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Was heißt: literaturwissenschaftliche Antisemitismusforschung?

  • Klaus-Michael Bogdal / Klaus Holz / Matthias N. Lorenz (Hg.): Literarischer Antisemitismus nach Auschwitz. Stuttgart, Weimar: J. B. Metzler 2007. VIII, 373 S. Kartoniert. EUR (D) 49,95.
    ISBN: 978-3-476-02240-0.
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Wenn eine wissenschaftliche Tagung in der überregionalen Presse eine derart breite Beachtung findet wie die Arbeitsgemeinschaft des Zentrums für Interdisziplinäre Forschung (ZIF) Bielefeld zum Thema »Literarischer Antisemitismus nach Auschwitz«, 1 so könnten böswillige Beobachter argwöhnen, dass die Forschung hier ein ›modisches‹ Thema gerade um der Aufmerksamkeit willen aufgegriffen habe. Das Gegenteil ist der Fall: Nach den aufgeregten Feuilletondebatten, vor allem um Martin Walsers Roman Tod eines Kritikers, nach ihren Zuspitzungen und Auswüchsen setzt der von den Tagungsleitern Klaus-Michael Bogdal, Klaus Holz und Matthias N. Lorenz verantwortete Tagungsband, der im Metzler-Verlag erschienen ist, unaufgeregt und mit wissenschaftlicher Akribie die interdisziplinären Bemühungen eines methodisch reflektierten Nachdenkens über den »literarischen Antisemitismus« fort. Selbsterklärtes Ziel des Bandes ist es, »den Literarischen Antisemitismus als ein literaturwissenschaftliches Forschungsgebiet abzustecken und in interdisziplinärer Kooperation mit der historischen und soziologischen Antisemitismusforschung Theorien, Methoden und Gegenstände zu diskutieren, um eine systematische Erforschung des Phänomens einzuleiten« (S.  4). Zu verstehen ist der Band so auch als Replik auf literaturwissenschaftliche Positionen, die dazu neigen, schon die Möglichkeit von antisemitischen Angeboten in ästhetischen Formationen zu negieren. 2

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Zur Konzeption des Bandes

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Die Tagungsdokumentation versammelt nicht weniger als zweiundzwanzig Beiträge, die in ihrer Themenvielfalt eindrucksvoll die Breite des Forschungsgebietes ausweisen: Auf den ein- und weiterführenden Forschungsüberblick von Klaus-Michael Bogdal folgen zwei überblicksartige Texte von Werner Bergmann und Klaus Holz, die Konturen des Antisemitismus nach 1945 aus geschichtswissenschaftlicher und soziologischer Perspektive beleuchten, sodann mehrere Beiträge, deren Fokus auf die Zeit vor 1945 gerichtet ist (von Mona Körte, Florian Krobb und Ruth Klüger). Zudem versammelt der Band Einzelstudien ausgewiesener AutorenInnen zu Thomas Mann, Luise Rinser und Kurt Ziesel, Hans Werner Richter, Günter Grass, Gerhard Zwerenz, Rainer Werner Fassbinder und Bernhard Schlink sowie mehrere Beiträge, die übergeordnete Phänomene des literarischen Antisemitismus nach 1945 in den Blick nehmen: die »libidinöse Besetzung ›des Juden‹ nach 1945« (Willi Jasper), »Spiegel- und Kippfiguren des Antisemitismus in deutschsprachiger Gegenwartsliteratur« (Norbert Otto Eke), die Konstruktion jüdischer Bühnenfiguren (Anat Feinberg) und schließlich die Grundzüge antisemitischer Kulturkritik von Wagner bis Walser (Andrea Geier).

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Abgerundet wird der Band durch einen Seitenblick auf den Antiziganismus (Michael Zimmerman), durch einen Essay des deutsch-jüdischen Schriftstellers Robert Schindel und die Dokumentation eines Podiumsgespräches mit Schindel und dem Berliner Antisemitismusforscher Wolfgang Benz. Insgesamt präsentiert der Sammelband ein ebenso durchdachtes wie gelungenes Arrangement, das durch die Zusammenschau von Texten zu übergeordneten, methodisch-systematischen Themenstellungen und Studien zu ausgewählten Texten und Autoren vor und nach 1945 besticht.

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Etwas aus dem Rahmen fallen allenfalls die Beiträge von Mark H. Gelber und Christina von Braun – beide als WissenschaftlerInnen ebenso namhaft wie für das Thema einschlägig –, deren Texte zum »Fall« Paul de Man und zu Mel Gibsons The Passion of the Christ (Gelber) sowie zu »Schrift und Oralität in der jüdischen und christlichen Religion« (Braun) aber einen allenfalls indirekten Bezug zum literarischen Antisemitismus nach Auschwitz erkennen lassen, so lesenswert gerade die Ausführungen von Christina von Braun zum differenten Verhältnis von Literalität und Oralität in den drei monotheistischen Religionen auch sind. Geradezu Ratlosigkeit macht sich nach der Lektüre des Beitrages »Bellow, Styron, Roth: Darstellung von Antisemitismus und seiner Beziehung zur deutschen Kultur-Geschichte in jüdischen und nichtjüdischen amerikanischen Romanen« von Arnold Heidsieck breit: Dessen kryptische Ausgangsthese, der amerikanische Roman der letzten dreißig Jahre habe »die vom Vortragstitel aufgerufene Beziehung aus nichteuropäischer Perspektive narrativ ausgearbeitet«, wird weder durch das – kaum minder kryptisch formulierte – Anliegen, »einsichtig (oder zumindest denkbar)« machen zu wollen, »dass die seit Kriegsende in Deutschland ausgetragene öffentliche Debatte zu ähnlichen Ergebnissen geführt hat«, noch durch die folgenden Ausführungen verständlicher.

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Der Sammelband teilt so das Schicksal vieler heterogener Tagungsdokumentationen – für das durchaus programmatisch zu verstehende Anliegen der Herausgeber, Konturen einer literaturwissenschaftlichen Antisemitismusforschung zu umreißen, wäre eine noch klarere konzeptionelle Fokussierung auf den Kerngegenstand des Bandes vielleicht förderlich gewesen. Dessen ungeachtet bietet der Band zum literarischen Antisemitismus nach 1945 eine Vielzahl von weiterführenden Beiträgen, die die Tagungsdokumentation zusammen genommen zugleich zu einem bislang konkurrenzlosen Studienbuch zum literarischen (Nachkriegs-)Antisemitismus werden lassen.

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Spezifika eines Antisemitismus nach Auschwitz

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Die von den Herausgebern im Vorwort völlig zu Recht betonte interdisziplinäre Ausrichtung der Antisemitismusforschung, zu der nicht zuletzt der Band als Ganzes beizutragen sucht, wird durch die einleitenden Beiträge des Historikers Werner Bergmann und des Soziologen Klaus Holz eindringlich unterstrichen. Bergmann, Autor einschlägiger Studien zum Nachkriegsantisemitismus, 3 umreißt in seinem Beitrag »›Störenfriede der Erinnerung‹. Zum Schuldabwehr-Antisemitismus in Deutschland« noch einmal souverän die Spezifika des Antisemitismus nach Auschwitz und macht dabei insbesondere den unauflösbaren Zusammenhang mit dem deutschen Erinnerungsdiskurs deutlich. Die erinnerungspolitischen Strategien der Aufrechnung (der Verweis auf eine vermeintliche Mitschuld der Opfer, die Konstruktion eines übergreifenden Opferkollektivs, der Rückgriff auf Begriffe wie den des »Tätervolkes« usw.) und die vielfältigen Spielarten der Erinnerungsverweigerung und -abwehr sind als elementare Bestandteile eines (schon von Theodor W. Adorno benannten) spezifischen Schuld-Abwehr-Antisemitismus zu verstehen, dessen Konturen nicht zuletzt die literarischen Imaginationen des ›Juden‹ nach 1945 nachhaltig geprägt haben.

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Ist es bei Bergmann vor allem diese thematische Brücke, die die geschichtswissenschaftliche Perspektive auch für die Analyse literarischer Texte fruchtbar werden lässt, wird im Beitrag von Klaus Holz zur »Paradoxie der Normalisierung« eine Antisemitismusforschung umrissen, die sich in ihrer Fokussierung auf »Texte« – im weitesten Sinne –, auf ihre Interpretation, Entschlüsselung, Re- und Dekonstruktion, als kulturwissenschaftliches Projekt verstehen ließe, in dem dann allerdings – wie von den Herausgebern im Vorwort unterstrichen – auch und gerade die Literaturwissenschaft eine nicht unwichtige Bedeutung besitzen müsste (die allerdings angesichts der Poetizität und Fiktionalität der von ihr meist untersuchten Texte zusätzlich vor anderen Problemen steht). Eindrucksvoll führt Holz aus der Perspektive des an Semantiken, an Selbst- und Fremdbildern interessierten Soziologen die Kontinuität einiger weniger zentraler Gegensatzpaare des Antisemitismus (Täter und Opfer, Gemeinschaft vs. Gesellschaft, Identität vs. nicht-identische Identität) im 19. wie im 20. Jahrhundert vor und demonstriert zugleich, wie fruchtbar das von ihm ausführlich in seiner Studie Nationaler Antisemitismus 4 entwickelte Analyseraster auch für die Bewertung eines artifiziellen Textes wie Martin Walsers Friedenspreisrede aus dem Jahr 1998 gemacht werden kann.

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Seine Überlegungen lassen zugleich die unterschiedlichen Perspektiven auf den Antisemitismus vor und nach 1945 erkennen, die Anlass zu weiteren systematischen Überlegungen böten: Während Bergmann gerade die Täter-Opfer-Umkehr als Spezifikum des Nachkriegsantisemitismus begreift, zeigt Holz auf, dass diese Figur durchaus bereits im 19. Jahrhundert aufzufinden ist, ja, dass die Unterscheidung von Tätern und Opfern eine für den Antisemitismus »unverzichtbare Konstruktion« (S. 39) ist.

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Einen aufschlussreichen und für das Phänomen des literarischen Antisemitismus nicht unwichtigen Dissens gibt es zwischen Holz und Christina von Braun: Während letztere gerade die »Beweglichkeit« und »Wandelbarkeit« antisemitischer Stereotype betont, 5 also ihre Fähigkeit, diametral entgegen gesetzte Zuschreibungen zu vereinen, geht Holz letztlich von einer Struktur aus, die auf die obigen, übergeordneten Gegensatzpaare zurückzuführen ist – dass diese unterschiedlichen Blicke auf den Antisemitismus gravierende Auswirkungen gerade für die Analyse ›unsicherer‹, fiktional und ästhetisch gebrochener Texte haben müssen, liegt auf der Hand: Die Analyse von antisemitischen Stereotypen – als erster Ansatzpunkt literaturwissenschaftlicher Antisemitismusforschung – wird mit zunehmender »Beweglichkeit« der Stereotype immer zweifelhafter; ginge man von einer weitreichenden Flexibilität derselben aus, ließe sich am Ende fast jede Judendarstellung als stereotype Aktualisierung verstehen, weil keine der Diversität des antisemitischen Bildervorrates entkommen könnte. Die von Holz isolierten semantischen Gegensatzpaare lenken demgegenüber den Blick auf die übergeordneten funktionalen Strukturen, als deren Teil die stereotypen Darstellungen fungieren – der divergente Blick auf die Struktur und Funktion des Antisemitismus zwischen von Braun und Holz macht aber zugleich noch einmal deutlich, dass eine alleinige Fokussierung auf stereotype ›Bilder von Juden‹ für die literaturwissenschaftliche Antisemitismusforschung kaum ein zufrieden stellendes Analyseverfahren sein kann.

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Systematische Überlegungen
zum literarischen Antisemitismus

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Neben der Bündelung wichtiger Forschungsbeiträge gehört es sicherlich zu den verdienstvollsten Leistungen des Tagungsbandes, dass an verschiedenen Stellen die systematischen Überlegungen und Forschungsperspektiven zum Phänomen des literarischen Antisemitismus voran getrieben werden: Welche eingestandenen methodischen Defizite weist die Forschung aus, in welche Richtung müsste sie sinnvollerweise weiterentwickelt werden?

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In einem ebenso bündelnden wie weiterführenden Problemaufriss resümiert der Mitherausgeber Klaus-Michael Bogdal in diesem Sinne noch einmal die Ergebnisse der bisherigen Forschungsanstrengungen und formuliert daran anknüpfend Bausteine zum Forschungsprogramm einer literaturwissenschaftlichen Antisemitismusforschung, die – so unterstreicht Bogdal eingangs eindrücklich – keinesfalls als »Gesinnungsprüfung« einer falsch verstandenen political correctness abqualifiziert werden dürfe. Gerade die zentrale Funktion von Literatur, »als ein Raum ernsthafter öffentlicher Kommunikation über das Unmögliche, Undenkbare und Unsagbare einer Gesellschaft« zu fungieren, zwinge zur kritischen Lektüre literarischer Texte und enthebe die Literaturwissenschaft nicht von der Pflicht, »über die Entstehung, die Mittel, die Formen und die Wirkung des Literarischen Antisemitismus aufzuklären« (S. 6). Von dieser Forschungsprämisse ausgehend, berührt Bogdals Beitrag drei zentrale Problemkreise zukünftiger Forschung:

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1. Wie zuvor Mona Körte 6 wendet sich auch Bogdal gegen isolierte motivgeschichtliche Betrachtungen, die die »wiederkehrenden und sich fortzeugenden antisemitischen Figuren und Narrative[ ]«, die »Serien der Stereotypen« schon als für sich stehende Evidenz missdeuten. Ziel müsse es vielmehr sein, in historischer Perspektive den »jeweiligen diskursiven Raum, in dem sie erschienen«, zu vermessen, ohne dabei den Charakter von literarischen Texten als »ästhetische Artefakte« aus den Augen zu verlieren. Nur mittels »vielschichtiger Gesamtanalysen« und am einzelnen Text ließen sich drei idealtypische Formen von literarischem Antisemitismus unterscheiden: »manifester, auch subjektiv intendierter Antisemitismus«; ein »fahrlässiger« Rekurs auf Stereotypen und schließlich »das bewusste, dekonstruierende (riskante) Spiel mit dem antisemitischen Sprach- und Wissensrepertoire« (S. 7).

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2. Stärker als bislang müsste bei den Identitätsangeboten und Wahrnehmungsschemata, die literarische Texte bereitstellten, zwischen Bildern der »Differenz« und der »Distanz« unterschieden werden. Völlig zu Recht insistiert Bogdal auf der Notwendigkeit, die ›Identitätspolitiken‹ von literarischen Judendarstellungen präzise zu bestimmen, um die Kluft zwischen einem Fremdheitsbild, das als interkulturelles Muster die Interdependenz von Fremden und Eigenen literarisch durchspielt einerseits und bedrohlichen Imaginationen der Juden als das schlechthin ›Andere‹ andererseits nicht einzuebnen.

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3. Unter Rekurs auf Barthes, Foucault und Bourdieu plädiert Bogdal schließlich für einen diskursanalytischen Ansatz in der Analyse von Antisemitismus, der dessen Ausprägung nach Auschwitz als »eine basale, tief in die Gesellschaft eingelassene Ordnungsstruktur«, als ein »Dispositiv« erkennbar werden lässt (S. 10). Dabei hinterfragt Bogdal implizit auch seine Ausgangsthese der drei verschiedenen Formen von literarischem Antisemitismus, die noch erkennbar von der Vorstellung einer Autorintentionalität geleitet war – durch den Rekurs auf Bourdieus Theorie der symbolischen Gewalt und den Einbezug diskurshistorischer Verfahren ließe sich nicht nur die weithin zu beobachtende Fokussierung auf den Autor und dessen möglicherweise antisemitische »Haltung« überwinden, sie ermöglichte es zugleich, »zu den diskursiven Formationen vorzudringen, die den Literarischen Antisemitismus mit seinem Repertoire an Bildern, Metaphern, Figuren, Narrationen« hervorbringen (S. 11).

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Die Frage nach dem Status des Autors ist, das macht die Lektüre des Bandes noch einmal deutlich, eine methodische Schlüsselfrage der literaturwissenschaftlichen Antisemitismusforschung. Mona Körte, deren Beitrag ihre an anderer Stelle vorgetragenen programmatischen Überlegungen fortschreibt, 7 unterstreicht noch einmal nachdrücklich, welchen komplexen literaturtheoretischen Problemen sich eine literaturwissenschaftliche Antisemitismusforschung zu stellen hätte, aber auch, wie schwierig es ist, übergreifende, von konkreten Texten abstrahierende Befunde zu formulieren. In der Autor-Frage lässt der Beitrag von Körte einen delikaten Mittelweg erkennbar werden, der den diskursiven Verstrickungen Rechnung tragen würde, um sich von der Autor-Zentrierung zu lösen, der aber, so Körte, zugleich der Gefahr entgehen müsste, Urheber antisemitischer literarischer Texte gänzlich »aus der Verantwortung zu entlassen« (S. 67).

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Matthias N. Lorenz spitzt diese von Körte angesprochene Problematik mit Blick auf die Fälle Fassbinder und Walser noch zu, indem er zumindest dort für eine Fokussierung auf den empirischen Autor plädiert, wo offenkundige Korrespondenzen zwischen literarischem und nichtliterarischem Werk dieses Autors vorliegen. In diesen Fällen verlöre das Literarische potentiell seinen spezifischen, mehrfach-codierten Kommunikationsstatus, was den Rekurs auf den Autor unausweichlich werden ließe und, so könnte man ergänzen, die literaturwissenschaftlichen Erkenntnisse anschlussfähiger für das Gesamtprojekt einer interdisziplinären Antisemitismusforschung werden ließe – wenn auch vielleicht um den Preis einer potentiellen Isolation innerhalb der eigenen Disziplin.

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Studien zu einzelnen Autoren

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Aus der Fülle der lesenswerten Einzelstudien seien – mit Mut zur Willkür – einige wenige herausgegriffen. Eine Brücke zu den vorgelagerten Studien zum Antisemitismus in der Literatur des 19. Jahrhunderts bildet die akribische Lektüre von Thomas Manns Spätwerk durch Yayha Elsaghe (»Wie soll man sie nennen? Thomas Manns Erzählwerk ›nach Auschwitz‹«), dessen Arbeiten zu Thomas Mann einen wichtigen Referenzpunkt für die Forschung zum literarischen Antisemitismus vor und nach Auschwitz darstellen. 8

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Am Anfang von Elsaghes Überlegungen steht ein gespenstischer Befund: Während jeder der von Thomas Mann in der Zeit vor dem Exil verfassten Romane und Novellenzyklen eine oder mehrere jüdische Figuren auftreten lässt, gebe es, so Elsaghe, in keinem der ›nach Auschwitz‹ verfassten Texte Thomas Manns auch nur eine einzige jüdische Figur (mit der gewichtigen Ausnahme des Doktor Faustus). Selbst und gerade bei im Werk Thomas Manns traditionell ›jüdisch‹ besetzten Berufen wie dem des Arztes werde von Thomas Mann – augenfällig in Der Betrogene – jeder noch so versteckte Anklang an die deutsch-jüdische Medizingeschichte konsequent getilgt. Diese »konsistente ›obliteration‹ alles Jüdischen« (S. 114) stünde, so Elsaghe, nicht nur beispielhaft für eine bis in die Gegenwartsliteratur reichende typisch deutsche Befangenheit, sondern reflektiere zugleich »auf unheimlich beredte Weise« den Genozid, allerdings indem sie ihn mimetisch wiederholte und damit »faktisch an der damnatio memoriae teilhabe, die ihm folgte.« (S. 114 f.)

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Markant zeigt sich dieser bedenkenswerte Umgang mit jüdischen Figuren im Doktor Faustus. Die Bruchlinie, die das Wissen um Auschwitz für den Roman markiert, wird nicht zuletzt in der Gestaltung und Nichtgestaltung jüdischer Figuren sichtbar: Während etwa die Arztfiguren der ersten Romanhälfte als Juden markiert, aber – dem bewährten mannschen Gestaltungsprinzip gehorchend – nicht als solche auch bezeichnet werden, liest Elsaghe das ›Fehlen‹ jüdischer Ärzte in der zweiten Romanhälfte und das Auftauchen explizit denotierter jüdischer Figuren (Saul Fitelberg, Chaim Breisacher, Kunigunde Rosenstiel) als Beleg eines Reflexionsprozesses, in dessen Verlauf die stereotypen Zuschreibungen zwar nicht gänzlich verschwinden, essentialistische Konstruktionen jüdischer Alterität aber potentiell überwunden werden.

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Mit Luise Rinser und Kurt Ziesel nimmt der Beitrag von Hans-Joachim Hahn gleich zwei, sehr unterschiedliche Autoren der bundesrepublikanischen Literatur der fünfziger Jahre in den Blick (»Lektüreschwierigkeiten mit dem ›Judenproblem‹ in der deutschen Nachkriegsliteratur: Luise Rinser und Kurt Ziesel«). Ausgehend von den mittlerweile schon fast klassisch anmutenden Überlegungen Ruth Klügers zum literarischen Nachkriegsantisemitismus 9 breitet Hahn eindrucksvolle Belege für die Notwendigkeit einer Relektüre des Werkes von Luise Rinser aus. Insbesondere der in der germanistischen Forschung bislang – so Hahn – weitgehend unkritisch als »anti-antisemitisch« rezipierten Erzählung Jan Lobel aus Warschau gelänge es nicht nur nicht, »Antisemitismus wirkungsvoll zu kritisieren« – durch einen »ungebrochenen Bezug auf eine antisemitische Bildlichkeit« in der Figurenzeichnung wie in der Textaussage schreibe sie sogar »im Gegenteil an einer Tradierung von literarischem Antisemitismus fort« (S. 139). Hahns anregende Überlegungen zu Rinser, die er durch Seitenblicke auf ihr Gesamtwerk stützt, verdienten es, an anderer Stelle näher ausgeführt zu werden. Konzeptionell hätte Hahns Beitrag vielleicht sogar gewonnen, wenn er auf den Annex zu Kurt Ziesels antisemitischen Roman Daniel in der Löwengrube verzichtet hätte, mit dessen Lektüre er an Stefan Buschs Studie zu NS-Autoren in der Bundesrepublik anknüpft. 10

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Der israelische Historiker Gilad Margalit unternimmt eine Relektüre von Günter Grass’ Novelle Im Krebsgang (»Grass und das jüdische Alter Ego«), die von einer bemerkenswerten Beobachtung ausgeht: In Grass’ Texten lasse sich seit den sechziger Jahren ein wiederkehrendes Muster auffinden, in dem jeweils ein junger Deutscher und ein junger Jude gegenübergestellt werden und das im Krebsgang über die Figuren Konny und Wolfgang / David prominent aktualisiert wird. Überzeugend zeigt Margalit, wie konform dieses Muster in Grass’ Werk gestaltet wird: Am Ende steht bei aller Kontrastierung immer die Einsicht einer inneren Verwandtschaft der Figuren, als ein generationelles Band der Opfererfahrung zwischen den Überlebenden der Ardennenoffensive und Theresienstadts Dieter und Ben in der Rede von der Gewöhnung, als Mittel der Schuldentlastung in den Hundejahren, schließlich als Parallelität von Neonazismus und (linker) Schuldobsession, von Anti- und Philosemitismus im Krebsgang.

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Margalit gelingt damit eine wegweisende Kontextualisierung der Novelle – umso bedauerlicher, dass seine Antworten auf die von ihm aufgeworfene Frage nach der Funktion dieses Musters insbesondere im Krebsgang weniger überzeugend ausfallen. Zu rasch löst sich Margalit von der komplexen erzählerischen Anlage des Textes, wenn er unumwunden konstatiert, mit der »Verwendung des parallelisierenden deutsch-jüdischen Musters« habe Grass »die Angleichung der Shoah und des Schicksals der Deutschen während des Krieges ermöglicht« und würde damit einer Versöhnung mit der Vergangenheit das Wort reden, die zumindest symbolisch auf Kosten der Juden gehe (S. 169). Diese zweifelsohne bedenkenswerte, wenn auch nicht ganz neue Schlussfolgerung sollte doch am Ende einer Analyse stehen, die nicht – wie die Margalits – allzu rasch von den Äußerungen einzelner Romanfiguren (insbesondere Tullas) auf die Intention des Autors Grass schließt. In diesen Punkten fällt der Beitrag Margalits hinter den Reflexionstand des Bandes zurück.

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Ein anderer, kaum minder umstrittener Protagonist der literarischen Erinnerungspolitik der neunziger Jahre steht mit Bernhard Schlink im Zentrum des Beitrages von Matthias N. Lorenz. Ausgehend von den Forschungsbefunden zum wirkungsmächtigen Phantasma der political beziehungsweise historical correctness belegt Lorenz überzeugend, wie die damit verknüpfte Vorstellung von Sprech- und / oder Denkverboten bei Schlink literarisch auf jüdische Instanzen projiziert wird, wie diese zum Menetekel einer erstarrten Gedenk- und Nationalkultur stilisiert werden, dessen Überwindung Auswege aus derselben verspräche. In einem schon in seiner viel beachteten Dissertation praktizierten Vorgehen 11 vermag Lorenz zu zeigen, dass es sich bei dieser erinnerungspolitischen Strategie dezidiert um ein Projekt auch des empirischen Autors Schlink handelt, dessen Konturen Lorenz in literarischen ebenso wie in essayistischen Texten sichtbar macht.

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Im Zentrum des Beitrages aber steht eine detaillierte Analyse von Schlinks Erzählung Die Beschneidung aus dem Erzählband Liebesfluchten. Textnah belegt Lorenz dabei, dass die Titel gebende »Beschneidung« in der Erzählung doppelt konnotiert ist: Auf der Ebene der erzählten Geschichte meint sie zunächst den Liebesbeweis des deutschen Protagonisten Andi im Rahmen einer scheiternden Liebesbeziehung zur amerikanischen Jüdin Sarah; als Bezeichnung des zentralen Konfliktes der Erzählung referiert die »Beschneidung« aber auf eine als gewaltsam und falsch dargestellte Selbstverleugnung Andis in seiner Beziehung zu Sarah, die ihm fortwährende Kompromisse abverlangt, und dessen Überwindung es ihm schlussendlich ermöglicht, seine ›eigene‹, von der jüdischen Perspektive gelöste Identität zu gewinnen. Der Andi der Erzählung muss sich genau so vom stereotyp gezeichneten jüdischen Gegenüber lösen, wie sich die Deutschen – so legt es der Essayist Schlink in Auf dem Eis nahe – in der Notwendigkeit eines »›Ruhenlassens‹ der Vergangenheit nicht von der konkurrierenden Erinnerung der Opfer stören lassen« dürften (S. 239), um einen historisierten, eigenständigen und vom Diktat der political correctness befreiten Blick auf ihre Geschichte zu gewinnen, der sich von dem, »was die andere Seite tut, anklagt und einklagt« 12 zu emanzipieren hat.

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Stärker auf Rezeptionsphänomene konzentriert sich Anat Feinberg in ihren äußerst lesenswerten »Überlegungen zur Konstruktion jüdischer Bühnenfiguren in Deutschland nach 1945«. Anhand der beiden paradigmatischen ›Bühnenjuden‹ Nathan und Shylock arbeitet Feinberg sehr genau heraus, wie beide Figuren in der Bundesrepublik geradezu zu Medien des deutsch-jüdischen Verhältnisses nach der Shoah wurden: Schon die erste Nathan-Inszenierung nach dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus von Fritz Wisten, mit der vier Monate nach Kriegsende zugleich das Deutsche Theater in Berlin wiedereröffnet wurde, besaß eine offensichtliche erinnerungspolitische Dimension, indem sie zwar, anders als spätere Aufführungen, auf eine ausdrückliche Versöhnung verzichtete, mit dem programmatischen Anknüpfen an Lessings Klassiker aber einen von Vernichtungspolitik und Holocaust ungetrübten »Neuanfang im Zeichen der Hoffnung signalisieren« sollte (S. 265).

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In den ersten Jahren nach 1945 waren es paradoxerweise gerade prominente jüdische Remigranten wie Ernst Deutsch, die dazu beitrugen, dass der Nathan zu einer wirkungsmächtigen, ebenso idealisierten wie a-historischen Judenfigur wurde, deren harmonisierender Charakter das historische Faktum des Judenmordes verdeckte. Der ›noble‹ Jude Nathan, der weder eine Auseinandersetzung mit dem Weiterwirken des Antisemitismus nach 1945 noch mit dem Holocaust erforderlich werden ließ, stellte ein jüdisches Modell zur Verfügung, »mit dem sich leben ließ« und das, so könnte man die Ausführungen Feinbergs vielleicht zuspitzen, als Surrogat der fehlenden realen Juden in der bundesrepublikanischen Gesellschaft fungierte. Feinbergs Beitrag kontrastiert die Nathan-Rezeption mit den Inszenierungen des Kaufmanns von Venedig und versteht Shylock und Nathan dabei als eine zusammenhänge, janusköpfige Doppelfigur des ›edlen‹ und ›bösen‹ Juden, deren jeweilige Konjunktur paradigmatisch auch für die Theatergeschichte der Bundesrepublik steht.

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Fazit

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Der von Klaus-Michael Bogdal, Klaus Holz und Matthias N. Lorenz herausgegebene Tagungsband wird für alle zukünftigen Forschungen nicht nur zum literarischen Antisemitismus nach Auschwitz einen zentralen Bezugspunkt darstellen; dies vor allem, weil er den Stand der Forschung nicht nur bündig zusammenfasst und wichtige Studien an einem zentralen Ort zusammenführt, sondern weil er zugleich als Etappenziel auf dem möglichen Weg zu einer literaturwissenschaftlichen Antisemitismusforschung zu verstehen ist. Wenn nach der Debatte um Martin Walsers Roman Tod eines Kritikers der Eindruck entstehen konnte, antisemitische Imaginationen in literarischen Texten seien fast ausschließlich ein Thema für das Feuilleton, so kann man jetzt beruhigt feststellen, dass die Frage endgültig in der literaturwissenschaftlichen Forschung angekommen ist.

 
 

Anmerkungen

Vgl. Richard Kämmerlings: Die Nachleser. In: FAZ, 6.2.2007, S. 37; Anja Hirsch: Deckmäntelchen Fiktion. Eine Tagung über »Literarischen Antisemitismus« in Bielefeld. In: FR, 6.2.2007; Thomas Assheuer: Antisemitismus in der Literatur. Alles nur ein Spiel?. In: Die Zeit, 8. Februar 2007, S. 43; vgl. auch den Tagungsbericht von Matthias Buschmeier auf H-Soz-u-Kult (04.04.2007). URL: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=1529&count=108&recno=17&sort=datum&order=down&search=antisemitismus (Datum des letzten Zugriffs: 29.04.2008).   zurück
Vgl. beispielhaft den Grundtenor des von Dieter Borchmeyer und Helmuth Kiesel herausgegebenen Sammelbandes Der Ernstfall. Martin Walsers »Tod eines Kritikers«. Hamburg: Hoffmann und Campe 2003.   zurück
Vgl. v.a. Werner Bergmann: Antisemitismus in öffentlichen Konflikten. Kollektives Lernen in der politischen Kultur der Bundesrepublik 1949–1989. Frankfurt/M., New York: Campus 1997.   zurück
Vgl. Klaus Holz: Nationaler Antisemitismus. Wissenssoziologie einer Weltanschauung. Hamburg: Hamburger Ed. 2001.   zurück
Vgl. auch Christina von Braun / Eva-Maria Ziege (Hg.): Das »bewegliche« Vorurteil. Aspekte des internationalen Antisemitismus. Würzburg: Königshausen & Neumann 2004.   zurück
Mona Körte: Das ›Bild des Juden in der Literatur‹. Berührungen und Grenzen von Literaturwissenschaft und Antisemitismusforschung. In: Jahrbuch für Antisemitismusforschung 7 (1998), S. 140–150; M.K.: ›Juden und deutsche Literatur‹. Zu den Erzeugungsregeln von Grenzziehungen in der Germanistik. In: M.K. / Werner Bergmann (Hg.): Antisemitismusforschung in den Wissenschaften. Berlin: Metropol 2004, S. 353–375.   zurück
Vgl. v.a. die in der vorigen Anmerkung genannten Titel.   zurück
Yayha Elsaghe: Die imaginäre Nation. Thomas Mann und das »Deutsche«. München: Fink 2000. Y.E.: Thomas Mann und die kleinen Unterschiede. Zur erzählerischen Imagination des Anderen. Köln, Wien: Böhlau 2004.   zurück
Vgl. Ruth Klüger: Gibt es ein ›Judenproblem‹ in der deutschen Nachkriegsliteratur? In: R.K.: Katastrophen. Über deutsche Literatur. Göttingen: Wallstein, S. 9–38.   zurück
10 
Vgl. Stefan Busch: »Und gestern, da hörte uns Deutschland« – NS-Autoren in der Bundesrepublik. Kontinuität und Diskontinuität bei Friedrich Griese, Werner Beumelburg, Eberhard Wolfgang Möller und Kurt Ziesel. Würzberg: Königshausen & Neumann 1998.   zurück
11 
Vgl. Matthias N. Lorenz: »Auschwitz drängt uns auf einen Fleck.« Judendarstellung und Auschwitzdiskurs bei Martin Walser. Stuttgart, Weimar: Metzler 2005.   zurück
12 
Bernhard Schlink: Die Gegenwart der Vergangenheit. In: B.S.: Vergangenheitsschuld und gegenwärtiges Recht. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2002; zit. n. Matthias N. Lorenz, S. 238.   zurück