den vergangenen anderthalb Jahrzehnten ist das Problembewußtsein hier deutlich gewachsen, ohne daß man sagen könnte, die ›Textgenetik‹ habe mittlerweile ihren festen Platz im methodischen Repertoire der Textwissenschaften gefunden – zumal der Mainstream einer zunehmend interdisziplinär, intermedial, interkulturell oder sonstwie interaktiv ausgerichteten Literaturforschung über so unbequeme und detaillastige Fragen wie die nach der Entstehungsgeschichte eines Werkes ziemlich ungerührt hinweggeht. Insofern ist es durchaus zu begrüßen, wenn die Herausgeber und Autoren dieses jüngsten Bandes der Reihe Zur Genealogie des Schreibens – ganz überwiegend Angehörige der Universität Zürich – das Thema wieder aufgreifen und ein wissenschaftliches Symposion dazu ausrichten, dessen Ergebnisse nun, mit vierjähriger Verspätung, vorgelegt werden. Auch wenn es weder neu noch spektakulär ist, bleibt es fundamental und als Reflexionshorizont für jede Arbeit am Text eigentlich unverzichtbar.

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Es geht also um den genauen Nachvollzug des Schreibprozesses von der Konzeption bis zur Drucklegung, der aber im wesentlichen als Freilegung der dem Text selbst »eingeschriebenen Textgenese« (S. 7) verstanden wird. Dabei ist ein zureichender Begriff des Schreibens so weit zu fassen, daß auch das Verwerfen und Verwerten, das Korrigieren und Kompilieren, das Ab‑ und Umschreiben und selbst noch das Nicht-Schreiben Teil dieses Prozesses ist.

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An folgenden Fallbeispielen wird das – in chronologischer Reihenfolge – demonstriert: Shakespeare und Coleridge, zweimal Keller, dreimal Nietzsche, sodann Proust und Joyce, zweimal Wittgenstein und zum Abschluß Dürrenmatt, Georges Perros und Hermann Burger. Das sind im Rahmen der Fragestellung allesamt einschlägig bekannte Namen, und es wäre unbillig, aufzuzählen, wer von den potentiellen Kandidaten alles nicht berücksichtigt ist. Gleichwohl darf man bedauern, daß unter mehreren, aus technischen oder andern Gründen nicht abgedruckten Vorträgen ausgerechnet der zu Hölderlin (von Klaus Weimar) und zu Robert Walser (von Wolfram Groddeck) sind.

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Shakespeares Hamlet?

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Den Reigen eröffnet Regula Bisang mit einer Untersuchung zu Shakespeare: »To Show or Not to Show. Stage Directions, Textual History and the Play Scene in Shakespeare’s Hamlet«. Der Aufsatz fragt allerdings weniger nach der Prozessualität des Schreibens als nach der Rekonstruierbarkeit eines historischen ›Originals‹. Am prominenten Fall der Spiel-im-Spiel-Szene aus Hamlet, in drei Druckfassungen überliefert, wird einmal mehr die Frage nach dem genuin Shakespeareschen aufgeworfen, das sich hinter den sogenannten »foul papers« und dem »promptbook«, dem Textbuch der Theatertruppe, mehr versteckt als preisgibt. Das Ergebnis ist ernüchternd: Die zeitgenössischen Gepflogenheiten der Drucklegung lassen ebenso wie die Aufführungspraxis alle Spurensuchen nach dem authentischen Text zwangsläufig scheitern. Die Autorin bezweifelt nicht nur die bisher unternommenen Rekonstruktionsversuche der Textgenese, sie vergleicht die verfügbaren Fassungen geradezu mit Palimpsesten:

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These texts seem to be palimpsests, as it were, containing different layers of composition and revision contributed by different agents and different moments in the history of the texts, layers which are now concealed by the veil of print. It may not be possible any longer to lift this veil of print, to recover the different layers in the palimpsest, to reconstruct the history of the texts, and to reconstruct, ultimately, ›Shakespeare’s Hamlet‹. (S. 31)
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Coleridge’s Unwriting

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Nicht mehr um Fragen der Überlieferung, sondern um das Selbstverständnis des Schriftstellers geht es in der Studie von Peter Hughes: Coleridge’s Unwriting. Damit fällt die Wahl auf einen Autor des Übergangs, einen letzten Universalisten, tief in den europäischen Traditionen verwurzelt, zugleich aber ein entschiedener Wegbereiter der Moderne, der sich gleichsam in die Vergangenheit verlaufen hat. Was er hinterlassen hat, »his huge archive of process-writing«, bestehend aus »notebooks and marginalia, table talk written down by others, and books he never wrote, but rather dictated [...] dozens of books he planned or thought of writing, but which survive only as titles or scatches« (S. 35 f.), wirft zwangsläufig die Frage auf nach dem literarischen Status eines solchen Konglomerats und provoziert den Versuch, das Chaos für kalkuliert zu halten. Schon die vor einem halben Jahrhundert begonnene Tagebuch-Edition von Kathleen Coburn (1957 ff.) widerlegte das bis dahin vorherrschende Bild des Autors als »a fitful genius and frustrated poet, destroyed by metaphysics, procrastination and opium« und stellte ihn statt dessen an den Beginn einer neuen, modernen Tradition, die sich umreißen läßt mit Begriffen wie »self-analytic, performative, deconstructive, therapeutic« (S. 36 f.). Während Coburn die Tagebücher aber noch für rein private Aufzeichnungen hielt, Reflexionen eines Einsamen, macht Hughes die Gegenprobe und interpretiert sie als Coleridges heimliches Vermächtnis, ein Arsenal moderner Bildphantasien, die (posthum) nicht nur gelesen sein wollen, sondern den künftigen Leser geradezu erziehen, konventionelle Lektüreerwartungen zu verabschieden und eine produktive Form des »misreading« zu entwickeln. – Um die Modernität Coleridges zu unterstreichen, scheut Hughes keinen Vergleich: Mit Kafka und Roland Barthes sieht er ihn verbunden durch den Grundimpuls, sich schreibend von den Dingen zu befreien, statt sie erinnernd aufzubewahren; die Konzeption der Notebooks als »cogitabilia«, »collections of thinkable things« (S. 37) weise voraus auf Heideggersche Denkwege; und das Ausufern des Schreibens in ein endloses Geflecht von Aufzeichnungen und Notizen, Gesprächen und Reflexionen sei nicht mehr weit entfernt von Wittgenstein oder Benjamins Passagen-Werk. Dazu gehören für Hughes, als weitere Facette, auch die Annotationen zu Werken anderer Autoren, die Coleridge hinterlassen hat. Mehr als 700 Bände von 400 Autoren sind regelrecht überschrieben, um auf diese besonders intime Weise der Auseinandersetzung »a second text of commentary and on the recycling of the thoughts and works of others« (S. 43) entstehen zu lassen. Auch dies eine Form des »unwriting«, der ganz auf den Prozeß gerichteten literarischen Existenz, bei der, im andauernden rezeptiv-produktiven Diskurs, die Grenzen zwischen Eigenem und Fremdem fließend werden.

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Keller: Bild und Text

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Für das 19. Jahrhundert stehen vor allem die beiden Keller-Studien von Ursula Amrein und Monika Kasper. »Verschriftete Bilder« nennt Ursula Amrein ihren umfangreichen Beitrag über »Gottfried Kellers Bildpoetik im Prozess der Säkularisierung«. Ausgehend von der biographisch-künstlerischen Wende vom Maler zum Dichter beschreibt sie Kellers Entwicklung der 1840er Jahre, bei der die anhaltend starke Affinität zur bildenden Kunst zu einem produktiven, aber auch in sich spannungsvollen Verhältnis der unterschiedlichen Paradigmen führt, und stellt grundsätzlich die Frage nach der »Konzeptualisierung des Ästhetischen am Beginn der Moderne« (S. 51). »Über die sprachliche Inszenierung realer und erfundener Bilder«, schreibt die Verfasserin, »gelangt er zu einer [...] Bestimmung des Kunstwerks, für die die Orientierung an der sinnlichen Wahrnehmung des Auges sowie ihre Verortung im Prozess der Säkularisierung konstitutiv sind« (ebd.). Das Spezifikum bei Keller besteht darin, daß die theoretische Positionierung und die erzählerische Praxis sich kontrovers verhalten dergestalt, daß eine im Grunde noch idealistisch geprägte, auf der Verschränkung von Ideal und Wirklichkeit aufbauende Kunstauffassung und Erkenntnistheorie faktisch »von einer Schreibweise durchkreuzt wird, in der sich die Moderne ankündigt« (S. 57 f.). Was Keller in seinen Bildbeschreibungen als »doppelsinnige Phantasie« bezeichnet, die Bipolarität von Innen und Außen, die die Wirklichkeit im Bild verdichtet und zugleich idealisierend überhöht (vgl. Goethes Begriff des »Stils«), schlägt als Problem auf die Beschreibungssprache durch. Keller

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attestiert dem Kunstwerk einen spezifischen Erkenntniswert, kann diesen aber nur in einer Sprache behaupten, die selbst bildhaft verfährt, indem sie visuelle Bilder [...] in mentale Bilder transformiert [...]. Was die Erfahrung des Eigentlichen, des Authentischen, des Wahren oder der Idee ausmacht, entzieht sich seiner Beschreibung. Die vom Text behauptete ideelle, die äußere Wirklichkeit transzendierende Referentialität der Kunst wird in die Selbstreferentialität zurückgenommen und bildet darin eine Bewegung ab, die bereits Züge jener Moderne trägt, die der Text selbst verwirft. (S. 61 f.)
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Im Verlauf des Jahrzehnts entwickelt Keller dann, bestärkt auch durch die Heidelberger Begegnung mit Feuerbach, eine stärker »objektivierende« Darstellungsweise und Poetik (letztere besonders in den Gotthelf-Rezensionen ausformuliert), die sich zunehmend an der visuellen Wahrnehmung, am »Sinnlichen, Sicht‑ und Greifbaren« (S. 68 f.) ausrichtet, auch wenn der eigentliche Schritt zur Moderne, die konsequente Herauslösung aus der »ideellen Referenz«, noch nicht vollzogen wird. – So ambitioniert der Versuch ist, Kellers kunsttheoretische Programmatik mit seiner eigenen literarischen Verfahrensweise zu konfrontieren, es zeigt sich auch eine gewisse Überfrachtung des »Bild«-Begriffs. So bezeichnet der Ausdruck mal visuell Wahrgenommenes, mal eine bestimmte Vorstellung oder Einbildung, mal den ›realistischen‹, anschauungsgesättigten Erzählduktus, mal die ideelle Überformung. Wo Keller mit den Bedeutungsebenen spielt (insbesondere im Zusammenhang mit der ›Realmetapher‹ des Auges, das nicht nur die Dinge sieht, sondern in ihrem Wesen erkennt), drohen sie hier eher zu verschwimmen. Gerade die Analyse sprachlicher Bildlichkeitsphänomene erfordert eine hohe Trennschärfe der Begriffe – und die Einsicht, daß die Rede vom sprachlichen »Bild« selbst ein Bild ist. In literarischen Zusammenhängen sollte der Begriff möglichst streng als Darstellungskategorie gedacht werden und nicht für alle möglichen Formen innerer oder äußerer Visualität herhalten.

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Auch Monika Kasper beschäftigt sich mit dem signifikanten Übergang »Vom Malen zum Schreiben« und betreibt eine eher mikroskopische Spurensuche in »Gottfried Kellers Berliner Schreibunterlage«. Gemeint ist jener im Nachlaß überlieferte (auch unter dem Namen »Berliner Liebesspiegel« bekannte) großformatige, blaue Bogen aus Kellers letztem Berliner Jahr, der bedeckt ist mit Notizen, Gedankensplittern, Versfragmenten, kalligraphischen Wortgirlanden und kleinen Zeichnungen, die sich gleichermaßen als Dokument einer obsessiven Auseinandersetzung mit den Medien Bild und Schrift wie auch der leidenschaftlichen Liebe zu Betty Tendering lesen lassen, deren Vorname und Initialen immer wieder wie beschwörend niedergeschrieben werden. Im Arrangement der Notate, in der »fast explosiven Dichte der Vorgänge auf der Schreibunterlage« (S. 78) sieht die Verfasserin den biographisch vollzogenen Wechsel des Mediums, genauer: Die Verdrängung des Zeichnens durch das Schreiben, gleichsam en miniature gespiegelt. Sie stellt erneut die Frage nach den »tiefer liegenden Ursachen« für diese Entwicklung und sucht – mit ständigem Seitenblick auf das Schicksal des Grünen Heinrich – den kausalen Zusammenhang zwischen dem Scheitern als Maler und dem Erfolg als Schriftsteller: »Weil und nur weil der Traum vom Malen begraben wird, kann die erzählerische Produktivität zum Durchbruch kommen«. Das läßt sich dann positiv als »Verzicht« interpretieren, der geradezu eine »Konstante seines literarischen Schaffens darstellt« (S. 79). Psychologisch gesehen sind die »angeborenen Begabungen« (die Verfasserin spricht auch von »Kellers künstlerischem Trieb«) »unbewusst dafür besorgt [...], existentielle Hindernisse hervorzubringen, um für sich selbst die Bedingungen ihrer Verwirklichung zu schaffen« (S. 81). Kürzer gesagt: Begabungen entfalten sich nur an Widerständen und erzeugen diese notfalls selbst. Mit einigem Aufwand werden nun die in der Keller-Forschung immer wieder beschriebenen inneren Konflikte auf die »Schreibunterlage« zurückprojiziert, eine »Grenzzone«, in der die »Symptome unbewusster oder halbbewusster Regungen« das entstehende Text-Bild nicht nur als Übergang »vom Malen zum Schreiben«, sondern auch »vom Leben zur Kunst« (ebd.) erscheinen lassen. Gleichwohl versucht die Verfasserin ausdrücklich, dem psychologischen Aspekt eine poetologische Wendung zu geben, und fragt nach den »medialen Gründen« für den so verlaufenen Weg: »Könnte es sein, dass sich Kellers künstlerischer Drang nur im Medium der Dichtkunst vollumfänglich verwirklichen konnte und nicht in einem Gemälde?« (ebd.). Die Argumentation zielt dann (in Anlehnung an Walter Benjamin) aber doch wieder auf ein produktiv wirksames Entsagungsmotiv, das Keller vom sinnlichen Medium der Malerei ins abstraktere der Schrift wechseln läßt:

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Während seine Gemälde ein weltliches Paradies verheißen, das sich bei näherem Zusehen als unzugänglich erweist, erzählen seine Novellen von der Unumstößlichkeit der irdischen Grenzen, durch deren Akzeptanz aber unverhofft das Wunder paradiesischer Glückseligkeit eintreten kann. (S. 90)
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Letztlich aber ist es das glückhafte Gelingen von Dichtung selbst, das »jene ›poetische Seligkeit‹ erzeugt, die Gottfried Keller vom Grünen Heinrich bis zu einem seiner spätesten Gedichte den ›goldnen Überfluss der Welt‹ nennt« (S. 90). – Erst ganz zum Schluß fragt Kasper nach dem textimmanenten, erzähltechnischen Verfahren, mit dem solche Wirkung erzielt wird, und findet es im Prinzip der »variierenden Wiederholung« (S. 95) – mit Goethe zu sprechen der »wiederholten Spiegelungen« – sowie in dem von Erich Auerbach eingeführten Begriff der »Figuration«, in denen der poetische Text seine reflexive Kraft entfaltet. Leider bleibt es diesbezüglich bei Andeutungen, obwohl hier erst eigentlich die Ebene der strukturellen Bedingungen erreicht wird, deren Behandlung man im Rahmen einer im engeren Sinn »poetologischen« Untersuchung erwarten würde.

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Nietzsche

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Am Beginn der Nietzsche-Trias steht der gemeinsame Editionsbericht von Beat Röllin, Marie-Luise Haase, René Stockmar und Franziska Trenkle, vier Herausgebern des Editionsprojekts Der späte Nietzsche, das als (ursprünglich nicht geplante) Abteilung IX der Kritischen Gesamtausgabe von Colli/Montinari in fünf Bänden erscheint. Damit wird Montinaris Forderung, den »handschriftlichen Nachlass Nietzsches in seiner authentischen Gestalt« (zit. nach S. 104) zu publizieren, erfüllt und zugleich mit den Editionsprinzipien der früheren Abteilungen gebrochen. Angesichts des Umstandes, daß neunzig Prozent des Nachlasses in Form von »gebundenen Notiz‑ und Arbeitsheften« mit ganz unterschiedlich gearteten Einträgen vorliegt, haben die Editoren sich zu einer besonderen Form »integraler Wiedergabe in differenzierter Transkription« (ebd.) entschlossen, die – parallel zu der als CD ROM mitgelieferten Faksimilierung – die Notate in größtmöglicher Nähe zum Original, d.h. auch topologisch exakt abbildet und sich konsequent jeder editorischen Wertung, Klassifikation oder Interpretation enthält. Damit wird erstmals das gesamte Nachlaßmaterial, das Elisabeth Förster-Nietzsche zu jener unseligen, aber wirkungsmächtigen Sammlung unter dem Titel Der Wille zur Macht kompilierte, in authentischer Gestalt publiziert. – Die Autoren geben mehrere, nicht eben spektakuläre, aber bei genauerem Hinsehen doch signifikante Beispiele solcher »Über-Setzung«, die zeigen, was die »integrale Fassung« gegenüber der bisherigen Praxis leistet, aber auch, wo ihre Grenzen liegen. Die diplomatische Umschrift ist in der Tat außerordentlich differenziert (bis hin zum Mehrfarbendruck), läßt sich aber im Vergleich mit der Variabilität der Handschrift nicht unbegrenzt weit treiben. Daß eine solche Textwiedergabe nicht mehr flüssig lesbar ist, ist der Preis für die philologische Genauigkeit; diese wiederum ist unabdingbar, wenn es darum geht, das Material ›in nuce‹ zu präsentieren, d.h. in seiner überkommenen, den bestimmten Moment im Entstehungsprozeß fixierenden Gestalt, und nicht eine so oder so zubereitete und dann zum ›Werk‹ erklärte Fassung. – Zwangsläufig gerät die Darstellung der hier praktizierten editorischen Prinzipien ein wenig auch zur Abrechnung mit den bisher verfolgten. Die Grundsatzentscheidung,

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nur bestimmte, gleichsam eigenständige Textfassungen handschriftlicher Entwürfe als ›Fragmente‹ zu edieren, bedingt, dass in textgenetischer Hinsicht bedeutende Zusammenhänge verschleiert oder unkenntlich gemacht werden, so auch, dass in werkgenetischer, werkkompositorischer Hinsicht Bedeutsames preisgegeben wird. (S. 114)
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Keine Wiedergabe der Handschrift im Druck kann den vielschichtigen Informationswert des Originals zu hundert Prozent erhalten. Aber mit einem Verfahren wie dem hier angewandten lassen sich der Verlust und die editorische Willkür doch auf ein Minimum reduzieren. Wenn die Handschriftenlage kompliziert, der Autor bedeutend und der Erkenntniswert groß genug ist, gibt es zur entsprechend differenzierten Form der Transkription keine wirkliche Alternative.

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Auf den sachlich-klaren Bericht der vier Nietzsche-Herausgeber folgt ein nur mit dem Wort »Schattenhaft« überschriebener Essay von Thomas Schestag, der sich, ausgehend von einem Einfall des jungen Nietzsche, der Vision einer Gedanken-Protokoll-Maschine, mit dem Verhältnis von Schreiben und Denken beschäftigt. Er ist der einzige Beitrag, dessen Lektüre der Rezensent nach einigen Seiten und Sätzen wie den folgenden entnervt aufgegeben hat:

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wie in dem Wort Gedanken das bloße, gedankenlose Wort zum bloßen, wortlosen Gedanken aufzubrechen gehalten ist, im Augenblick des Aufbruchs aber weder Worte noch Gedanken insistieren, sondern die Fassung des Worts zum Wort wie die Fassung des Gedankens zum Gedanken bröckelt, so soll im Wort Wort einerseits eines unter andern Wörtern, andererseits und zugleich aber das eine Wort für alle Wörter, das den Wortcharakter aller Wörter nicht nur nennt, sondern bedeutet, vorliegen. Genau in das Wort, das die Gedankenlosigkeit aller Worte, die nur Worte sind, charakterisiert, soll der Gedanke an den Wortcharakter aller Worte verkapselt sein. Dieser Gedanke, oder Gedankengedanke, am Denkrand nicht weniger als am Wortrand, soll nicht nur die Gedankenleere angesichts bloßer Worte, soll also nicht nur an die durch den Blick aufs bloße Wort bedingte Möglichkeit der Ablösung fehlender Gedanken durch Gedankenfülle denken, sondern die Wendung Nur Worte [aus einem Brief an Franz Overbeck] fordert bei genauerem Hinsehn dazu auf, jedem Wort des Briefes das Wort Wort zu suppliren [sic], jedes Wort zum Wort seines Orts überhaupt erst auszuzeichnen, um jedes Wort als Wort identifizieren zu können und das Wechselspiel von Fehl und Fülle, Fort und Da, zwischen Worten und Gedanken in Gang zu bringen. (S. 120)
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Das ist intellektuelle Spiegelfechterei, Gehirnakrobatik, die sich selbst aus jedem vernünftigen Diskurs verabschiedet und über die sich weder nachdenken noch sinnvoll schreiben läßt.

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Um so wohlwollender begegnet man dem Versuch von Thomas Fries und Glenn Most, unter dem Titel »Von der Krise der Historie zum Prozess des Schreibens« Nietzsches zweite Unzeitgemäße Betrachtung (Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben) als Aneignung und Fortschreibung vorgefundenen historischen Materials zu interpretieren. Die Abhandlung gilt gemeinhin als zentraler Text für Nietzsches Geschichtsskeptizismus, der die Krise des modernen Menschen in der »historischen Krankheit«, in der zwanghaften Rückbindung an die Vergangenheit verortet, die zum »Todtengräber des Gegenwärtigen« wird, und »Heilung« in einem produktiven »Vergessen« (zit. nach S. 137 f.) sucht. Die Autoren machen nun diesem Text selbst geradezu den Prozeß, indem sie analysieren, welchen Gebrauch er seinerseits von benutzten Quellen macht. An fünf Fallbeispielen – Leopardi, Goethe, Schiller und zweimal Grillparzer – weisen sie nach, wie Nietzsche sich der Vorlagen »bemächtigt«, sie in einem Akt radikaler Umdeutung dem eigenen Argumentationsgang gefügig macht und schließlich »einverleibt« (S. 144, 149 u.ö.). Das gezielte, aber meist verdeckte Verfahren solcher »Nach‑ und Umbildung« fremden Gedankengutes werten sie als »Ausbeutung der Vortexte« (S. 155) und lassen den Befund in die offene Frage münden, ob nicht der vielbeschworene »Wille zur Macht« als eine »Weiterentwicklung des hier beschriebenen Willens zur ›Bemächtigung‹ der Vortexte zu verstehen« (S. 156) ist. Was bedeuten würde, daß sich in der mutwilligen posthumen Zusammenstellung der Aufzeichnungen Nietzsches durch die Schwester nurmehr dasjenige wiederholt, was er selbst den Texten anderer Autoren angetan hat – ein Akt ausgleichender Ungerechtigkeit.

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Proust und Joyce

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Es folgen zwei kleinere szenische Skizzen zu Proust und Joyce. Unter der (etwas gesuchten) Überschrift »Inventio, dispositio und elocutio bei Marcel Proust« rekonstruiert Luzius Keller die Entstehung der berühmten Madeleine-Episode anhand mehrerer Entwürfe, Überarbeitungen und Neuansätze und arbeitet das experimentell-konstruktive Element im Prozeß des Schreibens heraus, während Fritz Senn in seinem Beitrag »Fiktiver Schreibprozess. Leopold Bloom verfasst einen Brief« die Darstellung des Schreibvorgangs im Roman untersucht und demonstriert, wie aus Versatzstücken, aus Beschreibungen, Gedanken, Anspielungen, Rückblenden usw. (etwas modisch spricht er von »Hyperlinks«, S. 189) die Komposition sich fügt. Das alles sind zweifellos zutreffende, aber keineswegs neue Beobachtungen. Am Ende steht einmal mehr der Hinweis auf den »behutsamen, vorantastenden, schwankenden, zielgerichteten und zufälligen Prozess des Schreibens« (S. 189). Wer wollte da widersprechen?

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Wittgenstein: Das ›einzige Buch‹

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»Wittgensteins Bücher« betitelt Peter Keicher hintersinnig seinen Aufsatz, den er als »allgemeine Einführung in den philosophischen Nachlass Ludwig Wittgensteins« (S. 193) verstanden wissen möchte – und meint damit weniger die geschriebenen als die nicht geschriebenen oder besser: die nicht abgeschlossenen und veröffentlichten Bücher. Bekanntlich gehört Wittgenstein zu den Autoren, bei denen sich der Berühmtheitsgrad umgekehrt proportional zur Menge des zu Lebzeiten Publizierten verhält. Den 56 Druckseiten des Tractatus, die seinen Ruhm begründen (auch die Philosophischen Untersuchungen sind erst posthum erschienen) stehen mehr als 20.000 Seiten Nachlaßmaterial gegenüber, die Zeugnis geben vom lebenslangen Ringen um die zureichende Form des philosophischen Gedankens. Keicher erläutert zunächst die persönliche Schreibweise Wittgensteins, das Notieren von ihm selbst so genannter »Bemerkungen«: aphorismen‑ oder fragmentartige Aufzeichnungen, die fortlaufend und ohne äußere Gliederung niedergeschrieben werden, sich bei näherem Zusehen aber doch nach Konvolut, Werktitel, Paginierung, Datierung oder Numerierung bis zu einem gewissen Grad strukturieren lassen. Dann beschreibt er die im allgemeinen streng eingehaltene Abfolge von Bearbeitungsschritten, die zur Buchpublikation führen sollten: »Notizbuch, Manuskriptband und Typoskript« (S. 200), und geht insbesondere auf das methodisch sehr bezeichnende Verfahren ein, Notizzettel, einzelne »Bemerkungen«, teilweise auch zerschnittene Typoskriptblätter auf großen Tischen auszulegen und zu regelrechten Collagen zu arrangieren. Abschließend folgt eine Übersicht über die zwischen 1929 und 1951 verfolgten, teilweise parallel betriebenen Publikationsprojekte, darunter das aus verschiedenen Typoskripten zusammengestellte, 800 Seiten starke und wohl als Summe des bisherigen Denkens konzipierte Big Typescript (1933) sowie das berühmte Blaue Buch, ein maschinenschriftliches Vorlesungsskript für Cambridger Studenten. Im Blick auf die gewaltige Masse nachgelassener Aufzeichnungen, die Wittgenstein mit großer Strenge angelegt und verwaltet hat und die doch nicht bis zur Druckreife gelangt sind, erscheint der immer wieder gegebene Hinweis auf »dieses Buch« oder »mein Buch« (S. 220 f.) fast schon als heuristische Formel. »Alle Notizbücher, Manuskriptbände, Typoskripte, Zettelsammlungen und Collagen«, schreibt Keicher, »dokumentierten dann die Schreib‑ und Arbeitsprozesse an einem einzigen Buch, das nie vollendet wurde, und dessen angestrebte Gestalt sich immer wieder veränderte« (S. 220). Der Gedanke ist konsequent und trifft wohl, jenseits aller pragmatischen Bemühungen, mit weiteren Publikationen hervorzutreten, den Kern der Sache: Das eigentliche ›Buch‹, das Buch der Bücher ist nicht mehr eine bestimmte, in sich abgeschlossene oder abzuschließende Monographie, sondern ein dynamisches Gebilde, gleichsam ein offener Arbeitsspeicher, ein ›Werk‹ im permanenten Status nascendi.

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Im Prinzip den gleichen Sachverhalt beschreibt auch Richard Weihe, wenn er »Wittgensteins Vorworte« analysiert. Deren finden sich mehrere im Nachlaß, die sich offenbar auf »zwei verschiedene [...] Modelltexte von wenigen Seiten Länge« (S. 224) zurückführen lassen. Die zunächst geäußerte Vermutung, man könne daraus auf zwei unterschiedliche Buchprojekte schließen, wird vom Verfasser aber mangels weiterer Anhaltspunkte sogleich widerrufen. So lautet die These: »Die sechzig Seiten aller im Nachlass enthaltenen Entwürfe und Varianten stellen die Genese eines einzigen Vorworts dar« (S. 225). Thematisch beschäftigt er sich zum einen mit dem Verhältnis der späteren Texte zum Tractatus, zum andern mit der Geschichte der Philosophie. Dabei geht Wittgenstein zum finalen Anspruch des Tractatus’, die Probleme der Philosophie durch ihre Entlarvung als sprachliche im wesentlichen gelöst zu haben, erkennbar auf Distanz und versteht die weiteren Reflexionen, namentlich die Philosophischen Untersuchungen als Replik auf den Tractatus. Auch hier also der Eindruck, daß sich die unterschiedlichen Teile des Gesamtwerks zu einem großen Ganzen zusammenschließen, dessen Bezeichnung als »Buch« irgendwo zwischen konkreter Planung und abstraktem Programm angesiedelt sein mag. »Die Arbeit an den Vorworten«, schreibt der Verfasser,

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erscheint paradox: Je länger Wittgenstein an den Fassungen eines zweiten, möglicherweise dritten Vorworts arbeitet, desto deutlicher tritt hervor, dass die Vorworte eigentlich Nachworte zu seinem Tractatus-Vorwort sind und sein Ziel ein neues Vorwort sein müsste, welches das veröffentlichte ersetzt und als singuläres Vorwort für sein Gesamtwerk stünde. So haben wir die paradoxe Situation, dass Wittgenstein in seinen Vorworten eine Dekonstruktion des Vorworts betreibt. Oder anders gesagt: In der Form des Vorworts vernichtet er dessen Form. (S. 228)
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Weihe bindet diesen speziellen Aspekt der Werkgenese dann ein in die allgemeine und von Wittgenstein immer wieder ventilierte Fortschritts-Problematik und führt einmal mehr die Pointe vor, den gedanklichen Weg nicht als absoluten »Fortschritt«, sondern als permanentes »Fortschreiten« mit beständigem Wechsel der Perspektive zu verstehen. Wittgenstein selbst hatte seine philosophischen »Bemerkungen« wiederholt als Bilder einer »langen und verwickelten Kreuz-und-quer-Fahrt« (zit. nach S. 230) bezeichnet, was der Verfasser durch eine eigenhändige Strichzeichnung noch zu illustrieren versucht. So entspricht

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Wittgensteins inhaltlichem Programm eines [im Wortsinn] ›diskursiven‹ statt ›methodischen‹ Denkens [...] das Schreiben von Variationen als Darstellung von Gedankengängen durch ›die gleichen Punkte der Landschaft‹ von ›verschiedenen Richtungen‹ her. Die Vorworte und Vorwort-Entwürfe sind selbst ein treffendes Beispiel für die schriftliche Erscheinungsform seiner Anti-Methode. (S. 231)
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Das klingt plausibel; aber es wird ein erheblicher argumentativer Aufwand getrieben für einen schmalen Befund.

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Dürrenmatt

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Unter dem Titel »Dürrenmatts Fiktion Das Hirn. Textgenese zwischen Schöpfung und Evolution« untersucht Ulrich Weber den Schlußtext des zweiten Stoffe-Bandes Turmbau, den er zugleich als »Schlussstein zu Dürrenmatts Gesamtwerk« (S. 237) etablieren möchte. Der alte Topos vom Dichter-Demiurgen wird hier auf das Denk­‑ und Vorstellungsorgan als solches übertragen, das sich in einer fiktiven Creatio ex nihilo eine abstrakte Wirklichkeit, eine »Reißbrettwelt« erschafft. Mit knappen Strichen skizziert Weber die Textgenese aus dem Essay »Die Phileinser über Dir!«, auch die spätere Verzweigung in unterschiedliche Erzählstränge, und lenkt den Blick gezielt auf den neuralgischen »Wendepunkt« der Geschichte, in dem das zunächst rein mechanisch und wertfrei operierende Hirn »anthropomorphe Züge« annimmt. Dadurch öffnet es sich, unfreiwillig, der geschichtlichen Dimension und entwickelt »Wertvorstellungen« (S. 249), die im ursprünglichen Konzept nicht vorgesehen waren. Gleichwohl bleibt die Erzählung eine »spielerische Kompilation« verschiedener Schöpfungsmythen und Wirklichkeitsmodelle, die durchaus keinen »linearen Fortschritt« anzeigen, sondern »zufällige Mutationen, die zum Menschen führen« (S. 251). – Das eigentliche konstruktive Problem der Erzählung ist ihr Schluß. Dürrenmatt hat offenbar lange mit der Einsicht gerungen, daß die »Umwandlung eines rein mathematisch-logischen Hirns in ein menschliches mit seinen emotionalen und irrationalen Aspekten« (S. 253) nicht nur eine »rhetorische Inkohärenz« bedeutet, sondern daß bei der gedoppelten Fiktionalität von Ich und Welt schlechterdings nicht mehr »entschieden werden kann, was wirklich und was möglich ist«. Ein derart »radikalisierter Konstruktivismus« entwickelt zwangsläufig einen »Hang zur totalen Ironie und Beliebigkeit« (S. 254), der der Geschichte den Boden entzieht. Deshalb, so der Verfasser, habe Dürrenmatt nach einer tragfähigen, den Text gleichsam stabilisierenden Pointe gesucht. Die Lösung ergab sich mit einem Besuch in Auschwitz im Mai 1990, dessen betont nüchterne Beschreibung nun den Abschluß der Erzählung und damit des gesamten Bandes bildet. Auf diese Weise wird auch die autobiographische Dimension nochmals gebrochen durch die gedanklich uneinholbare Faktizität des Geschehens in den Vernichtungslagern. Die Szene »stellt gewissermaßen die ganze Logik der Fiktion auf den Kopf« (S. 255) und gibt dem Text wie dem ganzen Werkstatt-Komplex jene Bodenhaftung zurück, die er mit dem hochgetriebenen, aber innerlich in Schieflage geratenen Erzählduktus verloren hatte. »Was hier als [...] Sprung aus der Fiktion erscheint«, schreibt Weber, »ist Konsequenz einer Poetik des Scheiterns, die sich immer deutlicher in der Stoffe-Arbeit abzeichnet und zum Konstruktionsprinzip und zur Leitmetapher des zweiten Bandes [...] wurde« (S. 259 f.). Das genügt eigentlich als Befund, und man muß Dürrenmatt nicht unbedingt noch in die biographische Selbstbegründung folgen, wonach die lustvoll-verzweifelte Konstruktion »grotesker Gegenwelten« (S. 260) als kompensatorische Maßnahme desjenigen zu werten ist, der sich in seinem künstlichen Schweizer Idyll von den globalen Katastrophen des 20. Jahrhunderts ausgeschlossen fühlt.

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Georges Perros

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Mit einer speziellen Textsortendifferenz beschäftigt sich Ariane Lüthi in ihrem Beitrag »La note-amorce. Une lecture des Papiers collés de Georges Perros«. Perros, der sich selbst als »faiseur de notes invétéré« bezeichnete, hat in seinen unsystematisch-spontanen, aus dem Alltäglichen schöpfenden Aufzeichnungen einen Schreibduktus sui generis geschaffen, eine »écriture notulaire« (S. 267), und mit ihr eine Ästhetik der Collage, die die Verfasserin gegen andere Formen der »écriture morcelée« (S. 265) abzugrenzen sucht. « Perros, a-t-il écrit des notes, des aphorismes, ou des fragments? » (S. 267) fragt sie und charakterisiert die Notizen – zugleich ihren Titel erläuternd – wie folgt:

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Il me semble congruent d’éclairer la pratique de Perros par le verbe amorcer: l’accent est alors posé sur l’acte du noteur qui commence, ébauche et attire l’attention du lecteur par ses écrits. La note-amorce est cette « pierre d’attente » alléchante qui charme et met en marche les pensées d’autrui. [...] Celui qui amorce crayonne, dispose, donne des idées, esquisse, prépare ou projette – en d’autres termes, il ébauche. L’amorce-ébauche est en effet le commencement, le germe d’une idée, le premier jet; mais elle est aussi le croquis, l’esquisse, ou même le projet (pro-jet). (S. 267 f.)
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Es folgt eine Fülle charakterisierender Umschreibungen, mal direkt, mal metaphorisch, meist unter Zuhilfenahme von Perros’ eigenen Reflexionen (namentlich in den »Notes sur la note« und den »Notes sur l’aphorisme«), die die Nähe, vor allem aber die Abgrenzung und Eigenständigkeit gegenüber der eher didaktischen Zielrichtung des Aphorismus herausheben und ihre poetische, in ihrer Diesseitigkeit fast schon erotische Qualität beschwören: »Dans son écriture comme dans sa lecture, la note incarne une véritable po‑éthique du passage« (S. 286).

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Hermann Burger

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Den markanten Schlußpunkt setzt Simon Zumsteg mit seinem Aufsatz über Hermann Burger unter dem – bei Raymond Federman entlehnten – Titel »Playgiarism Rules. Hermann Burgers Poetologie«. Ausgehend von der Doppelrolle Burgers als Autor und professioneller Literaturwissenschaftler stellt er die Frage nach den Determinationen, den Möglichkeiten und Freiheiten eines Poeta doctus im Horizont der literarhistorischen Tradition. Zumsteg entwickelt seine Überlegungen zunächst in Auseinandersetzung mit der These Harold Blooms von der »Einflußangst«, wonach der treibende Impuls eines Autors sich im wesentlichen aus der Rebellion gegen übermächtige und allgegenwärtige literarische »Vaterautoritäten« speist und das Eigene sich in einem permanenten intertextuellen »Machtkampf« in Form einer gezielten, strategischen »Fehllektüre« (S. 292) herausbildet. Zumsteg sieht darin eine übertriebene, eher zwanghafte Dekonstruktion des Vorläufers durch den jeweiligen Nachfahren, von der er nur eine »entmystifizierte Variante« (S. 294) gelten lassen will. Die aber scheint ihm doch tauglich, um »zwischen der Skylla des Biographismus und der Charybdis des Poststrukturalismus einen Raum für produktionsästhetisches Denken zu schaffen«, das weder dem »überpersonalisierten Autorbegriff traditioneller Produktionsästhetik« noch dem »entpersonalisierten Textbegriff der Postmoderne« folgt noch auch sich dem »Vorwurf hermeneutischer Naivität« (S. 298) aussetzt. In der folgenden ausführlichen Analyse des Gedichtes »Ruine Horen« sucht Zumsteg dieses Konzept zu installieren, indem er zeigt, wie der hochgradig assoziativ besetzte Idyllen-Ort zur Anti-Idylle mutiert, wie sich die aufgerufenen literarischen Versatzstücke (Homer, Schiller, Hölderlin, Mörike) zur »allusiven Collage« (S. 310) fügen, während für den gelehrten, ständig vom eigenen historischen Bewußtsein heimgesuchten Autor der Schreibakt zum »poetologischen Mikrodrama« wird, aus dem er sich nur mit dem Mittel der »ironisierten Metalepse« zu befreien vermag, d.h. durch ein »sprachliches Vexierbild, das dem lyrischen Ich erlaubt, die Ambivalenz der Väter zu bewältigen« (S. 311).

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Fazit

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»Playgiarism rules« – der signifikant-doppelsinnige Titel des letzten Aufsatzes scheint geeignet, nicht nur das Problem der Schriftsteller zu benennen, die sich am Überlieferten abarbeiten, sondern ebenso das Dilemma der hier versammelten Autoren, die sich auf einem zunehmend engen wissenschaftlichen Terrain behaupten müssen. Vieles, was in den Einzelanalysen mit innovativem Anspruch vorgestellt wird, modifiziert eigentlich nur das Standardrepertoire, während methodisch besonders die jüngeren Debatten um eine Ästhetik des Diskursiven und Performativen ihre Spuren in den Beiträgen hinterlassen haben. Die Versuche, sich im Spannungsfeld der unterschiedlichen Theorien mit eigenen Akzenten zu positionieren, wirken nicht selten angestrengt und neigen bisweilen zur Spitzfindigkeit. Gleichwohl enthält der Band durchaus bemerkenswerte und aufschlußreiche Befunde. Vor allem aber verdient die Selbstverständlichkeit, mit der hier Literaturwissenschaft (wieder) als Poetik im Sinne einer Reflexion auf die Entstehungsbedingungen literarischer Texte betrieben wird, Respekt. Wer wie der Rezensent diesem Ansatz grundsätzlich positiv gegenübersteht, wird auch in der Suche nach dem ›genetischen Code‹ eines Textes oder Werkes zweifellos eine zentrale und anhaltend dringliche Aufgabe sehen.

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Noch eine Marginalie zum Schluß: Auch in diesem Band stolpert man, wie mittlerweile in den meisten wissenschaftlichen Publikationen, immer wieder über die Zumutungen und Peinlichkeiten der neuen, sogenannten reformierten Orthographie – in Wahrheit ein skurriler Anachronismus, der die Sprachentwicklung und die Errungenschaften der modernen Verschriftung zurückdreht. Und wie so oft produzieren Verunsicherung, Gleichgültigkeit oder beflissene Anpassungsbereitschaft ihre eigenen Blüten: »Grund legend« (S. 79), »Weg weisend« (S. 80), »zufrieden stellend« (S. 80, 92) oder »Stossrichtung« (S. 134, 137), daneben Silbentrennungen wie »Manusk‑ript« (S.240), »Trans‑kription« (S. 107), »Bedeutungsü‑berlagerungen« (S. 186) oder »neu‑ere« (S. 214). Man kann sich an solche Defekte offenbar gewöhnen wie an eine chronische Krankheit. Von Autoren und Herausgebern allerdings, die so intimen Umgang mit literarischen Texten pflegen, darf man besondere Sorgfalt und Sensibilität für das geschriebene Wort erwarten. Wenn aber selbst historische Texte auf Neuschrieb getrimmt werden, und sei es nur in der leidigen Frage der ß‑/ss‑Schreibung (so durchgehend in Nietzsche-Zitaten bei Fries/Most), ist die Grenze des philologisch Vertretbaren überschritten.