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Tourismus an der Front

Zwischen Schlachtfeldtourismus, ideologischer Nutzung und Strategien der Camouflage

  • Charlotte Heymel: Touristen an der Front. Das Kriegserlebnis 1914 - 1918 als Reiseerfahrung in zeitgenössischen Reiseberichten. (Literatur - Kultur - Medien 7) Münster: LIT 2007. 416 S. EUR (D) 34,90.
    ISBN: 978-3-8258-9973-8.
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Kriegsreisen als radikale Fremderfahrung

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Im Zuge der boomenden Memoria-Forschung, die sich mit den sozialen und kulturellen Dimensionen von Erinnerung auseinandersetzt, wie auch des wachsenden kommerziellen Schlachtfeldtourismus in der Populärkultur 1 der letzten Jahrzehnte, fand der historische Fronttourismus des Ersten Weltkriegs in Hinblick auf sein kommemoratives Potential in vielen Studien Beachtung. 2 Allerdings wurden in diesen Arbeiten weniger Reisen zu Schlachtfeldern und Kriegsorten während des Krieges, sondern vor allem Reisen nach Kriegsende untersucht, die mit der literarischen Verarbeitung von Trauer und von Verlust, der Symbolisierung der Materialität von Erinnerungsorten, und der Konstruktion nationaler Gedenkräume den Fokus auf die Sakralisierung von Kriegsräumen im touristischen Kontext setzten.

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Touristisches Reisen an die Front während des Krieges

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Mit der vorliegenden Arbeit rückt nun ein anderes, sozialgeschichtlich wie kulturell wichtiges und bislang kaum untersuchtes Phänomen in das Blickfeld der Forschung: das touristische Reisen an die Front während des Krieges, das, wie die Arbeit deutlich herausarbeitet, rhetorisch, symbolisch und ideologisch völlig anders funktioniert. Während in der Touristenprosa der Nachkriegszeit Trauer und Totengedenken dominieren, steht in Frontreiseberichten Kriegsbegeisterung, nationales Pathos und Ausblendung der Kriegsgräuel an erster Stelle. Als touristische Praxis gehören diese Reisen im weitesten Sinne in den Kontext des Kriegstourismus, oder auch Dark Tourism, der sich vor allem in der Postmoderne steigender Beliebtheit erfreut – vgl. beispielsweise Robert Young Peltons einschlägigen Reiseführer The World’s Most Dangerous Places 3 –, jedoch theoretisch bislang weder in seiner historischen Dimension noch als zeitgenössische touristische Praxis hinreichend erforscht wurde. Von einigen Einzelstudien abgesehen fehlt bislang ein Forschungsbericht über Kriegserlebnisse in einem Rahmen touristischer Erfahrung.

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Kriegsreisebericht und Kriegswahrnehmung –
ein Beschreibungsmuster

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Hier hat nun Charlotte Heymel mit ihrer Dissertation in Bezug auf den Ersten Weltkrieg die Lücke geschlossen und ein umfassend recherchiertes und klug geschriebenes Buch vorgelegt. Die Materialfülle ist beeindruckend: Etwas über 120, für zeitgenössische Leser in ihrer Polemik und ihrem Pathos teilweise ausgesprochen schwer verdauliche deutschsprachige Kriegsreiseberichte, in Form von zivilen oder soldatischen Erlebnisberichten oder Feldpostbriefen von der West- wie der Ostfront werden in die Studie eingearbeitet, und dazu noch einmal 27 fremdsprachige Texte zum Vergleich herangezogen. Gemeinsam ist allen die Verwendung des literarischen Beschreibungsmusters des Wanderns oder Reisens als Mittel zur Strukturierung und Ordnung des zunächst unbeschreiblich erscheinenden Kriegserlebnisses. Heymel versteht das Beschreibungsmuster »Krieg als Reise« nicht als individuelle Erfahrung, sondern durchaus im Sinne einer symbolischen Funktionalisierung als Kennzeichen einer kollektiven Deutungs- und Verarbeitungsstrategie (S. 19) und stellt des weiteren die Frage, in welchen Formen denn das Genre des Reiseberichts übernommen und wie es funktionalisiert wird. Damit weist diese Studie ein doppeltes, sowohl kulturgeschichtliches wie literaturwissenschaftliches, Erkenntnisinteresse auf: Zum einen möchte sie mit der Analyse des Kriegsreiseberichts als eines Musters der Kriegswahrnehmung einen Beitrag zur Erfahrungsgeschichte des Ersten Weltkriegs leisten, zum anderen unter literaturwissenschaftlicher Perspektive die kriegspezifischen Formen der Verwendung des Genres Reisebericht analysieren.

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Krieg als Reise – zur funktionalen Vergleichbarkeit
von Krieg und Reisen

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Im ersten Teil stellt Heymel notwendige und grundsätzliche Überlegungen zu der strukturellen und funktionalen Vergleichbarkeit von Krieg und Reisen an. Auch wenn sich aus historischer Perspektive viele Analogien finden lassen, so macht Heymel doch deutlich, dass drei thematische Bereiche klar von einander getrennt werden müssen: der materielle Aspekt des Reisens in den Krieg, dessen metaphorische Verarbeitung, sowie das »Schreiben und Lesen von Reiseliteratur als Kriegsliteratur« (S. 38). Mit der zivilisationskritischen Wandervogelbewegung sowie der generellen Aufbruchs- und Erneuerungsrhetorik, die die Jahre vor 1914 kennzeichneten, werden im zweiten Kapitel für das Vorkriegsdeutschland zentrale soziale und kulturelle Bewegungen dargestellt, in denen das Reisen nicht nur als sinnstiftendes und Struktur gebendes Moment Bedeutung erlangt, sondern in einer unseligen Symbiose nahtlos mit der Kriegsbegeisterung synchronisiert, und Wanderlust gleich Kriegslust gesetzt wird. »Alldeutschland, du musst wandern, / Durch die Hölle ins Paradies, / Heute stehen wir noch in Flandern, / Doch morgen schon vor Paris« (S. 56) – dieses Zitat des expressionistischen Dichters Arno Holz drückt stellvertretend für viele andere den Zeitgeist aus, der in der kriegsbedingten Mobilität die Verwirklichung deutscher Aufbruchsutopien zu erkennen glaubte.

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Der Krieg als Reiseziel

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Die Analyse der genretypischen Beschreibungsmuster im dritten Kapitel weist auf wichtige ideologische Verschiebungen hin: zum einen tritt der Krieg selbst als Reiseziel an die Stelle geographischer Orte, und es werden kriegsbedingte Veränderungen der Reisekultur wie Restriktionen und Verlangsamungen gegenüber der privilegierten Darstellung des Krieges als Schauplatz und Initiator moderne-typischer Mobilität ausgeblendet (S. 79). Wenngleich der Krieg als Motor der Moderne gesehen wird, so sind die rhetorischen und literarischen Strategien der Kriegsreiseberichte jedoch keineswegs modernistisch, sondern bedienen sich, wie Heymel anhand ausführlicher Beispiele zeigt, konventioneller Darstellungsmuster und unverbindlicher touristischer Klischees.

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Zur Divergenz zwischen literarischer Form
und Erfahrungshintergrund

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Diese Erkenntnis ist allerdings so neu nicht und auch nicht auf den deutschen Kriegsreisebericht einzugrenzen. In seinem zum Klassiker der Kriegssekundärliteratur gewordenen Werk The Great War and Modern Memory 4 deutet Paul Fussell die Beschreibung des unbeschreiblichen Krieges in tradierten pastoralen oder heroischen Formeln, d.h. die Divergenz zwischen literarischer Form und Erfahrungshintergrund, als Ironie – für Fussell das zentrale literarische Verfahren der Weltkriegsliteratur. Man mag Fussells These folgen oder nicht, aber immerhin hat sie in den letzten Jahrzehnten zu einer fruchtbaren Auseinandersetzung geführt, auf die es sich gelohnt hätte, einzugehen. 5

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Funktionspotentiale des Kriegsreiseberichts

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Die Diskussion der Funktionspotentiale des Kriegsreiseberichts versackt zunächst etwas im wenig ergiebigen, deskriptiven Abarbeiten von sechs für die Gattung Reisebericht ausgemachten Funktionen, kann dann aber auf die resümierende Frage, warum denn das Genreangebot des Reiseberichts für die Bewältigung von Kriegserlebnissen wie auch die Sinnstiftung so brauchbar sei, schlüssige Antworten geben: Das Beschreibungsmuster »Krieg als Reise« war deshalb so persistent, so Heymels These, weil hier das radikal Neue in bewährte Formen gegossen und damit entschärft werden konnte, weil die narrative Struktur von Aufbruch, Fremderfahrung und Rückkehr eine ideale Sinnstiftungsstruktur darstellte, weil die Trivialisierung des Krieges in der Form des vertrauten Reiseberichtes dessen psychologische Bewältigung oder Verdrängung unterstützte und schließlich für die Leser zuhause der Krieg nicht nur verstehbar, sondern auch als ein in fernen Landen deutlich abgegrenzter, entfernter Ort markiert wurde.

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Der Reisebericht als Propagandamittel

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Ein zentraler Aspekt der Funktionsbeschreibung der Kriegsreiseberichte ist natürlich deren Kontextualisierung in der Propagandamaschinerie, der sich das fünfte Kapitel widmet. Die Propaganda schrieb zum einen sinnstiftende Rhetorik in Kriegsberichten vor, und untersagte zum anderen realistische Darstellungen des Kriegsgeschehens. Erst mit diesem Kapitel erschließt sich im Nachhinein auch das zweite Kapitel, das die konventionell touristische Rhetorik der Berichte im Kontext des Krieges nun nicht mehr lediglich als schwer verständliche verharmlosende Prosa erscheinen lässt, sondern auch als ideologisches Verpackungsmaterial des Nicht-Sagbaren. Die gründliche Untersuchung der Quellen, die genauen Aufschluss über die Bedingungen und Richtlinien für Frontreisen, über die Auswahl der Berichterstatter, die anvisierten Zielgruppen der Reiseberichte und die Propagandastrategien gibt, macht deutlich, wie sehr die Reiseberichte im Sinne der »Aufrechterhaltung der Kriegsbereitschaft in Volk und Heer« (S. 202) instrumentalisiert wurden. Dies war deshalb so leicht möglich, weil die Gattung Reisebericht per se disponibel, d.h. beliebig ideologisch funktionalisierbar ist und durch ihre Beschreibungsmuster bestens in den Propagandakontext passte, und zwar nicht bloß auf Grund der externen Produktions- und Rezeptionsfaktoren, sondern ebenso auf Grund ihrer konstitutiven inhaltlichen und methodischen Kategorien, wie beispielsweise der Thematisierung von Eigenem und Fremden, die in der Oppositionsstruktur des Krieges eine ganz besondere Dynamik entfaltet.

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Identität und Alterität

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Fremderfahrung, und damit im Reisebericht die Konstruktion und Deutung des Fremden, ist an die Vorstellung des Eigenen gebunden. Im Kriegsreisebericht wandelt sich das Fremdbild zum Feindbild, das Fremde wird propagandistisch zur Legitimation des Konflikts benützt. Diese Legitimationsstrategien funktionierten natürlich auf beiden Seiten der Front. Die deutschen Kriegsreisenden waren sich der Etikettierung der Deutschen als barbarian Huns durchaus bewusst und wendeten dieses Stereotyp in der Zeichnung der deutschen Soldaten als kulturbeflissene Schöngeister gezielt um:

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Coucy le Chateau ist ein herrliches Fleckchen Erde. […] In den efeubewachsenen Mauernresten klettert gerade ein Trupp Soldaten von der benachbarten Fliegerstation umher. Jetzt sammeln sie sich um ihren Leutnant, der den aufmerksam Lauschenden aus der Geschichte des Schlosses erzählt und Lage und Bestimmung der alten, an dem Gemäuer noch deutlich erkennbaren Säle und Räumlichkeiten erklärt. Schade, dass kein Zeichner einer der grossen englischen Zeitschriften hier ist, um dieses Bild der deutschen ›Hunnen‹ für ihre Leser festzuhalten!« (S. 285)
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Die in den Berichten gezeichnete deutsche Identität beruht auf Humanität, Ordnungsliebe, Schicklichkeit, Tapferkeit und Kultur, und steht in scharfen Gegensatz zu den Charakter- und Verhaltenszuschreibungen der Feinde. Berichte von der Westfront zeichnen gemeinhin das schematisierte »Bild von Dekadenz und Unkultur«, während der Osten als ein von »primitiver Archaik« bestimmter Raum konstruiert wird (S. 241). Feindschaft wird ontologisiert und als historisches Kontinuum verstanden, vor dessen Hintergrund das Schreckensszenarium einer omnipräsenten Bedrohung entfaltet werden kann.

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Authentizität und Literarizität

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Warum im siebten und achten Kapitel mit den Begriffen Authentizität und Literarizität noch einmal der Darstellungsmodus der Kriegsreiseberichte aufgegriffen wird, ist mir nicht ganz ersichtlich. Zwar sind Heymels Ausführungen durchaus stimmig und gut belegt, gehörten m. E. jedoch eher in den ersten Teil der Arbeit, der sich mit den genretypischen Mustern des Reiseberichts befasst.

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Im abschließenden Vergleich mit fremdsprachigen Kriegsreiseberichten situiert Heymel ihr Textkorpus in einem über Europa hinausreichenden Kontext und macht deutlich, dass das touristische Beschreibungsmuster des Krieges weder eine deutsche Besonderheit darstellte und auch nicht auf den ersten Weltkrieg beschränkt blieb, sondern genauso auch im Zweiten Weltkrieg ideologisch genutzt wird.

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Touristische Beschreibungsmuster
als Camouflagestrategien?

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Die Studie deutet die ideologische Ausrichtung der Frontreiseberichte im wesentlichen aus dem Kontext der kulturellen Vorkriegsbewegungen, in denen Aufbruch und Wandern einen hohen symbolischen Stellenwert hatte, sowie der Kriegspropaganda heraus, die ebenfalls die stereotypen Beschreibungsmuster touristischen Reisens und touristischer Fremderfahrung in vielfacher Weise sinnstiftend zu nutzen vermochte. Dem ist sicherlich zuzustimmen, und die gut gewählten Textbeispiele belegen allesamt die differenzierten Ausführungen der Verfasserin, jedoch stellte sich mir vor allem in Hinblick auf die Feldpostbriefe die Frage, ob nicht der Rolle der Zensur in dieser Arbeit generell zu wenig Raum und Beachtung beigemessen wird. Während die Frontreiseberichte sicherlich unproblematisch mit den gewählten Erklärungsmustern zu deuten sind, so könnten doch touristische Beschreibungsmuster in Feldpostbriefen auch als zensurbedingte Camouflagestrategien zu verstehen sein. Die Umschreibung des Kriegs- als ein Reiseerlebnis wäre damit weniger als naiv und ideologisch begründet zu verstehen, denn als intentionale literarische Strategie. Mit diesem Einwand bin ich wieder bei Fussels bereits genanntem Ironie-Modell, und möchte es dabei auch bewenden lassen – endgültig klären lässt sich diese Frage nicht, und soll auch nicht beckmesserisch den Verdienst dieser gründlich recherchierten, verständlich und jargonfrei geschriebenen und unbedingt empfehlenswerten Arbeit schmälern.

 
 

Anmerkungen

Vgl. Holts Tours Battlefields & History. URL: http://www.holts.co.uk/index.html (letzter Zugriff am 22.02.2008).   zurück
Siehe David W. Lloyd: Battlefield Tourism. Pilgrimage and the Commemoration of the Great War in Britain, Australia and Canada 1919–1939. Oxford, New York 1998; J. M. Winter: Sites of Memory, Sites of Mourning: The Great War in European Cultural History, Cambridge 1995.   zurück
Robert Young Pelton: The World’s Most Dangerous Places. Harper Collins 2003.   zurück
Paul Fussell: The Great War and Modern Memory [1975]. New York: Oxford University Press 2000.   zurück
Fussell ist Heymel nicht unbekannt: zumindest in einem ins Deutsche übersetzten Aufsatz wird er in der Bibliographie erwähnt.   zurück