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Wie Meeresschaum und grünes Schilf

Kierkegaard und die Modernität
des dänischen Biedermeier

  • Lasse Horne Kjældgaard: Sjælen efter døden. Guldalderens moderne gennembrud [Die Seele nach dem Tod. Der moderne Durchbruch des dänischen Guldalder]. Kopenhagen: Gyldendal 2007. 352 S. Kartoniert. DKK 325,00.
    ISBN: 978-87-02-04817-9.
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Ein dänischer Kierkegaard

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Søren Kierkegaard kann neben Hans Christian Andersen sicherlich als international bekanntester dänischer Autor bezeichnet werden. Merkwürdigerweise nimmt man ihn allerdings kaum als solchen wahr. Kierkegaard wird lediglich in Übersetzung gelesen, wobei ›Übersetzung‹ hier selbstverständlich nicht allein auf ein sprachliches Phänomen verweisen soll. Seine Schriften werden im besonderen Ausmaß durch Rezeptionskontexte gerahmt, welche durch den Versuch geprägt sind, den Namen Kierkegaard in unterschiedliche nationale Traditionszusammenhänge einzufügen.

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Dies gilt für den frühen ›deutschen‹ Kierkegaard, der von Carl Schmitt als Dezisionist, von Heidegger als Denker des Seins und von Adorno als bürgerlicher Ästhet vereinnahmt wurde, gleichermaßen wie für den ›französischen‹ Kierkegaard, der über Camus und Sartre als Wegbereiter des Existenzialismus in die Philosophiegeschichte einging. Auch jüngste französisch-amerikanische Versuche, Kierkegaard als Vorläufer des poststrukturalen Denkens von Wiederholung und Gabe zu inszenieren, tragen dazu bei, den unmittelbaren dänischen Kontext, in dem seine Schriften entstanden sind, zu vernachlässigen.

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Angesichts dieses Umstandes verwundert es nicht, dass es sich das in Kopenhagen beheimatete Søren Kierkegaard Forskningscenteret seit einigen Jahren zur Aufgabe gemacht hat, Kierkegaards Schriften in ihren originären lokalhistorischen Kontext zu reintegrieren und die Schriften seiner dänischen Zeitgenossen durch Sammelbände und Übersetzungen auch für ein internationales Publikum zugänglich zu machen. 1

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Auch Lasse Horne Kjældgaard versteht seine Studie über Die Seele nach dem Tod als Beitrag zu dieser Forschung. Mit Poul Martin Møller, Johan Ludvig Heiberg und Hans Lassen Martensen rückt er drei prominente Zeitgenossen Kierkegaards ins Zentrum seiner Arbeit, die in der Kierkegaard-Forschung durchaus einen Namen besitzen, deren Schriften aber seit langer Zeit keiner so eingehenden Studie unterworfen wurden wie in diesem Kontext. Aufgrund ihrer textnahen Lektüren bietet Kjældgaards Arbeit zunächst einen Einblick in die hohe Qualität der intellektuellen Debatten im Kopenhagen der 1830er und 1840er Jahre. Sie trägt somit dazu bei, das lang tradierte Bild vom einsamen und genialen Denker in einer provinziellen Hauptstadt zu widerlegen. Schon mit dem Untertitel der Arbeit »Der moderne Durchbruch des Guldalder« macht Kjældgaard darüber hinaus auf die epochenkritische Tendenz seiner Untersuchung aufmerksam. Im Gegensatz zu früheren Darstellungen des traditionell als ›Goldenes Zeitalter‹ (›Guldalder‹) verharmlosten dänischen Biedermeier legt Kjældgaard besonderes Gewicht auf Brüche und Widersprüchlichkeiten in den philosophischen und ästhetischen Debatten der Zeit, die seines Erachtens schon zentrale Problemstellungen des späten 19. Jahrhunderts vorwegnehmen.

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Diese These entwickelt Kjældgaard anhand einer auf den ersten Blick marginalen theologischen Diskussion. Dabei gelingt es ihm nachzuweisen, dass die Kopenhagener Debatte über die Unsterblichkeit der Seele, die er rekonstruiert, über weitreichende philosophische, ästhetische und politische Implikationen verfügt. Genau dieser Nachweis eines lokalhistorisch begrenzten, aber mehrere Disziplinen und Perspektiven umfassenden Diskursfeldes macht seine Arbeit, die sich im weitesten Sinne an Vorgaben des new historicism orientiert, auch über den reinen historischen Kontext hinaus lesenwert.

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Von Meerjungfrauen und anderen seelenlosen Wesen

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Es genügt, ein einziges Märchen von Hans Christian Andersen zu lesen, um zu erkennen, dass seine Texte keineswegs dem Klischee einer biedermeierlich-süßen Kindlichkeit entsprechen. Dennoch überrascht die nahezu zynisch anmutende Offenherzigkeit, mit der er die Konsequenzen einer Lebensanschauung aufdeckt, die auf das Dogma der unsterblichen Seele verzichtet. Bekanntlich setzt die kleine Meerjungfrau just diese aufs Spiel, als sie sich auf ihre schmerzhafte Menschwerdung einlässt. Auch wenn sich die damit verbundene Drohung, endgültig zu sterben und als »todeskalter« oder »toter, salziger Meeresschaum« 2 zu enden, im Märchen bekanntlich nicht erfüllt, verzichtet der Text nicht darauf, die Vorstellung ihres endgültigen Todes in mehreren Bildern zu thematisieren: »Wir haben keine unsterbliche Seele; wir erhalten nie wieder Leben, wir sind wie das grüne Schilf, ist es einmal abgeschnitten, kann es nicht mehr grünen.« 3

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Mit dem Thema der (un)sterblichen Seele, das in den verschiedenen Überlebensformen von Menschen und Naturgeistern variiert wird, greift Andersen 1837 eine durchaus aktuelle Thematik in der zeitgenössischen Philosophie auf. In seinen anonym publizierten Gedanken über Tod und Unsterblichkeit (1830) führt Ludwig Feuerbach die Vorstellung der unsterblichen Seele auf ein Wunschdenken zurück, dessen Ursachen er wissenschaftlich hinterfragt. Die damit initiierte philosophische Kritik zentraler christlicher Glaubens- und Jenseitsvorstellungen wird mit Friedrich Richters Lehre von den letzten Dingen (1833/34) fortgeschrieben. Spätestens mit den Schriften von David Friedrich Strauss – u.a. Die christliche Glaubenslehre in ihrer geschichtlichen Entwicklung und im Kampfe mit der modernen Wissenschaft dargestellt (1840/41) – kann man von einer regelrechten Institution der wissenschaftlich-historischen Religionskritik sprechen, die sich im Umfeld des Linkshegelianismus konstituiert.

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Im Rückgriff auf Kjældgaards Studie lassen sich über diesen deutschen Horizont hinaus dänische Texte benennen, die verdeutlichen, inwiefern Andersen mit Den lille Havfrue auf eine aktuelle philosophische Debatte rekurriert. So kann Kjældgaard überzeugend nachweisen, dass die Introduktion der Philosophie Hegels in Dänemark mit einer deutlichen Radikalisierung seiner Positionen einhergeht. Von 1832 bis 1834 veröffentlicht Johan Ludvig Heiberg mehrere kleine Schriften, die im Zusammenhang mit Vorlesungen stehen, die er an der königlich-militärischen Hochschule Kopenhagens über spekulative Logik hält. Dabei bieten Om Philosophiens Betydning for den nuværende Tid (Über die Bedeutung der Philosophie für die jetzige Zeit) sowie die Leitfäden der Vorlesungen auf den ersten Blick nichts anderes als eine Nacherzählung von Hegels Geschichte des Geistes, der sich in Kunst und Religion zu offenbaren beginnt, bevor ihn die Philosophie auf den Begriff bringt.

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In seinen textnahen Analysen zeigt Kjældgaard allerdings auf, dass Heiberg die Vorstellung vom Tod der Kunst, die dieses Geschichtsmodell impliziert, expliziert und sogar auf einen Tod der Religion überträgt, deren Bedeutung mit der Konstitution der spekulativen Philosophie überholt sei. Dabei lässt sich Heiberg sogar auf die heikle Frage nach der Unsterblichkeit der Seele ein. So polemisiert er gegen die naive Vorstellung von einem Weiterleben der individuellen Seele, die er mit dem Bild des ewigen Juden gleichsetzt und damit ad absurdum führt. Die Vorstellung der Unsterblichkeit der individuellen Seelen wird gegen die Idee des Unsterblichen, d.h. gegen die Hegelianische Idee des Weltgeistes selbst ausgespielt, über dessen Wirkungsmacht man qua historisches Studium und antizipierender Spekulation philosophische Gewissheit besitze. Diese objektive Gewissheit über die Teilhabe an einem umfassenden Geistesgeschehen unterscheide die Philosophie als wissenschaftliche Disziplin laut Heiberg von der Religion, die allein auf den subjektiven Glauben rekurrieren könne. In der Tat unterstreicht Heiberg seine häretische Position, indem er die Bezeichnung des ›Weltgeistes‹ zusehends durch die des ›höchsten Gedankens der Menschheit‹ ersetzt. So wird selbst die christliche Religion nicht als Werk Christi vorgestellt, sondern als historisches Produkt der Menschheitsentwicklung selbst.

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Die Radikalität von Heibergs Positionen ist kaum zu überschätzen. Immerhin macht er sich mit der impliziten Kritik an zentralen christlichen Dogmen eines Verbrechens schuldig. Die öffentliche Verleugnung der Unsterblichkeit der Seele ist laut § 5 des damals gültigen dänischen Pressegesetzes immer noch strafbar. Inwiefern seine Entwürfe auch von den zeitgenössischen Intellektuellen als Provokation aufgefasst wurden, kann Kjældgaard u.a. an einer 1836 publizierten Rezension aufzeigen, die der spätere Bischof Hans Lassen Martensen den erwähnten Schriften Heibergs widmet.

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Dabei macht Kjældgaard deutlich, dass Martensen, der gemeinhin als enger Mitstreiter Heibergs in der Etablierung der spekulativen Philosophie Hegels in Dänemark gilt, am Beginn seiner Karriere bemüht war, deutliche Unterschiede zwischen seinem Verständnis des deutschen Idealismus und den religionsfeindlichen Positionen Heibergs zu markieren. In diesem Sinne versucht er im besagten Artikel, die Differenz zwischen Heiligem und Ewigem zu umreißen, die er auf den Unterschied zwischen einer theistischen und einer humanistischen Konzeption des Weltgeistes zurückführt. Martensens Plädoyer für ein theistisches Verständnis des Geistes, das er eben mit einem deutlichen Bekenntnis zu Christus als originären Religionsstifter und einem Bekenntnis zur Unsterblichkeit der individuellen Seele zum Ausdruck bringt – geht mit dem Versuch einher, die Hierarchie zwischen Religion und Philosophie wieder umzukehren beziehungsweise den von Heiberg aufgeworfenen Antagonismus zwischen Philosophie und Religion synthetisierend aufzuheben.

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Noch deutlicher als Martensen reagiert Poul Martin Møller auf die radikale Religionskritik Heibergs. In dem 1837 publizierten Artikel Tanker over Muligheden af Beviser for Menneskets Udødelighed, med Hensyn til den nyeste derhen hørende Literatur (Gedanken über die Möglichkeit eines Beweises für die Unsterblichkeit des Menschen, mit Rücksicht auf die neueste dazu gehörige Literatur) liefert er eine eingehende Kritik von Heibergs Versuch, die Ernsthaftigkeit einer individuellen und existenziellen Lebensentscheidung durch eine philosophische Spekulation in die Chimäre eines historischen Allgemeinen aufzulösen. Mit der Anekdote über einen durch und durch oberflächlichen, geschäftigen Buchhalter versucht Møller dabei seinerseits zu belegen, dass Heiberg auf diese Weise der lauen Lebenseinstellung zeitgenössischer Spießer Vorschub leiste, die sich damit begnügen, die Frage nach den letzten Dingen als irrelevant abzutun, da diese sich nicht beweisen ließen.

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Da Heiberg keineswegs als Vertreter eines politischen Linkshegelianismus bezeichnet werden kann, ist die Radikalität seiner Religionskritik bislang genauso unbeachtet geblieben wie die deutlich unterschiedlichen Positionen innerhalb des dänischen Hegelianismus, auf die Kjældgaard aufmerksam macht. Die Rekapitulation dieser Debatte hilft den ideenhistorischen Hintergrund zu konturieren und den Schrecken zu verdeutlichen, der die zeitgenössischen Leser der Kleinen Meerjungfrau angesichts der Vorstellung ihrer sterblichen Seele befallen haben mag. Im Schlusskapitel seiner Arbeit kann Kjældgaard darüber hinaus nachweisen, inwieweit sich die dänische Debatte über die Unsterblichkeit der Seele von Anfang an in Kierkegaards Schriften spiegelt (siehe dazu den Abschnitt »Spekulation unter dem Federbett – Kierkegaard als Polemiker« dieser Rezension).

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Doch Kjældgaards Studie liefert mehr als die archäologische Aufarbeitung einer theologischen oder philosophischen Debatte, die hilft, Kierkegaards Schriften neu zu rahmen. Er zeigt darüber hinaus auf, wie eng diese Diskussionen mit ästhetischen Reflexionen über den Zustand der Kunst verwoben sind. So kippen die theologischen Argumentationen der Teilnehmer immer wieder in ästhetische Überlegungen um, genauso wie sich deren ästhetische Entwürfe in theologische Problemstellungen verwickeln.

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Apokalyptische Poesie, humoristische
Lebensanschauung und ein dänischer Dante

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Wie erwähnt geht die Reflexion über das Ende der Religion in Heibergs Schriften mit Überlegungen über das Ende der Kunst einher. Dabei wird die These vom Verfall der Kunst im Rahmen des spekulativen Geschichtsentwurfes einerseits im Vergleich zur griechischen Kunst illustriert, die noch wirklich einen alternativlosen Zugang zu einer Erfahrungen des Geistes bot. Der Verfall wird andererseits empirisch an der wachsenden Bedeutung einer Massenkultur illustriert, in der die funktionslos gewordene Kunst alleine der Zerstreuung diene.

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Merkwürdiger- oder besser: bezeichnenderweise scheinen die Zeitgenossen in ihrer Reaktionen auf Heibergs Studien eher auf diese ästhetische Blasphemie reagiert zu haben als auf seine gewagten religiösen Provokationen. So verbirgt sich hinter Møllers Aufsatz über den Nachweis der unsterblichen Seele letztendlich der Versuch einer Rettung der Kunst. Auch dieser beschwört mit Blick auf das Aufkommen der weniger ideellen als gespenstischen phantastischen Literatur eine Krise der Kunst hervor. Diese Krise versucht Møller im Rückgriff auf ästhetische Positionen des 18. Jahrhunderts zu überwinden. Die dort etablierte Vorstellung der Kunst als Mittel einer die Begrifflichkeit übersteigenden sinnlichen Erkenntnis wird dabei genutzt, um eine Analogie zu religiösen Erkenntnisformen herzustellen. Auf diese Weise leistet Møller einer Verschränkung von Ästhetik und Religion Vorschub, welche die Idee einer sich im Kunstgenuss selbst fühlenden Seele vorbereitet.

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Diese Verschränkung wiederum wird von keinem geringeren als Heiberg selbst aufgegriffen. Schon in einem 1838 publizierten Aufsatz über die Malerei im Verhältnis zu den anderen Künsten liefert er eine Neubestimmung des Ästhetischen, die in wesentlichen Punkten von Møllers Kritik inspiriert ist. Dabei stärkt er das verborgene häretische Element in Møllers Argumentation.

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Auf diese Weise werden zentrale religiöse Vorstellungen von Heiberg konsequent in ästhetische Paradigmen übertragen und damit auf subtile Weise säkularisiert. So findet etwa die Idee der unsterblichen Seele in einer Porträttheorie Eingang, die mit der Vorstellung arbeitet, dass das Porträt das seelische Innenleben des Abgebildeten aus dessen materiellem Substrat befreie und im Kunstwerk aufhebe. Spricht Møller noch in der Form des ›als ob‹ von einer Analogie zwischen religiöser und ästhetischer Erkenntnis, bestimmt Heiberg das ästhetische Erleben als eine Form der Seligkeit, die eine Erfahrung jenseits von Zeit und Raum vermittle, die ihrerseits die Grundlage dafür biete, das Werden des Weltgeistes in seiner Ganzheit zu verstehen. Die hier angedeutete Aufwertung der Kunst als Erkenntnismittel ändert allerdings nichts an der Hierarchie zwischen Philosophie und Kunst. Mit aller Deutlichkeit macht Heiberg darauf aufmerksam, dass die zeitgenössische Kunst, die eine derartige Funktion zu erfüllen suche, auf Übersetzung durch theoretische Kommentare angewiesen sei, die in der Lage sind, das ästhetische Erlebte zu explizieren und auf den Begriff zu bringen.

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Die Paraphrase des verwickelten Argumentationsgangs soll die große Stärke von Kjældgaards Arbeit illustrieren, dem es in seinen textnahen intertextuellen Analysen zu zeigen gelingt, wie die einzelnen Autoren Topoi und rhetorische Wendungen ihrer Gegner aufgreifen, um sie – durch Hinzufügen oder den Austausch weniger Wörter – auf subtile Weise zu verschieben, zu verdrehen oder regelrecht zu invertieren.

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Das gilt auch für die Aufarbeitung der nachfolgenden Textgeflechte. So wird das Zusammenspiel zwischen Kunst und Theorie, das Heiberg als Ideal einer zeitgenössischen Kunstproduktion vorschwebt, ausgerechnet im Zusammenspiel zwischen Heiberg und Martensen realisiert. Das heißt, Heibergs eigene philosophische Dramen finden ihr theoretisches Echo in ausführlichen Kritiken von Martensen. Doch wieder gelingt es Kjældgaard zu zeigen, dass sich hinter dem vermeintlichen Zusammenspiel ein taktisches Kalkül verbirgt. Martensen nutzt diese Kritiken nämlich, um eine eigene ästhetische Position zu entwickeln, mit der er Heibergs Konzept einer ›spekulativen Poesie‹, welche auf philosophische Reflexion angewiesen ist, durch dasjenige einer ›apokalyptischen Poesie‹ überbietet, welche eine religiöse Funktion erfüllt. Die Funktion einer solchen ›apokalyptischen Poesie‹ besteht in einer Antizipation des letzten Gerichtes, die dem Leser/Zuschauer vor Augen führen soll, dass die philosophische Spekulation nicht über die Relevanz religiöser Entscheidungen hinwegtäuschen dürfe.

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Auch hier bleibt eine Antwort Heibergs nicht aus. So versieht er sein 1841 im Rahmen der Anthologie Nye Digte publiziertes Drama En Sjæl efter Døden (Eine Seele nach dem Tod) nicht nur mit dem Untertitel »En apocalyptisk Comedie«. Das Stück setzt diese Programmatik auch inhaltlich in Szene. Ein Kopenhagener Spießbürger tritt vor das letzte Gericht. Nachdem ihm der Zugang ins Himmelreich wie ins antike Elysium verwehrt bleibt, findet er in der Hölle ein behagliches Zuhause, da die Hölle – so die Pointe des Stückes – nichts anderes darstellt, als das immergleiche Fortleben des öden Kopenhagener Kulturalltags. Kjældgaard lässt bewusst offen, ob sich hinter dem Stück tatsächlich eine Annäherung an die ästhetische Position Martensens verbirgt oder ob das Stück nicht eine erneute subtile Abrechnung mit der Naivität aller religiösen Vorstellungen vom Nachleben der Seele bietet. Auf jeden Fall signalisiert Kjældgaard, dass die Intention Heibergs nicht mit derjenigen verwechselt werden darf, die zeitgenössische Exegeten dem Stück zuschrieben. Wieder ist es nämlich Martensen, der dem Drama 1841 eine ausführliche Kritik widmet, wobei er sich nochmals darum bemüht, die Relationen zwischen Philosophie, Ästhetik und Religion neu zu konfigurieren.

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Indem er En Sjæl efter Døden als moderne Divina Commedia und Heiberg als dänischen Dante in Szene setzt, vereinnahmt Martensen das Stück als Ausdruck einer humoristischen Lebensauffassung, die einen Ausweg aus der Krise von Kunst und Religion biete und das gegenwärtige Zeitalter präge. Das Stück lade seine Rezipienten dazu ein, das gegenwärtige Zeitalter im antizipierenden Wissen um den Verlauf der kommenden Weltgeschichte wie im antizipierenden Wissen um den versöhnlichen Ausgang des letzten Gerichtes zu belächeln. Somit bereitet Heiberg eine fundamentale Kritik der Religionsvergessenheit seines Zeitalters vor, wie er über seine Dramatik zu einem neuen versöhnlichen Glauben auf den guten Ausgang des Heilsgeschehens anregt.

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Hinter dem Konzept der humoristischen Lebensauffassung, das Martensen im vermeintlichen Anschluss an Heiberg entwickelt, verbirgt sich bei näherer Sicht der Versuch, die Gegensätze zwischen philosophischer Spekulation, ästhetischer Erfahrung und religiösem Empfinden, die Heiberg in seinen frühen Schriften konzis umrissen hat, zu versöhnen. Genau gegen diesen Versuch wird Kierkegaard in seinen pseudonymen Schriften Sturm laufen.

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Spekulation unter dem Federbett –
Kierkegaard als Polemiker

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Wer meint, dass es sich bei all dem um eine interessante, wenn auch in hohem Maße randständige Diskussion unter dänischen Theologen, Philosophen und Ästheten handelt, der wird im abschließenden Kapitel von Kjældgaards Studie eines besseren belehrt. Die genaue Aufarbeitung der intertextuellen Bezüge zwischen den Schriften Heibergs, Møllers und Martensens erlaubt es Kjældgaard, kursorisch darauf zu verweisen, inwieweit auch Kierkegaards bekannte Schriften aus den 1840ern – u.a. Über den Begriff der Ironie (1841), Der Begriff Angst (1843), Entweder-Oder (1843) und Philosophische Brosamen (1843) – bis in Formulierungen und rhetorische Wendungen hinein in dieses Textgewebe eingelassen sind.

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Tatsächlich wirkt Kjældgaards Versuch, Kierkegaards pseudonyme Schriften als polemischen Kommentar auf einen spezifisch dänischen Kontext zu lesen, in vielerlei Hinsicht bereichernd. Die Pointe von Kierkegaards Argumentation besteht schlicht darin, dass schon die Tatsache, dass man die Unsterblichkeit der Seele zu beweisen sucht, von einer tiefen Glaubenskrise zeugt. Wer an das Nachleben der Seele wie an das jüngste Gericht glaubt, der gibt sich keiner philosophischen Spekulation anheim, sondern setzt sich in einer bewussten Entscheidung dem Wagnis des Glaubens aus. Gerade der Versuch Martensens, die Gegensätze zwischen der spekulativen Philosophie und der Religion synthetisierend in einer humoristischen Lebensauffassung aufzuheben, gilt Kierkegaard als Symptom für eine im hohen Maße bequeme Religion, die von den Gläubigen keine riskanten Entscheidungen, sondern lediglich die Zuversicht auf ein gutes Ende abverlangt.

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Zwar erscheint die Tatsache, dass Kierkegaard den vermeintlichen Objektivismus der philosophischen Spekulationen Heibergs und Martensens polemisch gegen die existenzielle Entscheidung des Subjekts ausspielt, wenig überraschend. Dennoch wirken Kjældgaards Analysen innovativ, da er nachweisen kann, wie abhängig Kierkegaard in der Erarbeitung dieser Position von seinen dänischen Vorläufern (Møller und Martensen) wie Gegnern (Heiberg und Martensen) ist. Diese Abhängigkeit äußert sich auch in der Polemik Kierkegaards. Denn wenn er die humoristische Lebensauffassung der philosophischen Spekulation als infantilen Eskapismus von Biedermännern desavouiert, die »am Abend den Kopf unter das Federbett stecken und der ganzen Welt eins husten«, 4 dann greift er nichts anderes als den Topos des bequemen Spießbürgers auf, den schon Møller und Heiberg in ihren ästhetisch-literarischen Texten strapazieren.

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Am spannendsten wirkt allerdings Kjældgaards Lektüre der Abschließenden unwissenschaftliche Nachschrift (1846), in der Kierkegaard am ausführlichsten auf das Dogma der unsterblichen Seele zu sprechen kommt. Kjældgaard benutzt diesen Text nicht allein, um das paradoxe Religionskonzept zu umreißen, das Kierkegaard in Auseinandersetzung mit den Vorgaben Heibergs, Møllers und Martensens entwickelt, sondern weist nach, dass die Verschränkung von Ästhetik und Theologie, welche deren Diskussion über die unsterbliche Seele kennzeichnet, sich in erneuter Abwandlung auch bei Kierkegaard niederschlägt.

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Zwar wendet sich Kierkegaard mit Schärfe gegen die Versuche Møllers und Martensens, welche der Kunst die Funktion zuschreiben, indirekte Antworten auf existenzielle Fragen zu liefern und Lebenshaltungen zu vermitteln. In Erarbeitung der Theorie der indirekten Mitteilung, die – so Kjældgaard – bei Kierkegaard eng mit der Thematik der unsterblichen Seele verknüpft ist, verfällt dieser in der Abschließenden unwissenschaftlichen Nachschrift allerdings selbst in ästhetische Reflexionen. Es geht um eine Kunst der Mitteilung, die keine ästhetischen (Møller), philosophischen (Heiberg) oder religiösen (Martensen) Gewissheiten vermittelt, sondern die im Gegenteil aufgrund ihrer tiefen Ambivalenz und »betrügerischen Form« (»svigefuld Form«) als ein »problemorientiertes Medium zum Austausch existenzieller Fragen« (»et problempåpegende medium til udveksling om eksistentielle anliggender«) fungieren kann (S. 277).

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Seelen- und leidenschaftslose Spießbürger –
Krisenszenarien des Biedermeier

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Die abschließenden Ausführungen über Kierkegaards spezifische Ästhetik der Mitteilung stellen in vielerlei Hinsicht den Fluchtpunkt von Kjældgaards Studie dar. Zum einen bieten sie ein besonders nachdrückliches Beispiel für die Verschränkung von Ästhetik, Philosophie und Theologie, die Kjældgaard an den unterschiedlichen Quellen belegen kann. Zum anderen verdeutlichen sie die Modernität der ästhetisch-theologischen Diskussionen, die im dänischen Biedermeier geführt wurden.

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In der Tat wirkt Kjældgaards These von der Modernität des dänischen Biedermeiers angesichts des präsentierten Materials schlüssig. Dabei macht er schon im Klappentext seiner Abhandlung auf den politischen Hintergrund aufmerksam, vor dem sich die merkwürdig anmutenden Debatten über das Nachleben nach dem Tod abheben. Auch in Dänemark werden die politischen Unruhen im Europa der 1830er und 1840er Jahre aufmerksam verfolgt. In dieser Hinsicht scheinen sich die theologisch-ästhetischen Debatten, die Kjældgaard aufarbeitet, immer auch um politische Fragestellungen zu drehen. Anders formuliert: Die Debatte über das Nachleben im Jenseits, ist eng mit der Frage nach Lebensmodellen im Diesseits verknüpft. Sowohl Heiberg als auch Møller und Martensen operieren in ihren Plädoyers für eine philosophisch oder religiös fundierte Ästhetik mit ausführlichen gesellschaftlichen Krisenszenarien. Dabei bedienen sie sich des schlichten Argumentes, dass allein die Philosophie und/oder die Religion einen Ausweg aus der gesellschaftlichen Krise bieten würden, welche sie selbst heraufbeschwören. In diesem Sinne kann Kjældgaard belegen, dass auch der mehr oder weniger offen vorgetragene Atheismus Heibergs, aufgrund dessen man von einer frühen linkshegelianischen Tendenz in der dänischen Philosophie sprechen kann, nicht in eine ›linken‹ politischen Haltung umschlägt, sondern ganz im Gegenteil für konservative Interessen beansprucht wird.

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Allerdings bleiben solche Behauptungen oft im Vagen, so dass man sich genauere Ausführungen darüber gewünscht hätte, welche politischen Konsequenzen aus der jeweils präsentierten Formation von Ästhetik, Philosophie und Theologie gezogen werden können. Alle Autoren argumentieren nämlich in dieser Hinsicht paradox. Denn wenn sie auch alle von einer Krise des gegenwärtigen Zeitalters reden, die sie an der (politischen, ästhetischen und religiösen) Unruhe zu belegen versuchen, die durch den Wegfall von transzendenten Sinnmodellen ausgelöst werde, so beklagen sie keineswegs Tumulte, Revolten oder Aufruhr im zeitgenössischen Kopenhagen, sondern ganz im Gegenteil die Bequemlichkeit, Langeweile und den damit einhergehenden infantilen Eskapismus der Spießbürger. Ob der Wunsch, dieser Bequemlichkeit durch philosophische Bildung (Heiberg), durch ästhetisch-religiöse Erfahrung (Møller), durch eine humoristische Lebenseinstellung (Martensen) oder durch schwere existenzielle Entscheidungen (Kierkegaard) Abhilfe zu verschaffen, wirklich mit den erklärten staatstragenden Äußerungen der Autoren in Einklang zu bringen ist, bleibt meines Erachtens offen. Die andauernde Rede über die Gesellschaftskrise vermag auch das Begehren nach einer solchen zum Ausdruck bringen.

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Vielleicht hätte dieser Punkt durch das Hinzuziehen einer weiteren Autorschaft erhellt werden können, auf die sich alle vier Autoren in Kjældgaards Quartett wiederholt beziehen. Schon Poul Martin Møller greift in der polemischen Anekdote seines Essays auf die anonym publizierte Novelle Extremerne (1835) zurück, der er 1836 eine eigene Rezension widmet. Bereits in dieser Novelle wird mit der Gegenüberstellung eines leidenschafts- und wesenlosen Banausen, der indifferent in den Tag hineinlebt, und eines Grüblers gearbeitet, der sein Leben in der Gewissheit eines jenseitigen Nachlebens verbringt. Der Text stammt von Thomasine Gyllembourg, der Mutter Johan Ludvig Heibergs. Anekdoten aus dem Familienleben, die Kjældgaard ebenfalls zitiert, belegen weiterhin, dass schon dessen Ausfälle gegen die Unsterblichkeit der Seele auf einen familiären Zwist zurückgeführt werden können.

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Auch wenn Gyllembourgs Novellen in Kjældgaards Arbeit keineswegs unerwähnt bleiben, hätte ihre Schriften es durchaus verdient, in einem eigenen Kapitel behandelt zu werden. Dadurch hätte man nicht nur die Reihe der männlichen Autorenporträts auflockern können, mit denen die einzelnen Kapitel der Studie geschmückt werden. Denn das zentrale Thema der Indifferenz und Leidenschaftslosigkeit des Zeitalters, das unmittelbar mit der theologischen Fragestellung nach der Unsterblichkeit der Seele wie mit der ästhetischen Diskussion um eine Krise der Kunst verbunden zu sein scheint, wird von Gyllembourg 1845 in einer weiteren Novelle aufgegriffen und entscheidend variiert.

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In To tidsaldre (Zwei Zeitalter) wird die indizierte ästhetische Krise der Gegenwart, die Gyllembourg an der Zerstreuungskultur des Kopenhagener Tivoli festmacht, nämlich nicht mehr mit einer religiösen, sondern mit einer politischen Thematik enggeführt. Die Leidenschaftslosigkeit der Spießbürger des Kopenhagener Biedermeier wird der Leidenschaftlichkeit einer französisch-dänischen Begegnung aus der Revolutionszeit gegenübergestellt. Diese Mal ist es Søren Kierkegaard, welcher der Novelle eine über hundertseitige Rezension widmet, die er 1846 als eigenständiges Buch En literair Anmeldelse (Eine literarische Anzeige) publiziert. Gerade die zeitliche Nähe dieser eminent politischen Schrift zu den ästhetischen-religiösen Ausführungen in der Abschließenden unwissenschaftlichen Nachschrift hätte vielleicht helfen können, die politischen Implikationen der theologischen Debatten um die Unsterblichkeit der Seele wie der daran angelegten, auf Engagement abzielenden Ästhetik der indirekten Mitteilung noch weiter auszuloten.

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Zeitalter der Antizipationen – Fazit

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Der Hinweis auf Gyllembourg und den möglichen politischen Subtext des von Kjældgaard rekonstruierten intertextuellen Feldes soll keineswegs als bloße Kritik verstanden werden. Er soll vielmehr darauf hinweisen, wie inspirierend die von Kjældgaard offengelegte Thematik und methodische Vorgehensweise ist. Aufgrund der engen persönlichen Verflechtung, die das kleine literarische Feld im Kopenhagen der 1840er Jahre auszeichnen, sind derartig genaue intertextuellen Studien hier extrem ergiebig. Kjældgaards Studie regt dazu an, die präsentierten Fäden aufzugreifen und das Gewebe um weitere Stränge zu ergänzen und gegebenenfalls neu zu perspektivieren.

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Bei all dem wird deutlich, dass die Krisenphänomene, die wir mit dem späten 19. Jahrhundert verknüpfen, schon im frühen 19. Jahrhundert als solche erkannt, benannt und reflektiert wurden und dass bereits in dieser Zeit nach den zum Teil überraschend modern anmutenden, ästhetischen Konsequenzen gefragt wurde, die sich aus diesen Krisenphänomenen ableiten lassen. Die Tatsache, dass all diese Diskussionen im verschlafenen Kopenhagen der 1840er Jahre geführt wurden, belegt, dass sich bisweilen auch unter einem dicken Federbett gut philosophieren lässt.

 
 

Anmerkungen

Schon in seiner 2003 publizierten Studie hat Jon Stewart darauf aufmerksam gemacht, dass sich Kierkegaards Kritik an der spekulativen Philosophie nicht in erster Linie gegen Hegel richtet, sondern gegen den dänischen Hegelianismus. Vgl. Jon Stewart: Kierkegaard’s Relations to Hegel Reconsidered. Cambridge: Cambridge University Press 2003. Diese These dient auch als Ausgangspunkt seines Sammelbandes über Kierkegaards Relation zu dänischen Intellektuellen. Vgl. J. S.: Kierkegaard and his Contemporaries. The culture of Golden Age Denmark. Berlin: Walter de Gruyter 2003. Über Stewarts aktuelle Publikationen und Projekte, mit denen er Philosophie, Theologie und Ästhetik des dänischen Biedermeier in Übersetzungen, Monographien und Sammelbänden auf Englisch zugänglich zu machen und theoretisch aufzuarbeiten verspricht, informieren die Projektbeschreibungen zu »Texts from Golden Age Denmark« und »Danish Golden Age Studies«, die über die Homepage des Søren Kierkegaard Forskningscenteret (http://www.sk.ku.dk/) zugänglich sind.   zurück
Hans Christian Andersen: Eventyr, fortalte for Barn 1835–42. Hg. von Erik Dal. Kopenhagen: Hans Reitzel 1963, S. 105 [Übersetzung KMW].   zurück
Ebd., S. 96 [Übersetzung KMW].   zurück
Søren Kierkegaard: Afsluttende uvidenskabelig Efterskrift. (Søren Kierkegaard Skrifter 7) Hg. von Niels Jørgen Cappelørn u.a. Kopenhagen: Gad 2002, S. 245 [Übersetzung KMW].   zurück