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»Dialogus est conlatio duorum vel plurimorum«

Eine umfassende Studie zum lateinischen Dialog
des Spätmittelalters

  • Carmen Cardelle de Hartmann: Lateinische Dialoge 1200-1400. Literaturhistorische Studie und Repertorium. (Mittellateinische Studien und Texte 37) Leiden, Boston: Brill 2007. xxx, 826 S. Gebunden. EUR (D) 149,00.
    ISBN: 978-90-04-16033-0.
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Literarische Dialoge erfreuen sich in der Forschung der letzten Jahren wieder einer erhöhten Aufmerksamkeit: In der Regel interessieren entweder der philosophische Gehalt der Texte oder ihre linguistischen Aspekte. Dabei stehen für die Vormoderne klar Texte aus Antike und Renaissance im Zentrum. Für das Mittelalter finden sich Untersuchungen vor allem zu Einzeltexten, zu Streitgedichten und zu (antijüdischen) Streitgesprächen. Über die Dialogproduktion dieser Zeit als solche gilt aber noch weitgehend Rudolf Hirzels 1895 formulierte Meinung, laut dem es das »Mittelalter zu keinem rechten Dialoge gebracht« 1 habe.

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Hier versucht die groß angelegte Arbeit von Carmen Cardelle de Hartmann – eine 2006 abgeschlossene Münchener Habilitationsschrift – gleich mehrere Forschungslücken zu schließen, indem sie betont, dass mittelalterliche Dialoge nicht als gegenüber antiken defizitär betrachtet werden sollten, sondern es vielmehr darum gehen muss, adäquate Begrifflichkeiten zu erarbeiten, um die Spezifik dieser Texte zu verstehen (vgl. S. 21). Die Arbeit setzt sich zum Ziel, die lateinischen Dialoge des Spätmittelalters zu erschließen, einen tragfähigen Begriff von Dialog für den untersuchten Zeitraum zu entwickeln und die existierenden Dialoge zu typisieren (vgl. S. 21 und S. 268).

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Untersuchungszeitraum

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Cardelle de Hartmann nimmt einen Zeitraum in den Blick, der bisher in der Dialogforschung besonders vernachlässigt wurde: Schon das Mittelalter allgemein erhielt weniger Aufmerksamkeit als die Antike und die Renaissance, aber während lateinisch schreibende Dialogautoren des Früh- und Hochmittelalters doch noch ein gewisses Interesse weckten, sind die lateinischen Dialoge des Spätmittelalters (anders als einzelne volkssprachige Dialoge der Zeit, etwa von Marguerite de Porete, Mechthild von Magdeburg oder Heinrich Seuse) bisher noch kaum untersucht.

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Die Studie legt, auch wenn sie sich aufs Spätmittelalter konzentriert, großen Wert darauf, die Einbettung der Texte in literarische Traditionen aufzuzeigen und bietet folglich wo immer möglich und nötig Rückblicke in die Spätantike, das Früh- und das Hochmittelalter. Neben den literarischen Vorbildern kommt der Untersuchung von Quellen und Überlieferung eine wichtige Stellung zu. Die Frage nach der Rezeption hingegen kann wegen der äußerst umfangreichen Materialbasis in der Regel nur angedeutet werden: Meist bleibt es bei Hinweisen darauf, dass die Dialoge nicht an den Universitäten im Rahmen der Curricula gelesen wurden.

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Der Begriff ›Dialog‹

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Cardelle de Hartmann erarbeitet ihren Dialogbegriff in zwei Schritten und grenzt sich dabei deutlich von einem erweiterten Dialogbegriff (im Sinn von Kommunikation, mündlichem Gespräch oder von Bachtins Polyperspektivität) ab (vgl. S. 12–17).

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Ausgangspunkt für ihre Begriffsdefinition ist die zeitgenössische Terminologie: In einem ersten Schritt untersucht die Verfasserin einerseits, wie sich ältere Autoren wie Isidor von Sevilla, Konrad von Hirsau und Wilhelm von Conches dazu äußern, was ein dialogus sei oder wozu sie sich der entsprechenden Form bedienten, andererseits befasst sie sich ausführlich mit der Titelsetzung in mittelalterlichen Texten, die als Dialoge in Frage kommen, und berücksichtigt dabei auch eingehend die handschriftliche Überlieferung. Aus diesen beiden Ansätzen ergibt sich, dass mittelalterliche Autoren die folgenden Kriterien für die Anwendung der Bezeichnung dialogus sehen (S. 55 f.): Verwendung der Personensprache, wobei narrative Elemente vorkommen dürfen, weil es keine Unterscheidung zwischen mimetischen und diegetischen Dialogen mehr gibt; Zuweisung der Redebeiträge an Figuren; Verwendung von Prosa. Häufig verweisen die mittelalterlichen Autoren zudem darauf, dass es sich um Zwiegespräche und nicht um Gespräche zwischen mehreren Personen handle, dass ein didaktischer Impetus vorliege oder dass als Funktionen die Autorisierung von Aussagen, die Unterhaltung der Leser und Hörer oder ihre Bestärkung im Glauben eine Rolle spiele.

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Cardelle de Hartmann entscheidet sich, in Übereinstimmung mit den mittelalterlichen Autoren, dafür, in ihrer Untersuchung nur Prosatexte zu berücksichtigen, welche »überwiegend« 2 in Personensprache mit Zuweisung an Figuren gehalten sind. Alle anderen von den mittelalterlichen Autoren angeführten Kriterien prüft sie – dies ist der zweite Schritt – an ihrem umfangreichen Material.

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Eine einzige Entscheidung wird ganz ohne Bezug auf die zeitgenössische Diskussion getroffen: Nicht berücksichtigt werden Texte, die aus anderen Sprachen ins Lateinische übersetzt wurden (vgl. S. 56 f.). Begründet wird dies damit, dass diese Texte vor allem für die Untersuchung von Wechselwirkungen mit den Volkssprachen relevant seien, doch scheint es sich letztlich – in Anbetracht der sowieso kaum mehr überschaubaren Materialfülle – wohl eher um eine praktisch begründete Entscheidung zu handeln.

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Dadurch, dass erst die Untersuchung den Begriff klärt, lassen sich Unstimmigkeiten nicht ganz vermeiden: So wird in der Einleitung ›Dialog‹ als Bezeichnung für eine Textsorte aufgefasst (S. 11), obwohl gerade noch die Meinung von Peter von Moos referiert wurde, dass ›Dialog‹ eine Darbietungsform sei, die sich prinzipiell in allen Textgattungen finden könne (vgl. S. 11). Ganz auf der Linie von von Moos wird die Bezeichnung ›Textsorte‹ dann am Schluss zurückgenommen: »Die Dialogform stellt eine konkrete Ausprägung der Personensprache und somit eine Möglichkeit der literarischen Gestaltung dar, die in verschiedenen Textsorten Anwendung finden kann.« (S. 265) ›Dialog‹ ist also keine Textsorte, vielmehr gilt: »Der mittellateinische Dialog ist als mögliche Ausgestaltung der Personensprache eine Präsentationsform, die konstitutives Merkmal einer Textsorte sein kann.« (S. 277)

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Die Merkmale des
mittellateinischen Dialogs

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Zum Schluss stellt Cardelle de Hartmann folgende Punkte als typische Merkmale mittellateinischer Dialoge heraus:

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i. »Die Dialogteilnehmer werden kaum charakterisiert. […] Meistens tragen sie allgemeine Bezeichnungen […] und stellen nur einen Typus dar« (S. 261).

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ii. »Die Beziehung zwischen den Figuren […] bleibt gleich und wird nur so weit gezeichnet, wie es der Darstellung des Inhalts nutzt. Eine gewisse Veränderung ist nur bei philosophischen Dialogen zu finden […]« (S. 262).

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iii. »Die Verfasser der spätmittelalterlichen Dialoge zeigen eine auffällige Bevorzugung der Zwiegespräche« (S. 262), auch wenn diese Etymologie falsch ist und schon Isidor von Sevilla ausdrücklich von zwei oder vielen Personen (»conlatio duorum vel plurimorum«, Etymologien 6, 8, zur Stelle vgl. S. 32) spricht.

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iv. »Der Dialog hat keine oder nur eine sehr reduzierte Rahmenhandlung« (S. 262).

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v. Als Funktionen (vgl. S. 262 f.) – ohne dass sich einfache Korrelationen zwischen Dialogtypen und -funktionen ausmachen ließen – sind feststellbar: Gliederung; Verbindung disparater Inhalte; Scheidung unterschiedlicher Positionen; Identifikationsmöglichkeit für den Leser. Seltener soll die Autorität einer Figur einer Aussage Nachdruck verleihen.

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vi. »Dialoge sind inhaltsorientiert« (S. 263), das heißt sie dienen in erster Linie der Vermittlung des Themas.

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vii. »Die Texte sind als Einheit gestaltet. In der Regel bestehen sie aus einem einzigen Gespräch mit gleichbleibenden Teilnehmern, das nur durch Themenwechsel eine Einteilung erfährt.« (S. 263)

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Typisierung

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Die Verfasserin stellt ein Defizit in Bezug auf die Typisierung mittelalterlicher Dialog fest: Diese sei bisher in der Regel auf zu kleiner Basis und oft im Hinblick auf die Dialoge der Humanisten, die Dialoge eines spezifischen Autors oder die Dialoge zu einem bestimmten Thema erfolgt (vgl. S. 3). Zudem habe man sich bisher häufig unhinterfragt auf eine Klassifizierung von Dialogtypen gestützt, die Peter Lebrecht Schmidt für die spätantike Literatur entwarf, 3 ohne sich zu fragen, inwiefern diese Klassifizierung für das Mittelalter in Anbetracht nicht untersuchter Kontinuitäten überhaupt Geltung beanspruchen könne (vgl. S. 4). Hierzu wäre zu fragen, ob eine (moderne) literaturwissenschaftliche Klassifizierung von Textsorten oder -typen zwingend Rücksicht nehmen muss auf mögliche historische Kontinuitäten, kann eine moderne Klassifizierung doch auch ohne historischen Bezug auf historische Texte angewendet werden.

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Cardelle de Hartmann basiert ihre Typisierung auf unterschiedlichen formalen, funktionalen und inhaltlichen Kriterien, denn: »Die fehlende Reflexion über Gattungen und der freie Umgang mit Traditionen in der spätmittelalterlichen Literatur lassen eine Sortierung der Schriften nach einheitlichen Kriterien nicht zu, stattdessen müssen für jede Gruppe die Merkmale herausgearbeitet werden, die sie als solche erkennen lassen.« (S. 23 f.) Vorgeschlagen wird die folgende Typisierung:

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i. Lehrdialoge (vgl. S. 58–103),

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ii. Streitgespräche (vgl. S. 104–162),

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iii. selbstbetrachtende Dialoge (vgl. S. 163–209) und

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iv. philosophische Dialoge (vgl. S. 210–232).

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1. Lehrdialoge

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Von den vorgeschlagenen Typen ist der Lehrdialog nicht nur am häufigsten, er übt auch einen beträchtlichen Einfluss auf die anderen Typen, insbesondere die philosophischen Dialoge, aus.

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Für die Lehrdialoge (vgl. S. 58 f.) ist ein inhaltliches Kriterium (eine Person wird von einer anderen, die einen Wissensvorsprung aufweist, belehrt) grundlegend, dazu treten funktionale Kriterien (der Dialog dient der Gliederung und Ordnung) und formale Kriterien (in Bezug auf die narrative Rahmung und die Interaktion der Gesprächspartner). Auch die weitere Unterteilung der Lehrdialoge basiert auf zwei verschiedenen Kriterien: Formale Kriterien gelten für die Frage-Antwort-Dialoge und die moralischen Lehrdialoge, inhaltliche für die alchemistischen und die monastischen Lehrdialoge. Dabei sind die moralischen Lehrdialoge eher beratend als belehrend, und es wäre also zu fragen, ob sie noch zur Klasse der Lehrdialoge gehören.

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2. Streitgespräche

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Für Streitgespräche (gegen Juden und Häretiker oder zwischen Christen) sind zwei Merkmale typisch: Das Thema stammt aus der zeitgenössischen, nicht rein universitären Polemik, und die Gesprächsteilnehmer vertreten entgegengesetzte Positionen, wobei einer der Teilnehmer oft als Sprachrohr des Verfassers erkennbar ist. Die Streitgespräche haben häufig eine apologetische und katechetische Intention, ohne dass jemand überzeugt würde: Die Figuren bleiben in aller Regel bei ihren Meinungen.

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Zu Recht weist die Verfasserin darauf hin, dass die so genannten Doppeltraktate kaum mehr als Dialoge zu bezeichnen sind, da hier einzig die Zuweisung der Abschnitte an bestimmte Namen noch auf den Dialog verweist (vgl. S. 153 f.).

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3. Selbstbetrachtende Dialoge

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Da der Begriff ›Soliloquium‹ insofern uneindeutig ist, als er zeitgenössisch sowohl für Selbstgespräche als auch für Gespräche mit Gott und für monologische Texte Verwendung findet (vgl. S. 204–207), verwendet Cardelle de Hartmann den Begriff ›selbstbetrachtende Dialoge‹. Diese Gruppe wurde vor allem durch Augustins Soliloquia, die Consolatio philosophiae des Boëthius und die Synonyma Isidors von Sevilla beeinflusst.

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Typisch für diese Dialoge ist, dass sie nicht Belehrung oder Unterweisung inszenieren, sondern Seelenführung. Dabei verweisen die auftretenden Personifikationen auf unterschiedliche Aspekte des Ichs. Die Analyse der Texte zeigt allerdings, dass der Typus ›selbstbetrachtender Dialog‹ kaum fassbar ist und dass sich zahlreiche Übergangsformen und Überschneidungen mit anderen Textsorten ergeben, so dass sich die Frage stellt, inwiefern tatsächlich von einem Typus gesprochen werden kann.

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4. Philosophische Dialoge

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Als Kriterium für die Zuordnung eines Textes zu den philosophischen Dialogen dient nicht das durch die Bezeichnung nahe gelegte inhaltliche Kriterium, sondern das Verhältnis der Gesprächspartner, die gleichberechtigt miteinander an der Lösung eines Problems arbeiten (vgl. S. 210). Da sich allerdings viele Verfasser philosophischer Dialoge Lehrdialoge zum Vorbild nahmen (vgl. S. 211), ist die Ausgestaltung der Rollen oftmals stark beeinträchtigt, so dass von einer Gleichberechtigung der Dialogpartner kaum mehr gesprochen werden kann.

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Vom antiken Dialog kommend würde man hier den Schwerpunkt der Dialogproduktion erwarten, doch tatsächlich kann Cardelle de Hartmann nur elf philosophische Dialoge von sieben verschiedenen Autoren ausmachen, die zudem keine sehr kohärente Gruppe bilden (vgl. S. 230). Beides mag darin begründet sein, dass die universitären Philosophen andere Textsorten bevorzugten.

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Die Schwierigkeit der Klassifikation

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Nach den Ausführungen zu den vier Haupttypen folgen zwei kurze Kapitel zu »Streitgesprächen über das Heilsgeschehen und Satansprozessen« (S. 233–241) und »Dramatischen Allegorien« (S. 242–247). Im Nachhinein erweist sich die sorgfältige Aufarbeitung dieser Texte als weitgehend hinfällig, da sie mehrheitlich nicht unter den von Cardelle de Hartmann erarbeiteten Dialogbegriff fallen: Während die Streitgespräche über das Heilsgeschehen noch als Dialoge begriffen werden können, kann dasselbe weder von den Satansprozessen noch von den dramatischen Allegorien mehr gesagt werden.

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Daran schließen sich weitere Fälle von fraglichen Texten an: Grenzfälle (wie Lulls De laudibus dominae nostrae Sanctae Mariae, S. 249, oder Marquards von Lindau Descriptio mortis, S. 251), nicht klassifizierbare Dialoge (u. a. verschiedene Werke Lulls, vgl. S. 252) und Texte, in denen sich mehrere Textsorten überschneiden, wie die Briefdialoge der italienischen Humanisten (vgl. S. 254–256) oder die Geistergeschichte Johannes Gobiis (vgl. S. 259 f.).

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Mit jedem fraglichen oder nicht mehr klassifizierbaren Text wächst das Unbehagen an der grundsätzlichen Typisierung: Offensichtlich ist sie, auch wenn sie in sich nicht kohärent ist, doch nicht so weit flexibel, dass sie alle überlieferten Texte hätte erfassen können. So erscheint etwa das Horologium sapientiae Heinrich Seuses als einer der prominentesten Vertreter im Kapitel über selbstbetrachtende Dialoge, doch dann heißt es: »Das Horologium kann daher kein selbstbetrachtender Dialog sein. Es gibt kein Selbstgespräch wieder, bedient sich jedoch der Darstellungsmittel dieser Dialogform.« (S. 178)

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Gattungsdiskussionen sind in aller Regel schwierig und führen selten zu allgemein akzeptierten Ergebnissen. So erstaunt es nicht, dass auch hier und für die lateinische Dialogliteratur des späteren Mittelalters keine völlig befriedigende Typisierung gelungen ist. Dass die Typisierung letztlich problematisch bleibt, zeigt sich auch daran, dass das sich an die Studie anschließende Repertorium chronologisch geordnet ist.

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Fingierte Mündlichkeit?

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Ein letzter Abschnitt, als Anhang nach dem Schlusskapitel eingefügt (S. 283–285), ist der Frage nach dem Verhältnis von Dialog und Mündlichkeit gewidmet: Während in der Dialogforschung Dialoge immer wieder herangezogen wurden, um tatsächliches Sprachverhalten historisch zu rekonstruieren, stellt Cardelle de Hartmann fest, »dass reale Situationen die Anregung für die Dialogform geben, aber in ihr nicht wirklich abgebildet werden.« (S. 284) Die von ihr untersuchten Texte sind genuin literarisch, Mündlichkeit (und sei sie fingiert – ein Terminus, der jedoch nicht bemüht wird) findet sich kaum: »Man muss abschließend feststellen, dass die Dialogform vor allem eine Form der schriftlichen Kommunikation ist und als solche wahrgenommen und gehandhabt wurde. Nur in einigen Nischen finden sich Spuren der Mündlichkeit.« (S. 285)

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Repertorium und Verzeichnisse

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Das auf die Studie folgende Repertorium zur lateinischen Dialogproduktion des Spätmittelalters (S. 287–726) ist recht eigentlich das Kernstück des Bandes, der durch ein umfangreiches Literaturverzeichnis (S. 727–758) sowie ausführliche Indices zu Namen, Titeln und Begriffen, Incipits und Explicits, Handschriften und Frühdrucken (S. 759–823) vervollständigt wird.

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Das Repertorium dient der Erschließung der lateinischen Dialogproduktion der Zeit zwischen 1200 und 1400: Behandelt werden darin in einem ersten Teil (S. 287–703) rund 120 lateinische Prosadialoge von fast achtzig Autoren. In einem zweiten Teil (»Anhang«, S. 704–726) werden zusätzlich etwa 25 Texte angeführt, die Cardelle de Hartmann aus ihrem Korpus ausschließen kann, weil es sich bei ihnen entweder um Übersetzungen ins Lateinische, um fälschlicherweise in den Zeitraum zwischen 1200 und 1400 datierte oder um verschollene Werke handelt oder weil die Texte bisher irrtümlicherweise als Dialoge bezeichnet wurden, tatsächlich aber klar keine sind (sondern etwa Diatriben oder Traktate).

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Zu allen Dialogen finden sich Angaben zu Autor, Fassungen, Datierung, Inhalt, Editionen, Bearbeitungen, mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Übersetzungen, Forschungsliteratur und Überlieferung, womit der künftigen Forschung ein unschätzbares Hilfsmittel zur Verfügung gestellt wird. Allerdings führt das Repertorium auch Werke an, welche sich im Lauf der Untersuchung als Grenzfälle oder als Nicht-Dialoge herausgestellt haben, wie zum Beispiel Lulls De laudibus dominae nostrae Sanctae Mariae 4 oder die dramatischen Allegorien. 5 Hier wäre eine deutlichere Abgrenzung hilfreich gewesen.

[51] 

Dass ein Verzeichnis von diesem Umfang nicht überall gleichermaßen perfekt sein kann, versteht sich von selbst: Gerade bei den Latinisierungen sind am ehesten Nachträge und Ergänzungen denkbar, so fehlt etwa das Directorium humanae vitae des Johannes von Capua (von ca. 1270), die Übersetzung einer hebräischen Fassung von Kalila und Dimna, das eine – wenn auch nur marginal ausgebaute – dialogische Rahmenhandlung aufweist. Zum Liber de pomo wäre die zweisprachige Ausgabe (Abdruck des lateinischen Textes von Marian Plezia mit umfangreicher Einleitung sowie weiteren Texten aus dem Umfeld) von Elsbeth Acampora-Michel (Frankfurt a. M.: Vittorio Klostermann 2001) nachzutragen.

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Der Verweis auf eine vollständige mittelhochdeutsche Übersetzung des Liber miraculorum des Caesarius von Heisterbach (angeblich: Köln, Historisches Archiv, Hs. 2025) ist wohl zu streichen; laut Auskunft von Ulrich Fischer vom Historischen Archiv der Stadt Köln gibt es keine derartige Handschrift. Bei derjenigen Handschrift, die der Beschreibung am nächsten kommt (Hs. W. 8° 25), handelt es sich um eine niederländische Handschrift des 15. Jahrhunderts, in der sich unter anderem Exempla aus dem Liber miraculorum des Caesarius finden. 6

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Fazit

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Cardelle de Hartmanns Werk ist aus verschiedenen Gründen eine lohnende Lektüre: Es ist nicht nur eine umfassende Studie zur dialogischen Literatur des Mittelalters, sondern eröffnet auch Perspektiven auf die weniger gut erforschte lateinische Literatur des Spätmittelalters im Allgemeinen, auf ihre Kontexte, Traditionen und ihre Rezeption. Die Verfasserin kennt sich nicht nur in der Literatur, sondern auch in den politischen und theologischen Debatten der Zeit bestens aus, so dass sie die untersuchten Texte überzeugend zu kontextualisieren vermag. Dabei ist besonders hervorzuheben, dass sie sich über weite Strecken nicht auf Editionen stützen kann, sondern die oftmals wenig bekannten Werke in Handschriften und Frühdrucken benutzen muss, was ihre Arbeit besonders bemerkenswert macht. Sie eröffnet so mit ihrem Werk Zugänge zu bisher unbekannten Texten, aber auch zu Fragen »der Wechselwirkungen zwischen volkssprachlichen und lateinischen Literaturtraditionen.« (S. 282)

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Nicht zuletzt setzt das Repertorium Maßstäbe in Bezug auf seine Präzision, seinen Detailreichtum und seine bemerkenswerte Übersichtlichkeit. So bleibt zu hoffen, dass dieses Buch die Forschung zu den Dialogen des Mittelalters weiter befördert und nicht durch seinen puren Umfang Forscherinnen und Forscher abschreckt.

 
 

Anmerkungen

Rudolf Hirzel: Der Dialog. Ein literarhistorischer Versuch. 2 Bde. Leipzig: S. Hirzel 1895, Bd. 2, S. 384.   zurück
S. 56: »›Überwiegend‹ bedeutet hier, dass narrative Einschübe zwar prinzipiell möglich, aber quantitativ und strukturell den Textanteilen in Personensprache untergeordnet sein müssen.«   zurück
Peter Lebrecht Schmidt: Zur Typologie und Literarisierung des frühchristlichen lateinischen Dialogs. In: Manfred Fuhrmann (Hg.): Christianisme et formes littéraires de l’antiquité tardive en occident. (Entretiens sur l’antiquité classique 23) Vandœuvres-Genève: Fondation Hardt 1977, S. 101–190.   zurück
Vgl. S. 249 bzw. Repertorium R32f (S. 430–433).   zurück
Vgl. S. 242–247 bzw. Repertorium R32n (S. 449–451), R32o (S. 451–453), R32x (S. 469 f.), R67a (S. 646–648), R77 (S. 692–695).   zurück
E-Mail vom 27. September 2007; vgl. zu der Handschrift die Beschreibung in: Karl Menne: Deutsche und niederländische Handschriften. Köln: Neubner 1937 (Mitteilungen aus dem Stadtarchiv von Köln, Sonderreihe: Die Handschriften des Archivs, Heft X, Abt. 1, Teil II), S. 243–262.   zurück