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»Die wahre Geschichte Deutschlands ist das Los seiner Bekenner und Offenbarer.«
(Theodor Lessing)

  • Rolf-Bernhard Essig / Reinhard M. G. Nikisch (Hg.): Wer schweigt, wird schuldig! Offene Briefe von Martin Luther bis Ulrike Meinhof. Göttingen: Wallstein 2007. 270 S. Gebunden. EUR (D) 19,90.
    ISBN: 978-3-8353-0217-4.
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Während offene Briefe bisher allenfalls in Gesamtausgaben von Schriftstellern oder in thematisch ausgerichteten Textsammlungen vereinzelt zugänglich waren, ist die vorliegende Anthologie erstmals ausschließlich der Textsorte offener Brief gewidmet. Die Sammlung deutschsprachiger Texte umfasst 29 Briefe, wobei der erste, von Martin Luther geschrieben, auf 1520 datiert, während der letzte aus dem Jahr 2005 stammt und von der Bundeskanzlerin Angela Merkel verfasst worden ist. Über Auswahlkonzeptionen lässt sich trefflich streiten. Aber es ist festzustellen, dass die Herausgeber angesichts der überaus großen Zahl überlieferter offener Briefe eine in jeder Hinsicht überzeugende Auswahl getroffen haben, die sie überdies im Einzelfall in dem jedem Text beigegebenen Kommentar begründen. Hilfreich sind die gut lesbaren Kommentare vor allem deshalb, weil sie die einzelnen Texte in die historische Situation und politische Konstellation ihrer Entstehungszeit einordnen. Dagegen fallen die Erläuterungen zu historischen Personen und Sachbegriffen nicht immer angemessen umfassend aus. Über Geschichte, wesentliche Merkmale und Funktionen der Textsorte ›offener Brief‹ informiert in aller Kürze eine Einführung der Herausgeber, die nicht versäumt, den offenen Brief von Emile Zola J’ accuse (1898) zur Dreyfus-Affäre als paradigmatisch für die Textsorte vorzustellen. Ein Personenverzeichnis schließt den Band ab.

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Zur Textauswahl

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Durch die ausgewählten Texte zeigen die Herausgeber, dass für sie die Hochzeit des offenen Briefs das 19. und besonders das 20. Jahrhundert ist. So stammen nur vier der mitgeteilten Briefe aus der Zeit vor dem 19. Jahrhundert: Je ein Brief Martin Luthers (an Papst Leo X., 1520) und Thomas Müntzers (an den ›Allstedter Bund‹, 1525) aus den Jahren der Reformation und des Bauernkriegs, ein Brief Gotthold Ephraim Lessings (1778) aus der Phase des »Fragmentenstreits« 1 an Johann Melchior Goeze (1717–1786) 2 über die Möglichkeit, die Wahrheit einer Religion zu beweisen sowie ein Brief des Revolutionärs Friedrich Georg Pape an den preußischen König Friedrich Wilhelm II. (1792), in dem er diesen in Duzform auffordert, sich der Revolution anzuschließen: »Werde Mensch und Bürger!« (S. 59)

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Eingeleitet werden die Texte des 19. Jahrhunderts mit einem Brief Heinrich Heines an die Bundesversammlung (1836) gegen das Verbot der Schriften des ›Jungen Deutschlands‹, dann folgt eine Eingabe der Frauenrechtlerin Louise Otto an den sächsischen Minister Martin Gotthard Oberländer (1848) zur Verbesserung der sozialen Situation der Arbeiterinnen, Harro Harring schaltet sich in die Auseinandersetzungen über die politische Zukunft Schleswig-Holsteins ein (1849) und fordert in diesem Zusammenhang die Einhaltung der Menschenrechte, Heinrich Hart verlangt von Otto von Bismarck politische Schritte zur Verbesserung der sozialen Lage der Schriftsteller (1882).

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In den offenen Briefen, die das 20. Jahrhundert repräsentieren, geht es um Fragen der Schuld am Ersten Weltkrieg (Gerhart Hauptmann an Romain Rolland, 1914), den Genozid an den Armeniern (Armin T. Wegner an den amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson, 1919), gegen den Nationalsozialismus und für die Demokratie als Staatsform (Heinrich Mann an Gustav Stresemann, 1923), Antisemitismus und Nationalismus (Theodor Lessing an Reichspräsident Paul von Hindenburg, 1925), das Verhältnis von Exilautoren zum nationalsozialistischen Deutschland (Gottfried Benn an Klaus Mann, 1933; Lion Feuchtwanger an Unbekannt über die Enteignung seines Hauses,1935; Thomas Mann an den Dekan der Philosophischen Fakultät der Universität Bonn anlässlich der Aberkennung seines Ehrendoktors, 1937), eine Warnung Bertolt Brechts (an die deutschen Künstler und Schriftsteller, 1951) vor der Wiederaufrüstung, den Protest von Günter Grass und Wolfdietrich Schnurre gegen den Bau der Berliner Mauer (an den Schriftstellerverband der DDR, 1961), die politische Situation in Persien (Ulrike Meinhof an Farah Diba, 1967), die Praxis der Asylgewährung in der Schweiz (Max Frisch an den Schweizerischen Bundesrat, 1974), den Fall Guillaume und den Rücktritt des Bundeskanzlers Willy Brandt (Martin Walser an Erich Honecker, 1974), die Ausbürgerung Wolf Biermanns aus der DDR (Sarah Kirsch u.a. an die Staatsführung der DDR, 1976; Anna Seghers an Christa Wolf, 1979), Rechtsextremismus nach der Wiedervereinigung (Ralph Giordano an Bundeskanzler Helmut Kohl, 1992) und schließlich im 21. Jahrhundert um den »Krieg gegen den Terrorismus« (Matthias Altenburg an Präsident George W. Bush, 2002), Martin Walsers Roman Tod eines Kritikers (Frank Schirrmacher an Martin Walser, 2002) und das politische Konzept der Bundeskanzlerin Angela Merkel (2005).

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Merkmale der Textsorte offener Brief

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Welche Merkmale kennzeichnen einen offenen Brief und begründen diese Bezeichnung? Erstens gehören offene Briefe als spezielle Textsorte grundsätzlich zur Gattung Brief. Ein einzelner oder auch ein kollektiver Absender wendet sich mit einem Brief auf dem Postweg bzw. seit einigen Jahren auch über das Internet an einen zumeist individuellen, selten kollektiven Adressaten, wobei die Namen der Beteiligten unverschlüsselt mitgeteilt werden. Auch in Bezug auf Formalia wie Anrede, Datum, Adressen, Grußformel, persönliche Wendungen weichen offene Briefe in der Regel nicht von der Form des Privatbriefs ab.

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Hinzu kommt zweitens das, was einen offenen Brief ausmacht, seine Veröffentlichung in einem Massenmedium, zumeist einer Zeitung oder Zeitschrift sowie im Internet; in früheren Jahrhunderten wurden offene Brief als Flugblätter oder -schriften verbreitet. Als drittes Merkmal offener Briefe ist ihr Gegenstand oder Anlass zu nennen, dem die Verfasser stets ein allgemeines öffentliches Interesse zuschreiben. Dabei handelt es sich zumeist um politische, kulturelle und religiöse Themen, die zur Zeit der Abfassung des Briefs in der jeweiligen Bezugsgesellschaft aktuell sind, kontrovers diskutiert werden und noch nicht definitiv entschieden worden sind. Daraus folgt viertens, dass die Empfänger – zumeist Politiker, politische Entscheidungsgremien oder Repräsentanten von Institutionen – Personen der Zeitgeschichte sind, die durch den Brief zu einer eindeutigen Stellungnahme zu dem jeweiligen Problem – nach Möglichkeit im Sinne des Verfassers – veranlasst werden sollen. Dieser Rahmen zeitgeschichtlicher Aktualität verschafft den offenen Briefen und ihren Autoren, z.B. Schriftstellern, Intellektuellen, Wissenschaftlern und Politikern, aber auch Bürgern, die sich in projektbezogenen Initiativen organisiert haben, mediale Aufmerksamkeit und häufig auch soziale Anerkennung. Aus dieser Konfiguration ergibt sich fünftens eine präzise und einheitliche Funktionsbestimmung dieser Textsorte, die in ihrer Wirkungsorientierung besteht: von einer bestimmten, explizit mitgeteilten interessengebundenen Position aus soll der Brief mit einem Lösungsvorschlag in den Konflikt eingreifen oder einen latenten Konflikt manifest machen und die gewünschte Lösung unterstützen. Gesetzt wird auf den Druck der Öffentlichkeit, der die kritisierte Seite zum Einlenken veranlassen soll. Im Zusammenhang der normativen Ausrichtung der Briefe spielt häufig die Opposition von neu und alt eine wichtige Rolle: entweder soll das Alte, die bestehende Ordnung erhalten werden oder es soll mit dem Neuen ein Ursprung, ein Anfang als gerechte Lösung wiederhergestellt werden. Die erste Variante findet sich z.B. im Protest von Grass und Schnurre gegen den Bau der Berliner Mauer oder in der Argumentation Theodor Lessings an von Hindenburg für den Erhalt demokratischer Strukturen, die zweite im »Sendbrief« Luthers, im Brief Wegners an den amerikanischen Präsidenten Wilson zur Armenierfrage oder in Max Frischs Brief an den Bundesrat in Bern zur Praxis der Asylgewährung.

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Zur kommunikativen Funktion der Textsorte
offener Brief

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Damit dies gelingen kann, stellen die Verfasser ihre Position gleichsam als natürliche und ihre Interessen als die der Gesamtgesellschaft dar. Zwar benutzen sie die Ich- oder Wir-Form, geben aber vor, stellvertretend ›im Namen von‹ zu sprechen. Der kommunikative Gestus des offenen Briefs erfordert es, dass die Verfasser sich selbst in der Rolle eines Repräsentanten inszenieren, der tendenziell für die gesamte Öffentlichkeit oder für eine Gruppe Betroffener spricht. So kann der offene Brief als Mischform privater und öffentlicher Kommunikation gelten, der zwar seiner Form nach an einen namentlich genannten Empfänger als den ›expliziten Adressaten‹ gerichtet ist, obwohl seine kommunikative Funktion auf die mitlesende Öffentlichkeit als ›impliziter Adressat‹ berechnet ist. So macht sich Louise Otto zum Sprachrohr der benachteiligten Frauen aus der Unterschicht, Martin Luther vertritt die Position derer, die sich vom Absolutheitsanspruch der katholischen Kirche abwenden, Gerhart Hauptmann spricht im Namen aller Deutschen. Auf diese Weise soll die Zustimmung der Öffentlichkeit zum Lösungsangebot des offenen Briefs erreicht werden, dieser soll Betroffenheit über die drohende Entscheidung und deren irreparable Folgen für alle auslösen. Im Allgemeinen zeigen offene Briefe folgende Funktionssequenz: sie informieren über einen Handlungskomplex, kommentieren die beteiligten Interessen, argumentieren für ein bestimmtes Lösungsangebot und appellieren für dessen Akzeptanz an die Öffentlichkeit. Ob ein offener Brief Erfolg gehabt hat, ist an der Geltung des Autors / der Autorin im jeweiligen (Erinnerungs-) System (›Nestbeschmutzer‹ oder konstruktive ›Wächterrolle‹), den Anschlusshandlungen (z.B. weitere offene Briefe, Demonstrationen, Streiks, Artikel in den Medien) und daran abzulesen, ob die gewünschte Lösung akzeptiert worden ist. Auf jeden Fall gilt, dass es für diese Textsorte grundsätzlich konstitutiv ist, das Soziale hervorzubringen, sei es z.B. in Form eines Diskurszusammenhangs oder der Bildung einer Interessengruppe.

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Weil es die Textsorte offener Brief – von Ausnahmen abgesehen – geradezu auszeichnet, Partei zu ergreifen, ist ihre argumentative Struktur in der Regel eine ausschließende des ›entweder oder‹, nicht eine einschließende des ›sowohl als auch‹. Offene Briefe sollen zunächst nicht harmonisieren, sondern polarisieren, was sich im Gebrauch der entsprechenden rhetorischen Mittel (z.B. rhetorische Fragen, begriffliche und personelle Oppositionen, direkte Wendung an den Adressaten, Imperative und Appelle) niederschlägt. Wer einen offenen Brief schreibt, hat nichts zu verbergen und bleibt deshalb vom politischen Streit um Briefgeheimnis und Datenschutz, um informationelle Selbstbestimmung und den gläsernen Bürger, um Vorratsdatenspeicherung und den Zugriff auf private Computer unberührt. Dennoch kann er vor juristischen oder politischen Sanktionen nicht sicher sein. So wird Pape von den siegreichen Preußen verurteilt, Theodor Lessing von Nationalsozialisten ermordet.

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Zur historischen Funktion offener Briefe

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Den Auftakt der Sammlung bildet der »Sendbrief Martin Luthers an Papst Leo X.« von 1520, der schon in die Hauptphase der Reformation führt. Luther, der zu dieser Zeit gebannt und exkommuniziert ist, wie der Kommentar mitteilt, rechtfertigt sich in diesem umfangreichen Text gegen Verleumdungen aus der kirchlichen Hierarchie, dass er den Papst angegriffen habe und kritisiert seinerseits die luxuriöse und wenig christliche Hofhaltung des »römischen Stuhls«: dieser »sei ärger und schändlicher, denn je kein Sodom, Gomorra oder Babylon gewesen ist« (S. 21). Dabei ist er aber auffällig bestrebt, Person und Amt des Papstes selbst möglichst wenig anzugreifen und zu beschädigen, sondern – er nennt sich dessen »Freund und Untertan« (S. 30) – ihn als Opfer seiner ›römischen‹ Umgebung darzustellen. »Es ist ja dein Ruf und deines guten Lebens Name in aller Welt berufen, durch viele Hochgelehrte herrlicher und besser gepriesen, denn dass es jemand könnte mit einiger List antasten« (S. 20). Auf diese Weise isoliert Luther den Papst von seinen Ratgebern, die er als die »unchristlichen Schmeichler« (S. 19) und »süßen Ohrensinger« (S. 28) kritisiert, die weder den Papst noch die Öffentlichkeit über den Papst zutreffend informierten und dadurch Unordnung, Unruhe und Missverständnisse stifteten. Wenn der Papst nicht zum unchristlichen »römischen Hof« gehört, ist er frei für eine neue christliche Position, nämlich Luthers. Mehrmals wendet dieser sich im imperativen Sprechgestus an den Papst: »Laß mich hier, Heiliger Vater, meine Sache auch einmal vor dir verhandeln und dir deine rechten Feinde verklagen.« (S. 25; vgl. S. 21 u. 28) Luther scheint sich als Repräsentant der ganzen Christenheit zum Anwalt des Papstes gegen dessen Mitarbeiter zu machen. Indirekt wirft er dem Papst mit diesem Verfahren allerdings vor, sich mit inkompetenten Ratgebern umgeben zu haben. Mit dieser scheinbar auf Ausgleich mit dem Papst zielenden Argumentation hat Luther die explizite Mitteilung seiner eigenen Position vorbereitet, die nun als Formulierung des ›natürlichen‹ Standorts erscheint, ablesbar an der Subjektverschiebung von »ich« zu »das Wort Gottes«.

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Daß ich aber sollte widerrufen meine Lehre, da wird nichts draus, darf’s sich auch niemand vornehmen, er wollte denn die Sache noch in ein größeres Gewirre treiben; dazu kann ich nicht leiden Regeln oder Maße, die Schrift auszulegen, dieweil das Wort Gottes, das alle Freiheit lehret, nicht soll, noch muß gefangen sein. (S. 28)
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Als zentrale kommunikative Funktion dieses »Sendbriefs«, die für die Textsorte offener Brief zu verallgemeinern ist, zeigt sich die wertbezogene Selbstpräsentation oder besser die Selbstinszenierung. Offene Briefe sind programmatische Texte, für deren öffentliche Wirkung die Dimension des Bekenntnisses konstitutiv ist. Denn mindestens so wichtig wie der Druck auf den Adressaten ist für den Autor des Briefs die Möglichkeit, die Aufmerksamkeit anderer für die eigene Position zu gewinnen. Prioritär für den Verfasser des Briefs ist die Aussicht, ›symbolisches‹ und wohl auch ›soziales Kapital‹ (Pierre Bourdieu) generieren zu können.

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Damit diese Wirkung erreicht wird und der Brief eine bestimmte Position mit dem Anspruch der Mehrheitsfähigkeit zur Entscheidung zuspitzen kann, ohne sprachlich zu verletzen, sind die Texte in der Regel stilistisch-strategisch je nach Adressaten angelegt. So fordern Grass und Schnurre ihre Kollegen in der DDR nicht nur zur Antwort auf ihren offenen Brief gegen den Bau der Berliner Mauer auf, sondern sie geben die ›entweder-oder-Struktur‹ der Antwort schon vor.

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Wir fordern Sie auf, unseren offenen Brief zu beantworten, indem Sie entweder die Maßnahmen Ihrer Regierung gutheißen oder den Rechtsbruch verurteilen. Es gibt keine ›Innere Emigration‹, auch zwischen 1933 und 1945 hat es keine gegeben. Wer schweigt, wird schuldig. (S. 179)
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Auch lassen die beiden eine ausweichende Antwort nicht gelten. »Es komme später keiner und sage, er sei immer gegen die gewaltsame Schließung der Grenzen gewesen, aber man habe ihn nicht zu Wort kommen lassen.« (S. 178)

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Offene Briefe können nach dem Modell des Übergangsrituals 3 analysiert werden. Indem ein Verfasser sich in Bezug auf den Konfliktgegenstand und den Konfliktpartner in bestimmter Weise exponiert, löst er sich nicht nur individuell von bisher für möglich gehaltenen Harmonisierungen, sondern kündigt diese geradezu auf (Ablösungsphase, rite de séparation). Die Jahrhunderte geltende Einheit der christlichen Kirche ist – das zeigt Luthers Brief – in mehrere Positionen aufgelöst, die mit offenem Ausgang um ihre Legitimität streiten. In dieser Übergangsphase (rite de marge) zwischen der alten Einheit und einer noch offenen neuen Ordnung geht es um die Aushandlung einer Lösung. Ist eine neue Ordnung (rite d’ agrégation) gefunden und der Konflikt entschieden, dann hat der offene Brief seine pragmatische Funktion verloren und ist zu einem historischen Dokument geworden.

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So können offene Briefe geradezu als Markierungen von Übergangs- und Aushandlungsphasen gelten, als Texte, die auf die Möglichkeit sozialer, kultureller, religiöser oder politischer Dynamik verweisen und diese zugleich hervorrufen. Ihre Veröffentlichungen sind performative Handlungen: Indem sie publiziert werden, bewirken sie die intendierte Wirklichkeit, von der sie sprechen. Wortbedeutung und Handlungssituation gehören zusammen: Louise Otto präsentiert sich im Text als »schwaches Weib« (S. 70); die Tatsache aber, dass sie ihren Brief veröffentlichen kann, zeigt sie als politisch bewusste, kämpferisch eingestellte Frau, die sich zu einer – ihrer Einschätzung nach – notwendigen sozialen Veränderung bekennt. Ohne Berücksichtigung des historischen Handlungskontexts sind offene Briefe nicht angemessen zu beurteilen.

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In der Tat macht gerade dieser Brief ein weiteres Funktionsmerkmal offener Briefe sichtbar: Es handelt sich aus einer authentischen Perspektive ›von unten‹ um Schlaglichter auf Defizite historisch-kultureller Situationen. Diagnostiziert wird ein Status der Unordnung, der in Ordnung transformiert werden soll. So haben offene Briefe ihren historischen Ort vor dem Ereignis und vor dem anerkannten Geschichtsbild, sie zeigen, wie Geschichte gemacht wird. Werden sie in einer späteren Gegenwart wieder gelesen, so dynamisieren sie die Geschichte, machen Alternativen sowie verfehlte wie erfolglose Möglichkeiten sichtbar und weisen insgesamt auf die ›Kosten‹ des anerkannten Geschichtsbilds hin.

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Hinzu kommt, dass in offenen Briefen fallspezifische Traditionen erfunden werden. Um die Überzeugungskraft der eigenen Position zu erhöhen, berufen sich die Autoren auf Vorläufer und historische Ereignisse. So versucht Luther seine Kirchenkritik mit dem Hinweis auf eine ähnliche Konstellation zwischen dem Heiligen Bernhard (ca. 1090–1153) und Papst Eugen III. zu legitimieren; damit er wenigstens vom Bundesrat angehört werde, beruft sich Heinrich Heine auf das Heilige Römische Reich, das dieses Recht allgemein eingeräumt habe und auf Luther, der davon profitiert habe. Theodor Lessing stützt sich in seinem Plädoyer für die Wahrheit gegen die Macht auf Herodot, Friedrich den Großen und als Negativbeispiel auf Kaiser Wilhelm II. Auf diese Weise erhält der Gestus des Sprechens ›im Namen von‹ auch eine historische Dimension. Daher vermeiden die Autoren offener Briefe in der Regel, ihre Einmischung als Präzedenzfall erscheinen zu lassen.

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Offene Briefe bieten sich als jederzeit mögliche Publikationsform gerade für jene an, die über kein institutionell legitimiertes Forum verfügen, um am öffentlichen Diskurs teilzunehmen. Wer einen solchen Brief veröffentlicht, schreibt sich als Zeitzeuge in die allgemeine, die regionale, lokale oder eine Fachgeschichte ein. Daher gibt es kein festgelegtes Themenspektrum offener Briefe. Ihr Referenzregister wie ihre Gestaltungsform ist prinzipiell offen und beliebig, jede kulturelle Konstellation kann durch eine Thematisierung im offenen Brief zum Gegenstand einer Übergangs- und Aushandlungsperspektive dynamisiert werden. Die Textsorte ist einsetzbar für sämtliche Formen der Ehrung und der Kritik. Nicht festgelegt sind auch die Bezeichnungen für diese Textsorte. Luther nennt seine Aufrufe »Sendbriefe« (S. 19) oder ›Sendschreiben‹, Pape veröffentlicht eine »offenherzige Zuschrift« (S. 58), Louise Otto richtet eine »Adresse« (S. 70) an den Minister, andere benutzen die Kennzeichnung offener Brief oder schreiben nur »an die Deutschen« (Merkel, S. 254) oder »an den Präsidenten George W. Bush« (Altenburg, S. 238).

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Ob offene Briefe von offiziellen Stellen bearbeitet oder gar zensiert worden sind oder unverstellt die Position des Autors wiedergeben können, hängt von dem jeweiligen politischen System und seiner Öffentlichkeitsstruktur ab. In einigen Staaten sind offene Briefe wegen ihrer kritischen kommunikativen Funktionen nicht zugelassen.

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Weil die Textsammlung es ermöglicht, Geschichte von unten, von den Ereignissen her zu betrachten, Konflikt- und Ideengeschichte am ›Fall‹ zu betreiben, weil Prominente und historische Personen aus nicht harmonisierter Perspektive zu sehen sind, weil die Texte überdies Fach- und Institutionsgeschichten erschließen, gehört der Band in jede Schul- und Seminarbibliothek.

 
 

Anmerkungen

Vgl. Burckhard Dücker: Der Fragmentenstreit als Produktionsform neuen Wissens. Zur kulturellen Funktion und rituellen Struktur von Skandalen. In: Jürgen Stenzel / Roman Lach (Hg.): Lessings Skandale. Tübingen: Niemeyer 2005, S. 21–47.   zurück
Vgl. Ernst-Peter Wieckenberg: Johann Melchior Goeze. Hamburg: Ellert & Richter 2007.   zurück
Vgl. Arnold van Gennep: Übergangsriten. (Les rites de passage). Frankfurt, New York: Campus 1999.   zurück