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Giftmischerinnen, Vagabundinnen
und Erotomaninnen

Eine Literatur- und Mediengeschichte krimineller und devianter Frauentypen im modernen Japan.

  • Christine L. Marran: Poison Woman. Figuring Female Transgression in Modern Japanese Culture. Minneapolis: University of Minnesota Press 2007. XXV, 220 S. 20 s/w Abb. Gebunden. USD 67,50.
    ISBN: 0-8166-4726-7.
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Die Konstruktion weiblicher Kriminalität und Devianz
als Antithese zum staatlich propagierten Frauenleitbild

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Die Meiji-Restauration im Jahr 1868 gilt als Beginn der Geschichte des modernen japanischen Nationalstaates: Mit der Übergabe der Zentralgewalt an den Tennô, dem Oberhaupt der neu gegründeten konstitutionellen Monarchie, wurde das Ende der feudalen Regierungsform eingeläutet. Unter dem Eindruck der latenten Gefahr einer Kolonisierung durch die westlichen Mächte leitete Japans neue Regierung einen intensiven und breit gestreuten Transfer westlicher Technologien und Wissenssysteme sowie deren entsprechenden Institutionen ein. Die damit einhergehenden Reformen lösten eine Neugestaltung der Gesellschaft in politischer, sozioökonomischer und kultureller Hinsicht aus. 1 Im Verlauf des Modernisierungsprozesses kam es zu einer nachhaltigen Neukonfigurierung von Männer- und Frauenrollen sowie deren entsprechenden Leitbildern, wobei an diese im Verlauf der Formierung des Nationalstaates unterschiedliche Ansprüche gestellt wurden: Während Männer die Rolle eines loyalen Untertanen zu erfüllen hatten, wurde für Frauen die Vorstellung von einer »guten Ehefrau und weisen Mutter« (ryôsai kenbo) zum neuen staatlich propagierten Leitbild.

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Der Diskurs über die ideale Frau spiegelte sich auch in dem über deren Antithese wider, nämlich über Frauen, die entweder kriminell oder durch sonstiges deviantes Verhalten auffällig waren. Christine L. Marran untersucht in ihrer Studie Poison Woman: Figuring Female Transgression in Modern Japanese Culture anhand prominenter Beispiele aus dem Zeitraum von den 1880er Jahren bis in die 1990er Jahre, wie der Typus der »Giftmörderin« (dokufu) in unterschiedlichen Ausprägungen als subversiver, das staatlich propagierte Leitbild der »guten Ehefrau« und »weisen Mutter« untergrabender Frauentyp in den verschiedenen Medien der Populär- und Unterhaltungsliteratur, im Film und Theater sowie in naturwissenschaftlich-medizinischen und psychologischen Essays tradiert und modifiziert wurde. 2

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Dokufu (englisch: poison woman) bedeutet wörtlich »Giftfrau« und wurde ab der Meiji-Zeit (1868–1912) zur Bezeichnung von insgesamt etwa zwanzig straffällig gewordenen Frauen geprägt. Diese Frauen stammten fast ausnahmslos aus der Unterschicht und hatten – angefangen vom Diebstahl über Raub bis hin zu Raub- und Ehegattenmord – Straftaten unterschiedlichster Tragweite begangen. Allerdings stand die öffentliche Aufmerksamkeit, die diesen beigemessen wurde, insgesamt gesehen weder in einem Verhältnis zu der tatsächlichen Anzahl der von Frauen begangenen Straftaten noch zu deren Schwere. Vielmehr wurden diese in den Medien – angefangen von den neu entstandenen Zeitungen bis hin zu literarischen Verarbeitungen – enorm aufgebauscht. Dokufu-mono (mono bedeutet wörtlich »Ding«, »Gegenstand« und dient hier als Suffix zur Pluralbildung) waren insbesondere in den 1880er und 1890er Jahren ein sehr beliebtes Genre der Unterhaltungsliteratur. Im Gegensatz zur idealen Japanerin, die als fügsam und unterwürfig beschrieben wurde und die vor allem der familiären Fortpflanzung dienen sollte, wurden im Verlauf des 20. Jahrhunderts straffällig gewordene Frauen marginalisiert: Ihre Devianz wurde häufig in Bezug zu außergewöhnlichem sexuellen Verlangen gesetzt, sie galten als anormal triebhaft, nicht sesshaft und daher als gefährlich. Da den Konsumenten solcher medialer Darstellungen Leitbilder von legitimer und nicht legitimer Weiblichkeit sowie die dazu gehörigen neuen Rechtsstandards vermittelt wurden, wird dem Topos der dokufu nachgesagt, unterschwellig zur Formierung stereotyper heterosexueller Geschlechterbilder beigetragen zu haben (S. XXV).

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Genealogie der Giftmörderinnen:
Die Verquickung von Kriminalität und Sexualität

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Als Urtypus der dokufu gilt Takahashi Oden (1848–1879). Diese erlangte nicht nur aufgrund der ihr nachgesagten zwei Morde, sondern auch aufgrund der ihr angedichteten dämonenhaften Züge – sie wurde auch »Dämonin (yasha) Oden« genannt – an Berühmtheit: Sie hatte vermutlich ihren pflegebedürftigen, an Lepra erkrankten Ehemann vergiftet sowie einen Mann erstochen, um an dessen Geld zu gelangen. Für letztere Straftat wurde sie zum Tode durch Enthauptung verurteilt. Die Tatsache, dass es sich bei ihrer Hinrichtung im Jahr 1879 um Japans letzte Hinrichtung durch Enthauptung handelte, hat entscheidend mit dazu beigetragen, dass ihr Leben mittlerweile in mehr als zehn Spiel-, Fernseh- und Dokumentarfilmen verarbeitet wurde.

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Bereits die unmittelbare Zeitgenossenschaft stürzte sich auf den spektakulären Stoff. Der damalige Literaturmarkt war großen Veränderungen unterworfen: nicht nur wurden unter dem Einfluss der Rezeption europäischer und nordamerikanischer Literatur neue Stoffe aufgenommen und neue Genres entwickelt, sondern auch neue Druck- und Vertriebstechniken; aufgrund der Neuerungen im Bildungssystem entstand eine neue Leserschaft; zudem war die Konkurrenz unter den Autoren, die unter einem hohen Anpassungsdruck an die neuen Verhältnisse standen, sehr groß. Vor diesem Hintergrund boten Odens Leben, ihre Verbrechen sowie ihr Tod einen erfolgversprechenden Stoff (S. 5–8).

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Eine der ersten und zugleich populärsten Darstellungen verfasste der Erfolgsschriftsteller Kanagaki Robun (1829–1894). Dieser hatte seine literarischen Wurzeln in der vormodernen Unterhaltungsliteratur Japans, der Erfolg seiner Geschichte der Dämonin Takahashi Oden (Takahashi Oden yasha monogatari, 1879) bezeugt jedoch, dass er sich rasch an die neuen Verhältnisse anzupassen vermochte. Seine Verarbeitung des Stoffes zeigt anschaulich die Rezeption neuer, aus dem Westen übernommener Weltanschauungen. Unter dem Einfluss sozialdarwinistischen Denkens und neuestem sexologischem Wissen erklärt Kanagaki Odens Straftaten kausal aus ihrer Herkunft – Oden entstammte einer unehelichen Beziehung, was wiederum in Bezug zu ihrem promiskuitiven Verhalten gesehen wurde – sowie ihren als ungewöhnlich groß beschriebenen Geschlechtsorganen. Kanagakis Erklärungsansatz, nämlich die Herstellung eines kausalen, empirisch beweisbaren Zusammenhangs zwischen weiblichem Sexualtrieb und Kriminalität, schlug sich in den nachfolgenden medialen Verarbeitungen Odens wider: die Ursache weibliche Kriminalität wurde in physischen Besonderheiten gesehen, die hinfort dazu führten, Delinquentinnen zu dämonisieren (S. 24) und als ›barbarisch‹ und somit als Antithese zur ›modernen Japanerin‹ zu betrachten (S. 35).

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Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde die Literatur über dokufu um ein neues Genre ergänzt: während die Werke des ausgehenden 19. Jahrhunderts ausschließlich von männlichen Autoren verfasst wurden, berichteten nun kriminelle und bereits verurteilte Frauen in Selbstzeugnissen aus ihrem Leben; manche von ihnen nach der Freilassung auch auf der Bühne. Shimazu Omasa gilt als die erste »Giftfrau«, die sehr erfolgreich öffentlich aus ihrem Leben erzählte. Sie verbüßte aufgrund verschiedener Straftaten, darunter allerdings kein Mord, eine lebenslange Haftstrafe. Wegen guter Führung wurde sie jedoch frühzeitig entlassen und verdiente sich ihren Lebensunterhalt damit, ihre Reuebekenntnisse (zange) und die Erfahrungen ihrer Rehabilitierung – sie konvertierte im Gefängnis zum Buddhismus – auf Bühnen vorzutragen (S. 69–79).

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In den 1920er und 1930er Jahren intensivierte sich, angeregt durch die Rezeption westlicher Forschungen zur Evolution, Kriminalität, Psychologie und Psychoanalyse – insbesondere der Schriften von Richard von Krafft-Ebing und Sigmund Freud – die Ansicht, jegliche Art weiblicher Sexualität und die Neigung zu kriminellem Verhalten stünden in einem kausalen Zusammenhang (S. 115–116, 126–139). Die nachhaltige Wirkung dieser Sichtweise zeigt sich u.a. darin, dass im Jahr 1935 der konservierte Leichnam von Takahashi Oden erneut untersucht wurde, um die These zu bekräftigen, abweichendes Verhalten lasse sich anhand physiologischer Merkmale der Geschlechtsorgane erklären (S. 22 und 122–124). Dieser Vorstellung wurde durch den spektakulären Mord von Abe Sada an ihrem Liebhaber Ishida Kichizō im Jahr 1936 Nachdruck verliehen. Abe und Ishida gaben sich einem obsessiven Liebesverhältnis hin, das damit endete, dass Abe Ishida erwürgte und anschließend den Leichnam mit einem Messer kastrierte. Nach ihrer Festnahme wurde sie von Kriminologen, Medizinern und Psychoanalytikern eingehend untersucht, um die Ursachen und Motive für dieses Verbrechen zu ergründen. Dem autoritären, militaristischen und totalitaristischen Zeitgeist entsprechend kam man zu dem misogynen Schluss, dass Abe Sada zwar ein Einzelfall sei, letztlich aber in jeder Frau aufgrund ihrer spezifischen Sexualität und Psyche die Tendenz zu deviantem Verhalten angelegt sei und Frauen daher unter Kontrolle zu stehen haben (S. 124–135).

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Während in der Vorkriegszeit Takahashi Oden und Abe Sada als Beispiele für weibliche Kriminelle galten, die dem nationalen Fortschritt entgegenstehen, kam es in der Nachkriegszeit zu einem Wandel der medialen Verarbeitung der dokufu. Vor dem Hintergrund der Katastrophe, die das Ergebnis einer imperialistischen, ultra-nationalistischen Politik Japans war, kam es zu einer signifikanten Umdeutung von Sexualität und der sie symbolisierenden dokufu: Gesteigerte Sexualität wurde als anti-autoritärer, gegen nationalstaatliche Eingriffe in die Lebenssphäre des Einzelnen gerichteter Akt betrachtet. Abe Sada wurde nun zu einer Heldin stilisiert, die ihre Individualität durch übersteigerte Sexualität auslebte und dadurch eine Alternative zum etablierten Frauenbild darstellte (S. 136–137). Etliche der in der Nachkriegszeit gegründeten Illustrierten griffen dieses neue Frauenbild auf und ergänzten es um ebenso neue Vorstellungen von Männlichkeit. Im Gegensatz zur Vorkriegszeit, in der die Vorstellung einer imperialen, militärischen Maskulinität dominierte, bildete sich nun eine neue, masochistische Form von Männlichkeit heraus, die außerhalb der Einflusssphären des Staates und des Tennô positioniert wurde. Besonders aufschlussreich hierfür ist der skandalumwitterte Film Im Reich der Sinne (1976) von Ôshima Nagisa, der damals weltweit Aufsehen erregte. Ôshima verarbeitet hier zum einen die Figur der Abe Sada weiter, zum anderen kontrastiert er zwei männliche Stereotype: der eine ein Soldat, der nationalstaatliche Autorität und militärische Disziplin verkörpert, und der andere, Ishida Kichizō, der sich diesen Anforderungen verweigert und sich stattdessen bis zur völligen Selbstaufgabe Abe unterwirft. In diesem Kontext wird Ishida als antiautoritärer Rebell politisiert, der männliche Privilegien ablehnt und sich von der Gesellschaft isoliert. Abe kommt hierbei die Funktion zu, aufgrund ihres Handelns ein solches Verhalten erst ermöglicht zu haben (S. 153–161). Ishida Kichizōs masochistisches Verhalten wurde in Theaterstücken und Romanen der 1970er bis 1990er Jahre wiederholt verarbeitet und modifiziert (S. 161–170).

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Fazit

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Christin L. Marran legt ihrer Studie eine Vielzahl japanischsprachiger Quellen – Zeitungsberichte, Romane, medizinische und psychologische Traktate etc. – zugrunde, die einen Zeitraum von etwa hundert Jahren erschließen. Anhand der Nachzeichnung der historischen Genese der dokufu mit einem Einzelfall (Takahashi Oden) bis hin zu einem ubiquitären Topos eines weiblichen ›Anderen‹ in der Unterhaltungs- und Populärkultur sowie der Medizin, Psychologie und den Sozial- und Kulturwissenschaften der Nachkriegszeit zeigt sie überzeugend auf, dass die sozialen und kulturellen Konstruktionen von deviantem Verhalten ebenso wie dessen mediale Repräsentationen im historischen und politischen Kontext der Formierung des japanischen Nationalstaates zu sehen sind. Auf diesem Hintergrund wird deutlich, dass die Darstellung von Geschlechterbildern und –beziehungen in den Medien – Literatur, Journalismus, Theater, Film – einer ideologischen Instrumentalisierung unterliegt. Marran zeigt auf, wie sehr der Diskurs über kriminelle und deviante Frauen in den über den Modernisierungsprozess Japans eingebettet ist. In ihrer Studie verknüpft sie überzeugend literaturwissenschaftliche und medientheoretische Ansätze mit solchen aus der Wissenschaftstheorie und -geschichte, den Sexualwissenschaften und den gender studies. Poison Woman ergänzt sehr gut neue Forschungsarbeiten zur Kriminalliteratur, in denen ebenfalls der Topos der dokufu beleuchtet wird.  3

 
 

Anmerkungen

Die Literatur zu Japans Modernisierungsprozess hat mittlerweile unüberschaubare Ausmaße angenommen. Für eine konzise Überblicksdarstellung vgl. Marius Jansen: The Making of Modern Japan. Cambridge, MA: Harvard University Press 2000.   zurück
Das Leitbild der »guten Ehefrau« und »weisen Mutter« wurde im späten 19. Jahrhundert geprägt und bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs intensiviert und wirkte lange in die Nachkriegszeit nach, auch wenn der Begriff als solcher nicht mehr verwendet wurde.    zurück
Vgl. Sarin Kawana: Murder Most Modern: Detective Fiction and Japanese Culture. Minneapolis, MN: University of Minnesota Press 2008, S. 76, 83–85 und 103–105; sowie Mark Silver: Purloined Letters: Cultural Borrowing and Japanese Crime Literature, 1868–1937. Honolulu: University of Hawai’i Press 2008, S. 30–57.   zurück