IASLonline

Cave musicam? Carpe musicam!

Nicola Gess’ brillantes Buch
über die »Gewalt der Musik um 1800«

  • Nicola Gess: Gewalt der Musik. Literatur und Musikkritik um 1800. (Berliner Kulturwissenschaft 1) Freiburg/Br.: Rombach 2006. 385 S. Broschiert. EUR (D) 48,00.
    ISBN: 3-7930-9450-2.
[1] 

Homers Sirenen singen Rossinis Koloraturen

[2] 

»›Cave musicam‹«, schreibt Friedrich Nietzsche in der Vorrede seines Buches Menschliches, Allzumenschliches, und auf den ersten Blick scheint es, als sei ihm die Musik nach dem Muster ›cave canem‹ auf den sprichwörtlichen lateinischen Hund gekommen: auch sie also einer jener triebhaften »Hunde im Souterrain«, 1 unter denen Nietzsche gelitten hat. Dafür spricht jedenfalls die ausdrücklich sexuelle Begründung seines Musik-Verdikts:

[3] 
Cave musicam‹ ist auch heute noch mein Rath an Alle, die Manns genug sind, um in Dingen des Geistes auf Reinlichkeit zu halten; solche Musik entnervt, erweicht, verweiblicht, ihr ›Ewig-Weibliches‹ zieht uns – hinab! 2
[4] 

Das ist auf Wagner gemünzt, und das ist so bitter wie ironisch. Denn Wagner, dem »Verführer großen Stils«, 3 konnte Nietzsche selbst nie widerstehen – nicht einmal in den Tagen seiner schlimmsten Anti-Wagner-Tiraden. 4

[5] 

Die Vorgeschichte dieser Double-bind-haften Verstrickung in die Musik entfaltet Nicola Gess in ihrem Buch Gewalt der Musik. Literatur und Musikkritik um 1800. Dabei zeigt sich, dass die Sattelzeit – also die fünfzig Jahre von der Etablierung einer wissenschaftlichen Anthropologie in den 1770er Jahren bis zur Spätromantik in den 1820er Jahren – den Schlüssel zu einem Verständnis liefert, wie das 19. Jahrhundert die uralte Topik von der gefährlichen Musik aktualisiert und schließlich ans 20. Jahrhundert weitervermittelt: Gegen Ende des 19. Jahrhunderts kleiden sich Homers Sirenen in Kundrys Gewand, zum Beginn des Jahrhunderts singen sie Rossinis Koloraturen. Oder sie stoßen in Spontinis Fanfaren – und zum Gehörschutz gegen diese schwere musikalische Artillerie hilft auch Odysseus’ Wachs nicht mehr. 5 Dafür ist Spontinis Musik, ähnlich wie die in den Tanz-Clubs von heute, ganz einfach zu laut.

[6] 

Drei Arten von ›Gewalt der Musik‹

[7] 

Drei Arten von »›Gewalt der Musik‹« unterscheidet Nicola Gess. Die erste ist die in kantischer Terminologie »›angenehme‹ Musik, die dem Hörer große sinnliche Lust bereitet«. Ihre Gewalt besteht »darin, dass Musik den Hörer unwillkürlich in einen Zustand versetzt, in dem er von seinen ›Triebfedern‹ (Kant) bestimmt wird« und dadurch »seine Moral« verliert (S. 15).

[8] 

Die zweite ›Gewalt der Musik‹ wirkt nicht auf die Sinne, sondern auf die Einbildungskraft, indem sie diese – ebenfalls »unwillkürlich« – »zur Produktion gestaltloser und sinnlich-sinnleerer Bilderfolgen anregt«. Die Musik setzt so »die Kontrolle der Einbildungskraft durch den Verstand außer Kraft«. Das kann, wieder in Kants Terminologie, zu einer »doppelten ›Verrückung‹« führen, nämlich zu »Unsinn und Wahnsinn« (ebd.).

[9] 

Die dritte ›Gewalt der Musik‹ schließlich betrifft die »erhabene Musik, die den Hörer körperlich und emotional überwältigt«. Sie stößt nicht – wie die ersten beiden Arten – »einen Vorgang an, der zur Bedrohung wird«, sondern ist in ihrer Wirkung selbst schon bedrohlich: Der Hörer hat hier »seine Autonomie an die Musik als eine äußere Macht verloren« (ebd.).

[10] 

Diese drei Konzepte der ›Gewalt der Musik‹ liegen dem Buch von Nicola Gess und seiner Gliederung zugrunde. Ihnen gilt je eines der vier Hauptkapitel, während das erste auf knapp vierzig Seiten den »Hintergrund und philosophische[n] Rahmen« der Arbeit umreißt (vgl. S. 23–62).

[11] 

Theorie und Methodologie

[12] 

Das ist auch nötig. Denn wie sich bis hierher schon gezeigt hat, handelt es sich um eine konzeptuell ausgesprochen anspruchsvolle Arbeit, die den Leser von der ersten bis zur letzten Seite, mit Hegel gesagt, zur »Anstrengung des Begriffs« 6 zwingt. Und das wiederum heißt vor allem: zur Auseinandersetzung mit Kants Theorie des Erhabenen (vgl. S. 243–246, 261–265, 344–346), aber auch mit Pseudo-Longinus (S. 247–249), Burke (S. 249–252) und Schiller (S. 265–268).

[13] 

Dabei ist die vom Leser geforderte Anstrengung paradoxerweise ausgerechnet deshalb besonders groß, weil die konzeptuelle Darstellung der Verfasserin so klar, präzise und dicht ist, wie man es sich nur wünschen kann. Gerade deshalb aber macht die Verfasserin in ihren Ausführungen nicht vor der Benennung von Widersprüchen und Mehrfachkonnotierungen halt. Auf diese Weise entsteht vor den Augen des Lesers ein konzeptionelles Gebäude, dessen Struktur bis in die feinsten statischen Streben seines logischen Skeletts sichtbar ist und das doch gleichzeitig aufgrund der konzeptuellen Verwindungen leise zu ächzen scheint – wobei die logischen Torsionsmomente sowohl aus inneren Widersprüchen resultieren wie aus historisch schiefen äußeren Anbauten, etwa Schillers Anschluss an Kants Theorie des Erhabenen (vgl. S.  267 f.).

[14] 

Bei all dem ergeben sich die konzeptuelle Komplexität und Spannung so gut wie ausschließlich aus dem historischen Material; sie werden nicht von außen an den Untersuchungsgegenstand herangetragen – etwa in Form komplizierter Literatur- und Medientheorien. Im Gegenteil: Nur selten gibt es ausdrücklich theoretische oder methodologische Erläuterungen. Meist tauchen sie en passant auf, so zum Beispiel die »methodische Reflexion« zur Frage, ob »eine angemessene von einer unangemessenen Rezeption« zu unterscheiden ist (S. 75 f., ähnlich S. 20). Man könnte also sagen, dass die hier besprochene Arbeit ihre Methode nicht predigt, sondern stattdessen einfach praktiziert. 7

[15] 

Umgang mit der Forschung

[16] 

Dagegen ist im vorliegenden Fall nichts einzuwenden. Denn die Darstellung ist zwar zurückhaltend mit Auskünften über ihre eigene Methode, dennoch fühlt man sich als Leser nie unzureichend informiert. Im Gegenteil: Es ist geradezu eine Freude, in einer Dissertation medias in res mit Ausführungen zur Sache zu starten, anstatt sich wie üblich erst einmal durch den methodologischen Endmoränenschotter zu quälen, den die – mittlerweile großenteils abgeschmolzenen – theoretischen Gletscher der letzten Jahrzehnte hinterlassen haben. Dass man dennoch nie das Gefühl hat, in luftiger Höhe den sicheren Weg unter den Füßen zu verlieren, liegt nicht nur an der souveränen Darstellung, sondern auch an ihrer Fundierung in der Forschung.

[17] 

Die Art, wie Nicola Gess über die Sekundärliteratur zu ihrem Thema verfügt, ›beeindruckend‹ zu nennen, wäre eine Untertreibung. Sie ist idealtypisch. Eingangs nennt die Verfasserin die für ihre eigene Darstellung grundlegenden Arbeiten von Corina Caduff, Christine Lubkoll, Bettine Menke und Barbara Naumann, um dann die eigene Fragestellung knapp, präzise und vollkommen überzeugend davon abzugrenzen (vgl. S. 12–14.). Immer sauber argumentierend, im Ton nie polemisch, widerspricht die Verfasserin im Verlaufe ihres Buches mancher Forschungsthese – aber nur, wenn sie diskussionswürdig ist (vgl. S. 114, 208, 209, 246, 311, 324.). Denn was der Sache nach irrelevant ist, wird gar nicht erst erwähnt. So kommt es, dass der Fußnotenapparat – obwohl keineswegs besonders schlank – vollkommen schlackenfrei ist. Man kann diesen Mut zum Weglassen des Überflüssigen gar nicht genug loben. Das gilt ganz besonders mit Blick auf das Genre ›Dissertation‹, das ja zu einem Vollständigkeitswahn neigt, der häufig bloß das Deckmäntelchen für den melancholischen Trieb ist, 8 der eigenen Dissertation all das einzuverleiben, was man zufällig einmal gelesen und exzerpiert hat.

[18] 

Was zitiert wird, ist also einschlägig. Außerdem dokumentiert es in seiner enormen disziplinären wie interdisziplinären Breite den von der Verfasserin erhobenen Anspruch, einen Beitrag zur »Intermedialitätsforschung« zu leisten (S. 14).

[19] 

Musik, diskursiv und ›real‹

[20] 

Wenn es in Kleists Heiliger Cäcilie von ein paar jungen Männern heißt, dass es »wohl die Gewalt der Töne gewesen sein« könne, die ihr »Gemüt […] zerstört und verwirrt habe«  (S. 11) – hatten dann die Menschen früher tatsächlich Angst vor der Musik? Keine Frage: Es gibt einen »literarischen Topos« der ›Gewalt der Musik‹, der sich in den Texten um 1800 hundertfach nachweisen lässt. Aber, fragt Nicola Gess, handelt es sich dabei »um bloße Fiktion« oder um eine damals »real empfundene Bedrohung« (ebd.)? Mit dieser Frage grenzt sich die Verfasserin von Caduff, Lubkoll, Menke und Naumann ab, die alle eine im weitesten Sinne poetologische Fragestellung verfolgen, sich jedoch für lebensweltliche Umstände nicht interessieren:

[21] 
Lubkolls, Menkes und Caduffs ausgezeichnete Arbeiten sind grundlegend für jede weitere Beschäftigung mit dem Thema Musik und Literatur um 1800. Sie weisen jedoch einen entscheidenden Mangel auf […]: Sie beziehen Musikkritik und Musik der Zeit nicht in ihre Untersuchungen ein […] [und tendieren deshalb dazu, der] thematisierten Musikerfahrung als Musikerfahrung und Musik als Musik nicht gerecht zu werden. (S. 12 f.)
[22] 

Diesen Mangel will die Verfasserin beheben, indem sie »nicht nur literarische und ästhetische, sondern auch musikkritische Texte und damit die Musikrezeption der Zeit« sowie »konkrete Musikbeispiele« analysiert (S. 13 f.). So gesehen lässt sich die Arbeit wohl als historische Diskursanalyse mit Exkursen in die Begriffs- und Sachgeschichte bezeichnen. 9 Dass eine solche Analyse auch in ihren sachgeschichtlichen Partien nie zur ›Musik, wie sie vor zweihundert Jahren wirklich war‹, durchdringen kann, versteht sich von selbst (vgl. hierzu S. 20). 10 Und doch vermitteln Nicola Gess’ Analysen gerade da, wo sie nach Art des New Historicism Kontextualisierungen mit außerliterarischem Material vornehmen, eine Anschauung vergangener Musikerfahrung, wie sie die im vorigen Zitat genannten poetologisch orientierten Arbeiten nicht bieten. Das gilt zum Beispiel für die faszinierenden Ausführungen zur Lautstärke, die weiter unten noch zur Sprache kommen werden. Davor steht jedoch die Anstrengung der Begriffe in der Auseinandersetzung mit dem Subjekt und dem Erhabenen.

[23] 

Subjekt in Gefahr:
pädagogisch, philosophisch, zeichentheoretisch

[24] 

Wie Musik auf ihre Hörer wirkt und ob man diese Wirkung fürchten muss oder – zum Beispiel für pädagogische Zwecke – nutzen kann, wird seit der Antike diskutiert (vgl. S. 23–33). Mal war man optimistisch, mal skeptisch, mal beides zugleich – so wie Platon zum Beispiel (vgl. S. 23 f.). In der Aufklärung war man zunächst optimistisch. »Bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts«, so Nicola Gess, war man überzeugt, Musik »kontrollieren zu können, indem man sie für medizinische, pädagogische und religiöse Zwecke funktionalisierte, wissenschaftlich erklärte und Komposition und Rezeption strikt reglementierte« (S. 16 f., vgl. zum Folgenden S. 16–18 und 34–41). In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts schwindet jedoch diese Überzeugung: »Die Wirkung von Musik auf den Körper, die Einbildungskraft und die Emotionen wird nun zunehmend als Bedrohung erfahren«.

[25] 

Dafür gibt es eine Reihe von Gründen. So verdrängt etwa im musikästhetischen Diskurs der Sturm und Drang die überkommene musikalische Rhetorik mit ihrer Affektenlehre. Doch während sich auf diese Weise ein radikaler Subjektivismus etabliert, der noch das Irrationale theoretisch legitimiert, bildet sich gleichzeitig jene zivilisatorisch-ökonomische Trieb- und Affektkontrolle heraus, die Max Weber, Norbert Elias und Michel Foucault beschrieben haben; in seiner Schrift Über Pädagogik spricht Kant vom »freiwilligen Gehorsam« (vgl. S. 39–41, S. 47). Dieser Widerstreit zwischen einem im Genie-Gedanken begründeten, ungebändigten Freiheitsstreben einerseits und einer im Erziehungsprozess internalisierten bürgerlichen Selbstdisziplinierung (vgl. S. 47–49) andererseits hat sich literarisch im Bildungsroman niedergeschlagen, philosophisch in der Autonomie- und Freiheitsphilosophie Kants. Beiden ist die Musik ein Dorn im Auge.

[26] 

Warum aber steht gerade die Musik im Verdacht, die Heranbildung des Menschen zu einem autonomen und freien Subjekt zu gefährden? Drei Argumente lassen sich nennen. Das wichtigste ist wohl: Musik wirkt »unwillkürlich auf den Hörer«.

[27] 

Diese Unwillkürlichkeit, die vor dem Aufkommen des Autonomieideals noch als pädagogisches Instrument geschätzt wurde, wird nun zum Problem. Denn ein auf seine Autonomie bedachtes Subjekt darf sich nicht durch äußere Einflüsse bestimmen lassen. (S. 18)

[28] 

Das ist auch der Grund, warum die anti-aufklärerische Romantik jene »›Wiederverzauberung‹ der aufgeklärten Welt« durch die Musik zum Programm erhebt (S. 18), die Goethe im Wilhelm Meister durch den Tod Mignons und des Harfners – zumindest in Novalis’ Augen – 11 gewaltsam unterbindet.

[29] 

Doch so klar es ist, dass die Musik wirkt, so unklar ist es, wie: Ist die Musik eine bloß materielle Kunst, die nur an die Sinne der Hörer appelliert? Oder im Gegenteil reine Form, die sich an Vernunft und Verstand wendet (vgl. S. 61)? Oder doch beides zugleich? Offenbar unterläuft die Musik die Dichotomie ›Vernunft und Verstand versus Sinnlichkeit‹. Das wiederum mag aus romantischer Perspektive eine Versöhnung dieser beiden Vermögen sein – aus der Perspektive Kants jedoch handelt es sich um einen schweren ontologischen Systemfehler. Das ist das zweite Argument, warum Musik gefährlich ist – hier mit Blick auf Kants philosophische Auffassung vom Subjekt (vgl. S. 18 f.).

[30] 

Drittens schließlich verführt die Musik zu einer poetologischen Schwärmerei, die sich am Ende nicht nur gegen die Literatur, sondern gegen die Sprache insgesamt und damit gegen das Prinzip der Rationalität überhaupt richtet. Denn Musik ist zwar kein Zeichensystem wie die Sprache und erlaubt daher auch keine verständliche Kommunikation, wird aber doch immer wieder – nicht nur von den Romantikern, sondern zum Beispiel auch von Rousseau – für eine irgendwie bessere Sprache gehalten:

[31] 
[Musik wird] instrumentalisiert für die Sehnsucht nach einem vorsymbolischen Zustand, in dem die Trennung der Welt in Zeichen und Bezeichnetes noch nicht erfolgt ist, und nach einer Sprache, die diese Trennung aufheben kann […]. Für die Literatur handelt es sich […] um eine Angstvorstellung: Die wirkungsmächtige Musik droht ihr den Rang abzulaufen. (S. 22)
[32] 

Darauf antwortet die Literatur mit einer doppelten Strategie: Zum einen, argumentiert Nicola Gess, setzt sie den Topos der ›Gewalt der Musik‹ in die Welt, um sie damit »vor dem Leser zu diskreditieren«. Gleichzeitig »geht es aber auch um eine Wunschvorstellung: Anhand von Musik wird eine Wirkungsmacht imaginiert, die die Literatur selbst gerne hätte«. Daher »dient die imaginierte Musik dem literarischen Medium als [wirkungsästhetisches] Modell« (S. 22).

[33] 

Kants Theorie des Erhabenen

[34] 

Der zuletzt genannte Double-bind zeigt einmal mehr, wie kompliziert und widersprüchlich das Zuschreibungssystem ist, das um den Topos der ›Gewalt der Musik‹ herum errichtet ist. Doch geschickt bekommt Nicola Gess diese Widersprüche in den Griff, indem sie sie unter den Begriff des ›Erhabenen‹ subsumiert. Das mag auf den ersten Blick modisch wirken, zählt doch das Erhabene seit den 1980er Jahren zu den unentbehrlichen begrifflichen Zutaten der poststrukturalistisch-dekonstruktiv verfeinerten Kleist-mit-Kant-Philologie. Allerdings zeigt schon das Unterkapitel »Kant, das autonome Subjekt und die Sinnlichkeit« (S. 42–62), dass hier nicht mit konzeptuellem Fertig-Fond gekocht wird, sondern mit den besten Originalzutaten – und das so überzeugend, dicht und präzise, dass man sich die lehrbuchmäßige Darstellung für die Verwendung im Seminar vormerken möchte.

[35] 

Knapp und klar entwirft die Verfasserin Kants Theorie von einer »Sinnenwelt«, in der der Mensch »›leidend‹ ist«, und einer »Verstandeswelt«, in der er »der Erscheinungswelt enthoben und nur den in der Vernunft gegründeten Gesetzen unterworfen« ist, das heißt »frei, autonom und sittlich« (S. 44). Der Mensch soll also – darin liegt Kant zufolge seine »›innere Vollkommenheit‹« – seine Sinnlichkeit unterdrücken, damit sie nicht »›Herrscherin‹«, sondern »›Dienerin des Verstandes‹« ist (S. 50 f.). Dabei tut sich der Mensch jedoch insofern schwer, als die Sinnlichkeit nicht nur die korrumpierende Verführungsmacht des Angenehmen kennt – Kant nennt Alkohol, Roman-Lesen und spätes Schlafengehen (S. 55) –, sondern auch dermaßen invasive Reize, dass der Mensch ihnen passiv und wehrlos ausgesetzt ist. Für diese Reize findet Kant »bezeichnenderweise akustische Beispiele« (S. 51). Schließlich kann man willentlich die Augen, nicht aber die Ohren verschließen – da hilft nur, wenn überhaupt, Wachs. Daher Kants Klage über musizierende Nachbarn, deren Musik sich »aufdringt« und »mithin der Freiheit anderer […] Abbruch tut« (S. 71).

[36] 

Genau dieses unwillkürliche Ausgeliefertsein an die Sinnlichkeit, die Gefahr, plötzlich ihr Opfer zu werden, unterläuft – sei’s als sinnenkitzelnde Lust, sei’s als furchterregende Unlust – Kants Vorstellung von einer freien und uninteressierten ästhetischen Lust, die sich nicht auf den Gegenstand bezieht, »an dem die Erfahrung des Schönen gemacht wird, sondern auf diese Erfahrung selbst als eine des ›freien Spiels‹ der Erkenntnisvermögen« (S. 57). Darauf antwortet Kant mit seiner Theorie des Erhabenen. Sie stellt sicher, dass am Ende doch wieder der Geist die Kontrolle über die Sinnlichkeit erlangt. Zu diesem Zwecke verwandelt – um nicht zu sagen: sublimiert – Kants Theorie sinnliche Unlust in geistige Lust.

[37] 
[H]ier steht die Autonomie des Subjekts auf dem Spiel […]. Es gilt, sich mittels der Vernunft über die äußere Macht und die eigene Unlust zu erheben und keine Furcht zu empfinden. Die eigentümliche Lust rührt dann von diesem Sieg her, und als erhaben erweist sich nicht [wie in den vor-kantischen Theorien des Erhabenen] die äußere Macht, sondern die Vernunft des Menschen. (S. 245)
[38] 

Wie beim Schönen verortet Kant also auch beim Erhabenen die Lust, die man erfährt, im nicht-sinnlichen Erkenntnisvermögen. Darin unterscheidet sich Kant von den Theorien seiner Vorgänger, die im Erhabenen nicht nur physisch Furcht und Schrecken, sondern auch eine sinnliche »Lust in der Unlust« am Werke sahen (S. 245) – wenn man so will: einen Nervenkitzel.

[39] 

Rossinis verführerische Nervenkunst

[40] 

Mit den Nerven ist neben der Musik das zweite Phänomen benannt, dessen Studium um 1800 darauf abzielt, die entstehende empirische Anthropologie mit der zeitgenössischen kantischen Subjekt-Philosophie in Einklang zu bringen. Und so lautet, salopp gesagt, der Haupteinwand gegen die in den 1810er und 1820er Jahren überaus populären Opern Gioacchino Rossinis, dass sie den Zuhörern buchstäblich auf die Nerven gehen: »Rossini sey ein wahrer Mörder; er wisse mehr als vierzig Anfälle von nervösen Gehirnkrankheiten und Convulsionen bei jungen leidenschaftlichen Musikliebhaberinnen«, zitiert der Rossini-Biograph Amadeus Wendt einen zeitgenössischen Arzt (S. 67).

[41] 

Hier kommt zweierlei zusammen. Zum einen projiziert die Musikkritik die ältesten musikalischen Topoi auf die Musik Rossinis: Auch sie ist, wie es im Jahr 1830 in einer Semiramide-Rezension der Zeitschrift Iris heißt, ein »›Sirenengesang‹« (S. 65); in christlicher Terminologie heißt das: Sie verführt zum »›Sündenfall‹« (S. 67). Zum anderen werden diese uralten Musik-Klischees in die zeitgenössische Nerventheorie gekleidet, um so die unmittelbar-›unwillkürliche‹ Wirkung der Musik zu erklären. Grundlage dieser Nerventheorie, bei der die Nerven mal zum Körper gehören, mal zur Seele und mal zwischen beiden Instanzen vermitteln, ist die Vorstellung von Resonanz (vgl. S. 124 f., 157, 254–256). So heißt es bei Kant in der Kritik der Urteilskraft, Musik wirke auf den Körper, »indem die ›Zitterungen‹ der Luft ›die elastischen Teile unsers Körpers‹ in Schwingungen versetzen« (S. 68). Ähnlich soll sie auch auf die Seele wirken. Johann Nicolaus Forkel zum Beispiel schreibt in seiner Allgemeinen Geschichte der Musik, »die leidenschaftlichen Vorstellungen der Seele« seien »mit gewissen Bewegungen im Nervensystem verbunden«:

[42] 
Da nun die Erschütterungen des Nervensystems durch nichts so mächtig bewirkt werden können als durch Töne, so erklärt sich […] die Kraft und Gewalt hinlänglich, welche schon einzelne Töne auf das Herz des Menschen haben können. (S. 69)
[43] 

Wenn aber schon »einzelne Töne« über »Kraft und Gewalt« verfügen, wie steht es dann erst mit Rossinis Bravour-Arien, zum Beispiel Tancredis Di tanti palpiti oder Semiramides Bel raggio lusinghier? Natürlich umso bedrohlicher, und daher bekämpften Musikkritiker wie Ludwig Rellstab Rossinis Opern mit allen publizistischen Mitteln. Dabei führen Rellstab und andere auch nationalistische Argumente ins Feld – deutsche Musik ist angeblich tief, italienische oberflächlich und auf Effekte bedacht (vgl. hierzu S. 73 f.).

[44] 

Dass sich bei Rossini tatsächlich – wenn auch nicht pejorativ – von einer Oberflächenästhetik sprechen lässt, zeigt Nicola Gess im Anschluss an eine These von Carl Dahlhaus in zwei Analysen der gerade genannten Arien (S. 75–91). Hier demonstriert die Verfasserin, wie souverän sie das Handwerk von Musikbeschreibung und -analyse beherrscht. Und nicht nur das: Sie schlägt daraus auch hermeneutisch Kapital – etwa in der Lektüre, wie Semiramide ihren Sohn Arsace »durch ihre Koloraturen [verführt]« (S. 87–90).

[45] 

Eine hermeneutisch glückliche Hand zeigt Nicola Gess außerdem in ihren Ausführungen zu der Sängerin Henriette Sontag, die 1825 in Berlin die Italienerin in Algier sang und damit ein »›Sontag-Fieber‹« auslöste (S. 93), in dessen diskursiven Fieberschüben die Berliner Musikkritik die Sängerin zur Personifikation der verführerisch-gefährlichen Musik stilisierte (vgl. S. 92–104).

[46] 

Irrgärten mit und ohne Ariadne-Faden:
Beethoven und Carl Philipp Emanuel Bach

[47] 

Die hier umrissenen Ausführungen zu Rossini bilden die Eingangshälfte des Hauptkapitels zur ersten oben genannten ›Gewalt der Musik‹, das den Titel »Hör-Lust oder Die musikalische Verführung« trägt. Die zweite Hälfte dieses Kapitels nehmen Lektüren zu Heinse, Jean Paul, Wackenroder und Eichendorff ein, die immer wieder um die Musik und die Nerven kreisen. Jede dieser Lektüren bringt Neues und überzeugt.

[48] 

Das folgende Hauptkapitel befasst sich mit der zweiten oben genannten ›Gewalt der Musik‹ und ihren Folgen für die Einbildungskraft. Im Zentrum stehen dabei Carl Philipp Emanuel Bachs Freie Phantasien und die Gefahr, der sich der zeitgenössischen Musikkritik zufolge ihre Hörer aussetzen. Wieder liefert Kant mit seiner Kritik der Urteilskraft das theoretische Rüstzeug. Gefährlich ist die »›fantastisch‹« genannte Musik dann, wenn sich die Hörer »in einem unendlichen Strom flüchtiger, heterogener, unbestimmter Bilder« verlieren und schließlich aus diesen »arabeske[n] Irrgärten der Phantasie« nicht mehr hinausfinden (S. 239) – und so im Irrenhaus landen (vgl. S. 187).

[49] 

Ist der Begriff der ›Arabeske‹ also vor 1800 noch klar negativ konnotiert – in einer Erzählung von Friedrich Rochlitz tragen die Tapeten im Irrenhaus arabeske Muster (vgl. S. 187) –, erheben die Frühromantiker um Friedrich Schlegel den Begriff der ›Arabeske‹ zum ästhetischen Ideal (vgl. S. 204–206). Deshalb kann die Musikkritik das, was sie Carl Philipp Emanuel Bach vorgeworfen hat, wenig später mit Blick auf Beethovens »›fantastische[]‹ Musikstücke[]« (S. 187) sogar loben (vgl. S. 239): nämlich dass man mit ihm, Beethoven, »dem großen Seelenmaler«, auf »fremden, nie betretenen Wegen […] durch labyrinthische Krümmungen wandel[t]« – allerdings unter der Bedingung, dass man dabei »gleichsam an Ariadnes Faden« unterwegs ist und deshalb aus dem Labyrinth sicher wieder herausfinden wird (S. 203). Wandelt man jedoch »in einem herrlichen Labyrinthe […][,] ohne den Faden in die ruhige Heimat wieder zu finden«, dann ist auch Beethovens Musik zu kritisieren (S. 202) – läuft man dann doch Gefahr, das gleiche Schicksal zu erleiden wie E.T.A. Hoffmanns Kapellmeister Johannes Kreisler, der allerdings gar kein Interesse daran hat, den Irrgarten der Musik wieder zu verlassen (vgl. S. 206). Ähnlich geht es der Figur des Florio in Eichendorffs Marmorbild (vgl. S. 222–228).

[50] 

Laut, aber unlauter: Spontinis Erhabenheit

[51] 

Das letzte Hauptkapitel von Nicola Gess’ Buch beginnt mit den oben schon erwähnten Ausführungen zum ›Erhabenen‹ bei Longinus, Burke, Kant und Schiller. Diese Darstellung soll die These verständlich machen, dass in den Musikkritiken der Zeit um 1800

[52] 
[…] untergründig ein Konflikt [schwelt], den man als einen zwischen einem vorkantischen und einem nachkantischen Erhabenen bezeichnen könnte: das Erhabene (in) der Musik als gewaltsame Überwältigung des Hörers auf der einen, das Erhabene als gewaltsamer Widerstand ›unserer übersinnlichen Natur‹ gegen eine solche Überwältigung auf der anderen Seite. (S. 245)
[53] 

Diese These veranschaulicht die Verfasserin an der »deutsche[n] Spontini-Rezeption von 1815 bis 1830« (S. 277). Bezeichnend dafür ist Heinrich Heines Spott über Gaspare Spontinis »›schallenden Bombast‹«. Über seine Oper Olimpia schreibt Heine:

[54] 
An Pauken und Posaunen war kein Mangel, so daß ein Witzling den Vorschlag machte, im Neuen Schauspielhause die Haltbarkeit der Mauern durch die Musik dieser Oper zu probieren. […] Ganz Berlin witzelte über die vielen Posaunen und über den großen Elefanten in den Prachtaufzügen dieser Oper. Die Tauben […] versicherten, daß sie diese schöne dicke Musik mit den Händen fühlen konnten. (S. 279)
[55] 

In der Tat muss Spontinis Olimpia den Zeitgenossen unerhört und auch bis dato ungehört laut vorgekommen sein. Denn nicht nur ist sie mit »›26–36 Trompeten‹« und »›mindestens 24 Violinen, 10 Bratschen, 8–10 Celli und 6–7 Kontrabässe[n]‹« auch nach heutigen Wagner-Maßstäben mehr als üppig besetzt, und nicht nur produziert diese Besetzung gelegentlich Fortissimi, die volle 36 Takte anhalten (S. 285 f.). Vor allem erreicht die Oper Olimpia Lautstärken »von ca. 108 bis 118 Phon«, die auch für heutige Ohren nahe an die »Schmerzgrenze« heranreichen (S. 289 f.). Man muss sich klar machen, was das für Menschen bedeutet haben muss, die noch wie »die Berliner Zeitgenossen Spontinis in einer relativ leisen Welt lebten«: einer vorindustriellen Welt, in der der lauteste Klang, an den die Menschen gewöhnt waren, derjenige der Kirchenglocken und des Schmiedehammers war (S. 290 f.). Kein Wunder, dass es über Spontinis Opern hieß, ihre Lautstärke sei »›nicht zum Aushalten‹« und müsse »›allgemeine Taubheit nach sich ziehen‹« (S. 290).

[56] 

Doch nicht nur akustisch setzt Spontini auf körperliche Überwältigung, sondern auch haptisch und sogar olfaktorisch. Das zeigt Nicola Gess in einer eleganten Lektüre der Olimpia-Bühnenbilder, die Karl Friedrich Schinkel entworfen hatte (vgl. S. 301–305). Die Krone setzt der zum synästhetischen ›Gesamtkunstwerk‹ tendierenden Oper schließlich der Einsatz von Duftstoffen auf, den die Partitur vorschreibt – und tatsächlich gibt es einen zeitgenössischen Bericht, nach dem »›zwanzig zugleich flammende, Opferweihrauch verbreitende Altäre‹ auf der Bühne standen« (S. 307). Es liegt auf der Hand, dass eine solche massive Publikums-Überwältigung nach den kunsttheoretischen Maßstäben Kants und Schillers alles andere als akzeptabel ist: vielleicht laut, aber keinesfalls ästhetisch lauter.

[57] 

Negromantische Glasharmonika,
Rückkehr des verdrängten Körpers: Hoffmann und Kleist

[58] 

Das hier besprochene Buch schließt mit Unterkapiteln zu Hoffmann und Kleist. Mit Blick auf Hoffmann geht es um den animalischen Magnetismus und seine Affinität zur Musik – kein Zufall, dass Franz Anton Mesmer bei seinen negromantischen Sitzungen die Glasharmonika spielte, ein Instrument, das im Rufe stand, ganz besonders gefährlich für die seelische Gesundheit zu sein (vgl. S. 318).

[59] 

Nicht gefahrbringend, sondern zunächst einmal -bannend wirkt die Musik in Kleists Erzählung Die heilige Cäcilie oder die Gewalt der Musik (Eine Legende) – hält doch ihre überwältigende Wirkung die Brüder davon ab, den geplanten Bildersturm in die Tat umzusetzen. Dennoch liegt hier nicht einfach ein Rückfall ins vor-kantische Erhabene der körperlichen Überwältigung vor (vgl. S. 346). Eher, argumentiert Nicola Gess, lässt sich Kleists Erzählung als Kritik oder sogar Karikatur der oben schon umrissenen kantisch-aufklärerischen Körperfeindlichkeit lesen. Denn dreiundzwanzig Stunden am Tag leben die Brüder ein so gut wie leibloses Leben, das dann allerdings um Mitternacht für eine Stunde in sein krasses Gegenteil umschlägt: Die Brüder durchbrechen den aufklärerisch-»repressiven kulturellen Habitus« der Körperdisziplinierung (S. 353). Sie »regredieren zu wilden Tieren« (S. 348) – und erst jetzt wird auch die Musik gewalttätig, indem sie Mauern erschüttert und Fensterscheiben zerstört: »Die Persönlichkeit der Brüder zerfällt […] in zwei Hälften – Geist und Körper –, und sie bleiben für den Rest ihres Lebens unfähig, diese Seiten miteinander zu vermitteln« (S. 348). Kleists Heilige Cäcilie, so das Fazit, zeigt also, worauf die von der Aufklärung geforderte »Autoaggression des zivilisierten Menschen« gegen die eigene Leiblichkeit hinausläuft: »Seine Gewalt kehrt als Attribut des Verdrängten zurück […], Musik verzerrt sich zu Gebrüll – Kultur verkehrt sich in bedrohliche Raubtiernatur« (S. 354).

[60] 

Resümee

[61] 

Was soll man abschließend über das hier besprochene Buch sagen? Man könnte sagen: Es ist ähnlich zwingend wie die Musik, von der es handelt – und dabei ergibt sich seine Überzeugungskraft ganz allein aus dem »eigentümlich zwanglosen Zwang des besseren Argumentes«. 12 Die nüchterne Klarheit und kühle Präzision der Darstellung sind überragend, ebenso die Vielzahl von starken Thesen. Das Buch benutzt keinerlei Jargon – auch nicht in Rudimenten –, und es enthält keine einzige Floskel oder Leerphrase – und das in einem Themenfeld, auf dem traditionell besonders viele gefühlvolle Stilblüten gepflückt werden.

[62] 

Beeindruckend sind die musikalischen Analysen, die hier nicht Selbstzweck sind, sondern der Interpretation dienen. Beeindruckend sind der angloamerikanisch-unprätentiöse Stil der in Berlin und Princeton eingereichten Dissertation, die philologische Sauberkeit und perfekte Transparenz. Beeindruckend ist die Leichtigkeit, mit der die Verfasserin ihren Anspruch der »Intermedialitätsforschung« (S. 14) einlöst. Und besonders beeindruckend ist die sagenhafte Kenntnis einschlägiger Forschungsliteratur, aus deren Tiefen – manchmal deutlich jenseits der systematisch-bibliografischen Erreichbarkeit – die Verfasserin schöpft. So sieht vorbildliche Kulturwissenschaft aus.

[63] 

Wollte man unbedingt etwas kritisieren, dann könnte man vielleicht monieren, dass die Verfasserin im »Ausblick« auf »die weitere Entwicklung des Topos der ›Gewalt der Musik‹ im 19. und frühen 20. Jahrhundert« ausführlich auf Hesse eingeht, nicht aber auf Thomas Mann, dessen Doktor Faustus nicht einmal erwähnt wird. Andererseits gibt es eine Fußnote zu Thomas Mann (vgl. S. 357), die begründet, warum seine Vorstellung von Musik und fataler »›deutsche[r] Innerlichkeit‹« »problematisch« ist – möglicherweise ist der Doktor Faustus deshalb ausgespart.

[64] 

Im Übrigen gilt: Man kann nicht alles sagen – und auf 385 Seiten nicht mehr, als es die Verfasserin in ihrem Buch tut. So gehört es zu den besten Arbeiten zum Thema ›Musik und Literatur‹ überhaupt – in seinem spezifisch historischen Erkenntniswert und seiner konzeptuellen Klarheit ist es vielleicht sogar die neue Referenz.

[65] 

Nietzsche war nicht der erste und nicht der letzte, der Angst vor der Musik hatte, und mit seiner Polemik gegen Wagner lag er ganz auf der Linie dessen, was die Kritiker zu Beginn des Jahrhunderts gegen Rossini vorgebracht hatten. In einem Punkt jedoch lag Nietzsche falsch – da war er wohl einem Gerücht Homers auf den Leim gegangen. Nicht ›Cave musicam‹ muss es heißen, sondern ›Carpe musicam‹. Denn Sirenen, die singen, beißen nicht.

 
 

Anmerkungen

Thomas Mann an Otto Grautoff, 17. Februar 1896. In: Thomas Mann: Briefe an Otto Grautoff 1894–1901 und Ida Boy-Ed 1903–1928. Hg. von Peter de Mendelssohn. Frankfurt/M. 1975, S. 67–70, S. 68. Thomas Mann zitiert hier Nietzsches Schrift Zur Genealogie der Moral, in deren Dritter Abhandlung: Was bedeuten asketische Ideale?, Nr. 8, es heißt: »Ruhe in allen Souterrains; alle Hunde hübsch an die Kette gelegt«. Friedrich Nietzsche: Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift. In: ders.: Sämtliche Werke. Hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. München 1988, Bd. 5, S. 245–412, S. 352.   zurück
Friedrich Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister. Zweiter Band. In: ebd., Bd. 2, S. 367–704, S. 373. Nicola Gess verwendet dieses Nietzsche-Zitat als Motto (vgl. S. 111).   zurück
Friedrich Nietzsche: Der Fall Wagner. In: ebd., Bd. 6, S. 9–53, S. 42.   zurück
In Ecco homo nennt Nietzsche »Wagner den grossen Wolthäter meines Lebens«, und noch in Nietzsche contra Wagner heißt es: »Denn ich hatte Niemanden gehabt als Richard Wagner …« Friedrich Nietzsche: Ecce homo. In: ebd., S. 255–374, S. 290, und ders.: Nietzsche contra Wagner. In: ebd., S. 413–445, S. 432.   zurück
Zu Odysseus’ Sirenen-Episode und ihrer Interpretation durch Theodor W. Adorno und Max Horkheimer vgl. S. 144 und 148 f.   zurück
Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes. Neu hg. von Hans-Friedrich Wessels und Heinrich Clairmont. Mit einer Einleitung von Wolfgang Bonsiepen. Hamburg 1988, S. 43.   zurück
Damit ist auf Paul de Mans Dekonstruktions-Bonmot angespielt, »daß der Text nicht praktiziert, was er predigt«. Gar nichts oder möglichst wenig zu predigen, wäre also eine Strategie, Widersprüche zu vermeiden. Paul de Man: Semiologie und Rhetorik. In: ders.: Allegorien des Lesens. Frankfurt/M. 1988, S. 30–51, S. 45. Den Ausdruck ›dekonstruieren‹ verwendet Nicola Gess gelegentlich, vgl. z.B. S. 326: E.T.A. Hoffmann »dekonstruiert« einen »Dualismus«.   zurück
»Es war uns gelungen, das schmerzhafte Leiden der Melancholie durch die Annahme aufzuklären, daß ein verlorenes Objekt im Ich wiederaufgerichtet, also eine Objektbesetzung durch eine Identifizierung abgelöst wird[]. Damals erkannten wir aber noch nicht die ganze Bedeutung dieses Vorganges und wußten nicht, wie häufig und typisch er ist. Wir haben seither verstanden, daß solche Ersetzung einen großen Anteil an der Gestaltung des Ichs hat und wesentlich dazu beiträgt, das herzustellen, was man seinen Charakter heißt[].« Das gilt wohl auch für wissenschaftliche Arbeiten. Sigmund Freud: Das Ich und das Über-Ich (Ichideal). In: ders.: Psychologie des Unbewußten. Hg. von Alexander Mitscherlich, Angela Richards und James Strachey. Frankfurt/M. 1975 (= Studienausgabe, Bd. III), S. 296–306, S. 296.   zurück
Vgl. zum Verhältnis von Begriffs- und Sachgeschichte Hans Ulrich Gumbrecht: Pyramiden des Geistes. Über den schnellen Aufstieg, die unsichtbaren Dimensionen und das plötzliche Abebben der begriffsgeschichtlichen Bewegung. In: ders.: Dimensionen und Grenzen der Begriffsgeschichte. München 2006, S. 7–36.   zurück
10 
Die Verfasserin schreibt: »Der Topos der ›Gewalt der Musik‹ hat […] seine Basis in der musikalischen Realität der Zeit […]: in der Musik und in den musikkritischen Texten, die eine real empfundene Bedrohung durch Musik widerspiegeln. Doch sind diese Texte mehr als eine Repräsentation außertextueller Wirklichkeit. Dies gilt […] auch in dem Sinne, dass die ›Gewalt der Musik‹ lediglich in Form von Texten existiert. Das scheint eine banale Wahrheit zu sein, da ein Zugang zu historischen Gewalterfahrungen immer nur über mediale Vermittlung möglich ist. Aber sie ruft ins Bewusstsein, dass diese Texte eine ›Gewalt der Musik‹ nicht einfach nur abbilden, sondern kreieren oder mindestens inszenieren und hierfür auf rhetorische Mittel zurückgreifen. Literarischen Texten nähern sie sich insofern an, als sie explizit fiktionale Elemente einsetzen, sich literarischer Formen bedienen […] und literarische Topoi aufnehmen […]« (S. 20).   zurück
11 
In seiner Polemik gegen den Wilhelm Meister schreibt Novalis: »Wilhelm Meisters Lehrjahre sind gewissermaßen durchaus prosaisch – und modern. Das Romantische geht darin zu Grunde – auch die Naturpoesie, das Wunderbare«. Novalis: Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs, Dritter Band: Das philosophische Werk II. Hg. von Richard Samuel. Darmstadt 1968, S. 638. Der Begriff »romantisch« bezieht sich hier auf die beiden Musiker-Figuren des Romans, Mignon und den Harfner. Vgl. hierzu Klaus F. Gille: Die »Wilhelm-Meister«-Studien des Novalis. In: ders.: »Wilhelm Meister« im Urteil der Zeitgenossen. Ein Beitrag zur Wirkungsgeschichte. Assen 1971, S. 151–172.   zurück
12 
Jürgen Habermas: Wahrheitstheorien. In: ders.: Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns. Frankfurt/M. 1984, S. 127–183, S. 161.   zurück