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‚Benutzte Lyrik’

Ein sonderbares Etikett für eine besondere
Form der Dichtung

  • Heinz Ludwig Arnold (Hg.): Benutzte Lyrik. (text + kritik 173) München: edition text + kritik 2007. 116 S. Paperback. EUR (D) 16,00.
    ISBN: 978-3-88377-868-6.
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›Benutzte Lyrik‹ – was ist das?

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Buchtitel können sehr sprechend sein. In prägnanter Verkürzung weisen sie auf den Kern des Buchinhalts hin, werfen eine Frage auf oder spannen die Aufmerksamkeit mit einer überraschenden Formulierung, einem Zitat oder einer These. In Zeiten, in denen das Internet zur globalen Auskunft geworden ist und die Suchmaschinen stur nach Titelwörtern sortieren, ist die Wahl eines treffenden Titels durchaus von Belang. Das hier anzuzeigende text+kritik-Heft gibt einem mit seinem Titel jedoch ein Rätsel auf – und löst es am Ende auch demjenigen nicht, der die neun Beiträge mit ihren knapp hundert Seiten durchgearbeitet hat. ›Benutzte Lyrik‹ – was ist das?

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Das Titelblatt gibt eine vage Auskunft: Es zeigt unter dem Bandtitel ein Foto, auf dem ein Gedicht von Erich Fried (Angst und Zweifel) als Wandzeitung abgebildet ist. Es geht also um politische Lyrik, möglicherweise in der Zeit um 1968. Nein, geht es nicht, erklärt auf der nächsten Seite das Editorial. Im Mittelpunkt stehe vielmehr eine »besondere Sparte der ›Gebrauchslyrik‹«, nämlich die »politische ›Gebrauchsdichtung‹ des 20. Jahrhunderts« (S. 3). Doch dieser neue Terminus, schon geschmälert durch die Häkchen, wird dann im nächsten Absatz ausdrücklich in seiner Aussagekraft verworfen (»kaum mehr als Etikett und ein Schlagwort«), so dass als orientierende Mitteilung der Herausgeber übrig bleibt: Jenseits der mit dem Stichwort ›1968‹ verbundenen Debatten um das Verhältnis von Dichtung und Politik, Kunstautonomie und Engagement, Tendenz und Parteilichkeit soll es um etwas gehen, für das die Herausgeber nur den von ihnen selbst bezweifelten Begriff ›Gebrauchsfähigkeit‹ zur Verfügung haben. Der Titelbegriff ›benutzte Lyrik‹ wird weder verwendet noch erklärt. Dem Leser bleibt nur die Hoffnung, dass die Beiträge, denen das Editorial »einen überraschend neuen Blick auf längst ausgeforscht geglaubte Kapitel moderner Lyrikgeschichte« (S. 3) bescheinigen, den Kasus lösen.

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›Benutzte Lyrik‹ –
eine Art Gelegenheitsdichtung?

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Heinz Ludwig Arnold plädiert in seinem Eingangsbeitrag »Von der ›benutzten‹ zur missbrauchten Literatur« (S. 4–13), einem kursorischen Durchgang durch die deutsche Arbeiterlyrik vom späten Vormärz bis in die 1930er Jahre, für die »Zeitzeugenschaft« (S. 4) jeglicher Dichtung und gesteht diese Qualität der Arbeiterdichtung auch dort zu, wo sie nicht nur der proletarischen Selbstverständigung diente, sondern als operatives Mittel (»Waffe im Befreiungskampf des Proletariats«, S. 6) eingesetzt wurde. Konsequent fasst er die Arbeiterlyrik als »Gelegenheitsdichtung«, die in der bürgerlichen Lyrik des 18. und frühen 19. Jahrhunderts ein anerkannter Formtypus gewesen sei, allerdings mit einem markanten Unterschied: »Die proletarische Kunsteroberung zielte nicht auf die Revolutionierung der Kunst, sondern auf die Eroberung der Menschenrechte.« (S. 7) Deswegen reiche der Arbeiterdichtung der überlieferte Formenschatz nicht nur, sondern war, wovon ästhetische Innovation nur abgelenkt hätte, sogar das genuine Mittel für den operativen Zweck, denn: »benutzt wurde, was passte« (S. 8). Eine Erörterung der Problematik dieser Praxis erfolgt jedoch nicht. So bleibt bei Arnold die interessante Frage offen, auf welche Weise der Erste Weltkrieg einen Wendepunkt markierte (»die Überführung des solidarischen Arbeiter-Wir ins nationale Wir, der Klassensolidarität in die nationale Solidarität«, S. 10) und warum es nach 1933 den Nazis ohne weiteres möglich war, den Gestus der Arbeiterlyrik zu kopieren und für ihre Zwecke zu missbrauchen. Zum Missbrauch gehören zwei, und das gilt auch, wenn die allzu bequeme Gleichsetzung Rot=Braun abzulehnen ist. Ungeklärt bleibt des Weiteren bei Arnold die begriffliche Unschärfe von ›benutzen‹ bzw. ›benutzter Lyrik‹: benutzt die Lyrik etwas oder wird sie benutzt?

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Arnolds Erwägungen werden in den Beiträgen von Ursula Heukenkamp und Peter J. Brenner differenziert. Heukenkamp beschäftigt sich in »Ein großer Wurf und sein Scheitern« (S. 42–53) mit der proletarischen Lyrik vor und nach 1933. Sie erkennt in deren Spitzenleistungen der 1920er Jahre avantgardistische Qualitäten und macht diese am Wirken der Arbeitersänger und ihren Chor- und Sprechaufführungen (z.B. Kreuzzug der Maschinen von Lobo Frank), den Massenliedern (z.B. dem Solidaritätslied von Brecht/Eisler) sowie an der Verwendung moderner Musik und der Entstehungsform (kollektive Produktion) fest. Unterschieden im anspruchsvoll-experimentellen Kunstcharakter vom verbreiteten Agitprop ebenso wie vom populären Kabarett, war diese politische Dichtung, so Heukenkamp, vor 1933 durchaus wirkungsvoll. Nach 1933, ins Exil vertrieben, war ihr der Boden entzogen, von wenigen Ausnahmen (z.B. Brechts Kriegsfibel (1940/55) abgesehen. Heukenkamps Ausführungen sind sowohl als Einspruch gegen Arnolds These von der Missbrauchbarkeit proletarischer Lyrik (sofern als Agitprop verstanden) zu lesen wie auch als deren Bestätigung: Diese innovative Liedkunst wurde nicht missbraucht. Da Heukenkamp jedoch die Kategorie des ›Benutzens‹ nicht verwendet, sondern durchweg von proletarischer bzw. politischer Lyrik spricht, die sie einigermaßen abstrakt als »Resultat einer Praxis [versteht], die Bedarfsstrukturen und Foren schafft, welche wiederum die Strukturierung von Literaturproduktion begründen« (S. 42), bleibt offen, worin denn eigentlich das Besondere ›benutzter Lyrik‹ besteht.

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Peter J. Brenners Beitrag »Literarische Beutekunst« (S. 63–80) geht den Traditionszusammenhängen nationalsozialistischer Lyrik nach, wobei er allerdings gegenüber dem seit längerem erreichten Forschungsstand (Albrecht Schöne, Alexander von Bormann, Klaus Vondung, Uwe K. Ketelsen, Alfred Roth u.a.) kaum Neues zu bieten hat: Man blieb im Epigonalen, klaubte zusammen, ›adelte‹ das Nazitum und passte es Traditionen an. Die wirklich interessante Frage, ob sich die nicht unumstrittenen Thesen des Historikers Götz Aly über die breite Massenzustimmung zum NS-Staat durch eine entsprechende Interpretation der NS-konformen Dichtung im Dritten Reich bestätigen lassen (oder nicht), wird aufgeschoben. Der Aspekt des ›Benutzens‹ wird explizit nicht angesprochen, ist allenfalls in der Feststellung der Epigonalität enthalten. Ein Unterschied zwischen angewandter NS-Lyrik (Agitation, Feier- und Weihelyrik u.ä.), Gelegenheits- und »Gefälligkeitsliteratur« (S. 65) sowie NS-konformer Lyrik (Agnes Miegel, Josef Weinheber u.a.) wird nicht gemacht.

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In ihrem zweiten Beitrag, »Staat und Lyrik« (S. 81–92), der die Lyrikdebatten der 1960er Jahre in der DDR thematisiert, bleibt Ursula Heukenkamp ihrem Ansatz treu, das Innovative politischer (sozialistischer) Lyrik zu erkunden. Sie zeigt, wie in Abgrenzung zu Brecht und Becher und trotz politischer Vorgaben durch die DDR-Kulturpolitik eine Gruppe junger Lyriker (z.B. V. Braun, B. Jentzsch, K. Mickel, H. Czechowski) einen auch formal eigenständigen Beitrag zur literarisch-politischen Bewusstseinsbildung in der DDR zu leisten versuchte, ohne sich dabei als Opposition zu formieren. Es war eine Lyrik des »couragierten Ichs« und, wie Heukenkamp hinzufügt, Ausdruck eines »Elitebewusstseins, das die Spannung zum Ganzen als Gewinn ansah« (S. 86 f.). Es dauerte jedoch nicht lange, bis sowohl die moderne Formensprache als auch der kritische Ansatz von den Funktionsträgern verurteilt und mit Sanktionen belegt wurden. Die Folge: »Charakteristisch für den Duktus der DDR-Lyrik wurden verschlüsselte Botschaften und ironische Konfessionen« (S. 90), wie Heukenkamp exemplarisch an K. Mickels Gedicht Der See verdeutlicht. Diese Lyrik ist unzweifelhaft politisch, aber in einem gegenläufigen Sinn: Sie verweigert das Funktionieren im System und artikuliert, was (eigentlich) nicht erlaubt ist. Man könnte auch sagen: Sie verweigert die geforderte Benutzbarkeit und blieb dadurch produktiv, wenngleich offiziell als unproduktiv verurteilt. Auf diese Lyrik passen weder die – von Heukenkamp auch nicht verwendeten – Termini ›benutzte Lyrik‹ noch ›Gelegenheitslyrik‹ noch ›Gebrauchslyrik‹.

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Formen politischer Gebrauchslyrik

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Die weiteren Beiträge suchen dem Thema mit dem Begriff ›Gebrauchslyrik‹ gerecht zu werden. Ingo Stöckmann untersucht in »Bismarcks Antlitz« (S. 14–28) die Fülle der Bismarck-Gedichte im deutschen Kaiserreich. Er sieht in diesen Texten, weit über ihren aktuellen Entstehungs- und Adressierungsanlass hinausgehend, eine Art mythische Sinnstiftung am Werke, die im Eisernen Kanzler den »aufrichtigen und treuen Deutschen« (S. 15) feiert und damit den Real- und Machtpolitiker überhöht. Damit befestigen sie ein Nationalstereotyp des ›aufrichtigen Deutschen‹, das sich bis ins 17. Jahrhundert zurückverfolgen lässt und das für die machtpolitisch durchgesetzte deutsche Einigung als Bindemittel für die innere Konstituierung der Nation äußerst brauchbar war. Brauchbar – hier taucht die Kategorie des ›Benutzten‹ wieder und zugleich in nochmals veränderter Form auf: Stöckmann arbeitet nämlich in seiner Analyse der höchst zeitgebundenen Bismarck-Lyrik eine Tiefenschicht heraus, durch die die anlassgebundenen Verehrungstexte eine Qualität erhalten, die die Intentionen ihrer Verfasser weit übersteigt.

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Ruth Florack will mit ihrem Beitrag »Vergessen. Verbraucht?« (S. 29–41) Walter Mehrings ›Gebrauchslyrik‹ aus den Jahren der Weimarer Republik Gerechtigkeit widerfahren lassen. Mehring hat mit seinen Gedichten unmittelbar wirken wollen und dabei gerade die (teilweise sehr populär gewordenen) Kabarett-Texte aus den frühen 1920er Jahren den jeweiligen Interpret(inn)en auf den Leib geschrieben. Das war ihre besondere Wirkungschance, zugleich aber auch der Grund, warum sie – nachdem ihr Kommunikationskontext 1933 zerstört war – in der Versenkung verschwanden, obwohl sie formal ambitioniert und politisch weitblickend waren. Daran konnte auch Mehrings späterer Versuch, aus diesen Texten durch redaktionelle Bearbeitung den unmittelbaren Gebrauchszusammenhang zu tilgen, nichts ändern. Erst durch diese Entaktualisierung, so die pointierte Begründung von Florack, erhielt Mehrings ›Gebrauchslyrik‹ jenen eigentümlichen Charakter, den W. Benjamin mit dem (vor allem auf E. Kästner gemünzten) Vorwurf der »linken Melancholie« versah. 1 Benjamins (dann auch auf Mehring und Tucholsky ausgeweiteter) Vorwurf ist gewiss ungerecht gewesen, das Dilemma der linksradikalen ›Gebrauchslyrik‹ ist aber von ihm genau bezeichnet: Sie produziert keinen Bruch, der zur politischen Aktion führt, sondern unterhält und bedient dabei letztlich den Selbstgenuss »in negativistischer Ruhe« (Benjamin, S. 459).

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Die übrigen Beiträge haben nur in einem recht weiten Sinn etwas mit dem Thema zu tun. Jan Knopf setzt sich in »Wie die Wirklichkeit selber« (S. 54–62) mit Brechts ›Medienlyrik‹ auseinander, worunter er eine lyrische Textform versteht, die weniger über den Rundfunk, sondern vor allem über die Schallplatte verbreitet wird und gehört werden muss. Knopf sieht in Brechts Experimenten mit dieser Form (Aus dem Lesebuch für Städtebewohner, 1930, Deutsche Satiren, 1936/37) ein »neues ästhetisches Prinzip« (S. 62) am Werke, das sich dem gängigen Einhämmern der politischen Propaganda durch seine Offenheit und Angewiesenheit auf einen aktiven Hörer/Leser widersetzt. Von ›benutzer Lyrik‹ ist dabei explizit keine Rede – implizit kann der mitdenkende Rezensent nur erschließen, dass Brechts Medienlyrik sich der üblichen ›Medien(ver)nutzung‹ durch ihren Kunstcharakter entzieht.

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Hermann Korte rettet die operative Lyrik um 1968 (»Wandzeitungssprüche, Denkzettel und böse Spitzen«, S. 93–104), indem er sich der Verwendung der Gebrauchs-Kunstform Epigramm bei Erich Fried, Arnfrid Astel und Günter Bruno Fuchs widmet. Die gediegene epigrammatische Form, die kritische Erkenntniskraft, Rhetorik, satirisch-pointierte Zuspitzung und also einen intellektuellen Leser verlangt, adelt gleichsam das tagesaktuelle Handgemenge und schützt sie, so Korte, vor dem Verfall als Agitprop. Eine ähnliche Interpretation liefert Gunter E. Grimm mit seiner Analyse der politischen Lyrik Hans Magnus Enzensbergers (»›diese Gedichte sind Gebrauchsgegenstände‹«, S. 105–115). Grimm sieht Enzensbergers appellativen Gestus in der Tradition des aufklärerischen Lehrgedichts, das nicht auf Handlungsorientierung, sondern auf Denkarbeit (des Lesers) zielt. »Wenn sich also von ›Gebrauch‹ reden lässt, dann nur im individuellen Raum der Reflexion und des Zweifels, niemals im öffentlichen Raum der Nachfolge oder des Protests.« (S. 110 f.) Diese für die frühe politische Poesie bis 1967 charakteristische Haltung gilt im Prinzip, so Grimm, auch für Enzensbergers späte Lyrik, wobei sich eine »skeptisch-sentenziöse« (S. 114) Tendenz verstärkt.

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Fazit

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Der merkwürdige Heft-Titel ›Benutzte Lyrik‹ erfährt keine Aufklärung, denn alle Beiträger weichen dem Terminus begrifflich wie analytisch aus. Als Para-Bezeichnung für ›politische Lyrik‹ scheidet er letztlich aus, zumal ungeklärt bleibt, wer Subjekt bzw. Objekt von Benutzung sein soll. Das ist sehr schade, denn man hätte gern Näheres darüber erfahren, inwiefern sich die politische Lyrik durch den Akt des Benutzens bzw. Benutzwerdens unterscheidet von anderen literarischen Formen, für die dieser Akt ebenfalls bedeutsam ist (z.B. religiöse, didaktische, komische Dichtung). Fast alle Beiträger bemühen sich auf je eigene Weise darum, die von ihnen untersuchte politische Lyrik von dem – offenbar als Odium empfundenen – Charakter des Operativen zu befreien, indem sie sie Kunstformen zuordnen, die über bloße Tendenzlyrik erhaben sind (z.B. Gelegenheitsgedicht, Epigramm, Lehrgedicht, Sentenz). Wo das nicht möglich ist (z.B. bei der NS-Lyrik, aber auch bei der direkt eingreifenden politischen Lyrik bis 1968), wird das Verdikt »keine Kunst« gefällt. Damit wird die aus der Zeit der Weimarer Klassik stammende These von der ästhetischen Unmöglichkeit politischer Dichtung bekräftigt, denn wenn die »gute« politische Lyrik eigentlich immer Kunst ist (und deswegen auch keinen besonderen Namen verdient), bleibt die politische Lyrik, die keine Kunst ist, als benutzte Lyrik übrig – und verdient keine weitere Beachtung. Der Stand der Forschung ist da eigentlich längst weiter und über die schroffe Antithese hinaus, aber der Geist der Zeit achtet nicht darauf.

 
 

Anmerkungen

Walter Benjamin: Linke Melancholie. In: W. B.: Angelus Novus. Ausgewählte Schriften 2. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1966, S. 457–461, hier: S. 458 f.   zurück