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Das Archiv der Geopolitik

Niels Werbers Vermessung der medialen Weltraumordnung

  • Niels Werber: Die Geopolitik der Literatur. Eine Vermessung der medialen Weltraumordnung. Carl Hanser 2007. 336 S. Gebunden. EUR (D) 24,90.
    ISBN: 978-3-446-20947-3.
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Was ist ›Geopolitik‹ an der Wende zum 21. Jahrhundert? Etliche Cyber-Enthusiasten und eine publizistische Vorhut von Medien- und Sozialtheoretikern propagierten seit den neunziger Jahren, Politik sei mit der ›Netzwerkgesellschaft‹ und dem World Wide Web im globalen Maßstab implementiert worden; einige erfreuten sich gar der Aussicht auf die politische Partizipation aller. Doch ging das universalistische Versprechen dieser ›Weltdemokratie‹ mit einer doppelten Bagatellisierung einher: Einerseits nämlich erklärte man physische Gewalt zur Nebensache, insofern die fortan entscheidende Kommunikation ja von körperlicher Anwesenheit absehe; andererseits behauptete man, an die Funktionsstelle des ›realen‹ sei nunmehr ein ›virtueller‹ oder ›atopischer‹ Raum getreten.

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Vor einem klassischen Begriff von Politik, wie ihn Niels Werber aus der Tradition von Thomas Hobbes bis Carl Schmitt ableitet, vermag dieses Credo freilich nicht zu bestehen. Liegt nämlich die politische ultima ratio in der Verfügung über ›reale‹ Körper und Räume, so kann eine ›Gesellschaft der Weltkommunikation‹ nicht politisch und schon gar nicht geopolitisch sein. Vielmehr läuft sie auf die Trugbilder einer unbeschränkten und posthistorischen Medienmacht hinaus – auf »technoide Visionen einer ›totalen‹ Gesellschaft, deren Blaupausen bereits vor dem Zweiten Weltkrieg zirkulieren.« (S. 28) Auch und gerade die Rhetorik der ›Aufhebung‹ oder ›Überwindung‹ des Raums fügt sich in das diskursive Feld der Geopolitik, das Werber in seiner Studie freizulegen versucht. Schließlich hatte sich spätestens in den dreißiger Jahren die doppelte Perspektive abgezeichnet, mittels Volksempfänger eine »ständige Aktualisierung der Volksgemeinschaft« vorzunehmen, oder aber die Welt per wireless communication »in ein globales Kaffeehaus plaudernder Freunde« zu verwandeln (S. 187).

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Spricht man – nicht zuletzt vor dem Hintergrund des war on terror – nunmehr verstärkt von einer ›Wiederkehr des Raums‹ und einer ›Renaissance des Territorialprinzips‹, vom ›Kampf der Kulturen‹ und von einer ›imperialen Hegemonie‹, so werden damit nicht nur die Informationsgesellschaft und der Cyberspace an ihre militärischen Grundlagen erinnert. Systemtheoretisch gesprochen zeigt sich hier auch die Konkurrenz unterschiedlicher »Selbstbeschreibungen der Weltgesellschaft« (S. 33). Diese können auf eine ›bodenlose‹ oder aber im strikten Sinne politische Semantik setzen – über Weltordnungen verhandeln sie unweigerlich geopolitisch, nämlich mittels einer bestimmten Disposition über den Raum. Wo von ›Weltordnungen‹ die Rede ist, liegt immer schon eine ›Welt-Raumordnung‹ zugrunde.

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Fluchtlinien geopolitischer Semantik

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Unter diesen Vorzeichen ist ›Geopolitik‹ für Werber nicht nur ein eigentümliches diskursives Feld oder eine bestimmte Option der Selbstbeschreibung. Etliche Basistheoreme des späten Carl Schmitt und der ›Geophilosophie‹ von Gilles Deleuze und Félix Guattari dienen ihm als Korrektiv gegenüber den medienwissenschaftlichen und systemtheoretischen Programmen einer ›Weltkommunikation‹, und schlagende Evidenz kommt nicht zuletzt militärstrategischen Papieren zu, etwa der Joint Vision 2020 der Vereinigten US-Stabschefs: »Information Superiority« dient hier nämlich explizit der »Full Spectrum Dominance« (S. 16) und belegt damit ein aktuelles Hegemoniestreben nach geopolitischen Maßgaben.

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In derlei militärstrategischem Klartext, aber auch auf der Ebene massenmedialer Selbstbeschreibung – etwa in den ›Weltraum-Ordnungen‹ der Science Fiction – zeigt sich für Werber, dass Geopolitik bis heute betrieben wird – an den Schaltstellen der Macht so sehr wie auf dem Markt der Popkultur. Nur ist sie eben in den USA kommunikabel, in Deutschland aber weitgehend Anathema. Denn gerade an dieser ihrer Geburtsstätte habe man im öffentlichen wie akademischen Diskurs eine »Flucht aus dem Raum« (S. 33) angetreten, um sich dem geopolitischen Erbe des Nazismus nicht stellen zu müssen. Werbers Projekt geht exakt den umgekehrten Weg, indem es die geopolitischen »Fluchtlinien« (S. 36) zurück ins 19. Jahrhundert verfolgt.

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Ansatzweise mag man bereits in der ›Klimatheorie‹ oder ›Politischen Geographie‹ der Aufklärung jenes geopolitische Denken erkennen, das sich bis ins 20. Jahrhundert zwischen Natur- und Sozialwissenschaften, zwischen der Erforschung natürlicher Begebenheiten und der Beobachtung sozialer Tatsachen halten sollte. Kontur hat es jedoch erst bekommen, als Friedrich Ratzel, Mitbegründer des Alldeutschen Verbands, seine Anthropogeographie mit darwinistischen und migrationstheoretischen Elementen versetzte und auf dieser Grundlage das ›organische‹ Zusammenwirken von geographischem Raum und natürlicher ›Lage‹ mit politischer, kultureller und ökonomischer Aktivität behauptete. Der schwedische Staatsrechtler Rudolf Kjellén formulierte daraufhin die Doktrin vom Staat als geographischen Organismus, woraus sich später die nazistische ›Raumplanung‹ entwickelte, während sich im Umkreis des Geographen und ehemaligen Generalmajors Karl Haushofer eine regelrecht geopolitische Schule konstituierte. Dieser rechnete sich Carl Schmitt nicht unmittelbar zu, doch entwickelte er als ›Geojurist‹ und ›Raumontologe‹ eine völkerbundsfeindliche Doktrin der ›Großraumordnung‹, ehe er 1950 seinen völkerrechtshistorischen Nomos der Erde veröffentlichte.

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Ratzel, Haushofer und Schmitt haben jenen »Zusammenhang von Raum, Medien und Macht« hergestellt, den Werber »als geopolitisches Prisma« zur Beobachtung der »aktuellen Weltordnungsentwürfe« (S. 37) ansetzt. Und mehr noch: Wenn die geopolitische Schule neben die »Lagebeziehungen, Oberflächenformen«, neben den »Weltverkehr und -handel« und neben das Wirken »geopolitische[r] Einheiten« auch »Rassenbau, Wanderbewegung« 1 stellt, fügt sie jene »biopolitische Dimension« hinzu, die für Werber »in der geopolitischen Semantik des 20. Jahrhunderts mühelos nachzuweisen ist« (S. 37). Gerade diese rassistische Dimension war es, die die Naturalisierung und zuletzt die blutige Radikalisierung der Geopolitik vorangetrieben hat. Mit ihr ist überdeutlich geworden, dass soziale Selbstbeschreibungen nicht bloß als Reflexionsformen, sondern auch als real wirksame, weil rückgekoppelte Operationen innerhalb sozialer Systeme wirken können. Medien- und systemtheoretisch sind sie nicht nur ein imaginativer Abhub, sondern ein triftiges Problem. Deshalb untersucht Werber die geopolitische Semantik als ein Faktum literarischer Kommunikation; und deshalb führen ihn die ›Fluchtlinien‹ deutscher ›Weltkommunikation‹ zurück ins literarische Archiv des 19. Jahrhunderts.

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Geburtshelfer der Geopolitik

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Mit Blick auf den geopolitischen Werdegang des deutschen Volks stellte Haushofer 1931 fest, im Heiligen römischen Reich habe es »seine eigene Volkskraft zu seinem größten Schaden dem übervölkischen Reichsgedanken zum Opfer gebracht.« 2 In Kleinstaaterei erschöpft, konnte das Reich dem napoleonischen Imperialismus nur unterliegen und wurde folgerichtig zerteilt, womit ›das deutsche Volk‹ erst recht keine politische Größe mehr darstellte. Umgekehrt kann man indes behaupten, dass in Deutschland gerade seiner nur frei schwebenden, bloß sprachlich-kulturellen Existenz wegen ein Denken zu entstehen vermochte, das die späteren Programme der Geopolitik vorzeichnete. Nicht umsonst feierte die linientreue Germanistik des Nationalsozialismus Heinrich von Kleists Hermannsschlacht (1808) »als Gründungstext eines geopolitisch verstandenen Reichs eines biopolitisch verstandenen Volks« (S. 48), ehe die Nachkriegsphilologie das Stück immer wieder aus dem Korpus der ›eigentlichen‹ Kleist-Werke auszuschließen versuchte.

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Werber sieht zunächst in Kleists Katechismus der Deutschen (1809) eine Art Programmschrift des deutschen Patriotismus und seiner Tautologien: Das Vaterland ist zu lieben, weil es das Vaterland ist; doch soll sich Deutschland gerade durch die bedingungslose Liebe, ja Todesbereitschaft seiner Kinder von einer Sprach- und Kulturgemeinschaft in eine geopolitische Realität verwandeln; und dazu dient die Hermannsschlacht als »Lehrstück« (S. 47), wenn nicht gar als Mittel der Mobilisierung. Denn nicht nur wird hier – im Rekurs auf den germanischen Gründungsmythos par excellence – die mystische Leibeinheit von Führer und bedingungsloser Gefolgschaft vorexerziert; das Stück entwirft auch das Szenario eines souveränitätsrechtlichen Ausnahmezustands und folgert daraus die Notwendigkeit des ›totalen Kriegs‹, der nicht nur wie die französische levée en masse taugliche Zivilisten rekrutiert, sondern die Mobilmachung des gesamten Volks erfordert.

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Anknüpfend an Carl Schmitts und Wolf Kittlers Lesarten, die Kleist vor dem Hintergrund des preußischen Landsturmedikts (1813) als einen literarischen Vordenker des ungehegten und entfesselten Partisanenkriegs verstehen, sieht ihn Werber darüber hinaus als einen Geburtshelfer geopolitischen Denkens, habe er doch mit literarischen Mitteln dessen »Evidenzen« (S. 52) erzeugt, lange bevor eine regelrecht geopolitische Doktrin überhaupt formuliert werden konnte. Beispielsweise denke Kleist die spezifische ›Lage‹ zunächst militärgeographisch, in einem zweiten Schritt aber bereits geopolitisch, weil die ›totalen Mittel‹ der arminischen Kriegsführung zuletzt auf die Eroberung und Sicherung einer natürlichen Grenze hinauslaufen, bis zu der sich künftig der ›germanische Lebensraum‹ erstrecken soll. Kleist habe also den politischen Auftrag formuliert, den defensiven Partisanenkrieg mit einem Eroberungskrieg abzuschließen, an dessen Ende die geo- und biopolitische Einheit von Reich und Volk steht.

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Das Stück zeichnet sich für Werber dabei nicht nur durch etliche Resonanzen mit Fichtes Reden an die deutsche Nation oder Clausewitz’ Schrift Vom Kriege aus. Kleist erteilt auch eine eigentümliche Lektion darin, wie im Volkskrieg die affektive Intensität der Feindschaft und die Effizienz des militärischen Nachrichtensystems zu steigern sei. Hermann etwa lässt die Leichenteile einer – angeblich vom Feind geschändeten – germanischen Jungfrau an die 15 Stämme Germaniens verschicken, um damit die Reichszerstückelung sinnfällig werden zu lassen; und Kleist selbst fordert mit seinem Entwurf einer Bombenpost (1810) ein ›raumüberwindendes‹ Nachrichtensystem, das anders als der Sömmering’sche Telegraph wireless funktioniert, das anders als Chappes und Napoleons Sémaphore Interzeptionen und Unterbrechungen ausschließt, und das überdies keine codierten Zeichenkolonnen, sondern Klartext oder gar Materie verschickt. Ermöglicht Kleists Bombenpost nach dem Muster von Hermanns Schickung eine Semiotik der Realpräsenz, so wird die ›Post‹ ihrerseits zu einer ›Bombe‹ und die Nachricht zu einer Waffe. Medien und Macht, Blut und Boden fügen sich in Kleists patriotischen Texten zum geopolitischen Prisma.

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Das preußische Gekerbte,
das amerikanische Glatte

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Für den geopolitischen take off des preußischen Denkens zeugt Werber zufolge auch Hegels Philosophie des absoluten Geistes. Hegel nämlich hat, nicht anders als Herder, den militärgeographischen Begriff der ›Lage‹ zu einem Schlüsselfaktor von Kulturentwicklung und Nationenbildung erklärt. Einerseits kennzeichnet seine Philosophie der Geschichte die »bellizistische Pointe« (S. 95), dass ›Kultur‹ nur als Resultat bewaffneter Konflikte entstehen kann; andererseits lässt sich diese weltgeschichtlich notwendige Negativität geopolitisch als produktive ›Raumnot‹ verstehen – als, wie Haushofer sagen wird, »Gedränge von zu viel Geist in zu wenig Raum«. 3 Dabei zeigt sich für Hegel vor allem an Nordamerika, wie die Weiten des Kontinents der Urbevölkerung von jeher eine Flucht in den Raum ermöglicht und daher die blutige, aber Kultur stiftende Auseinandersetzung erspart haben; und selbst nach Ankunft der Europäer konnte dort keine ›Kulturlandschaft‹, sondern allenfalls eine ›Zivilisation‹ entstehen.

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Werber verfolgt die semantische Karriere dieser ›raumontologischen‹ Überlegungen von den älteren Dualismen – etwa Amerika als Körper, Europa als Geist – bis hin zur Typenlehre des flexiblen und mobilen, pragmatischen und erinnerungslosen Yankees, der sich immer wieder mit dem Zerrbild des anpassungsfähigen und ›nomadischen Juden‹ überlagert. Dieser standardisierte und indifferente Massentypus ist so etwas wie die anthropologische Gelenkstelle für die Entwicklung des künftigen Imperiums: Die Kolonisten haben nämlich weniger einen Kulturraum geprägt, als dass ihnen vom kulturell evakuierten Raum Amerikas ihr geistloser Charakter verpasst wurde; und die ehemaligen Kolonien machen keineswegs an der kontinentalen frontier halt, sondern zielen auf die Weltumrundung und damit die imperiale Globalisierung ihrer bodenlosen Zivilisation. Für Werber sind diese Ausläufer preußischer Geschichtsphilosophie nicht nur wegen ihrer im engeren Sinne geopolitischen Folgen von Bedeutung. Sie reichen noch bis ins 20. Jahrhundert und bis ins Denken der deutschen Sozial- und Kulturwissenschaftler, denn: »Alle haben Hegel gelesen.« (S. 76)

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Die Schmitt’schen und Deleuzianischen Basisunterscheidungen von ›Land und Meer‹ sowie von ›glattem‹ und ›gekerbtem Raum‹, die Werber den Folgekapiteln zugrunde legt, sind freilich, wie man anmerken könnte, ihrerseits bereits bei Ratzel und Hegel vorgeprägt. 4 Jedenfalls dienen sie Werber zur Gegenprobe aufs ›Weltbild‹ preußischer Prägung: Herman Melville nämlich habe in Moby Dick (1851) einen ›nomadischen‹ Modus der Raumnahme beschrieben, der sich nicht auf den geopolitischen nomos, nicht auf einen von ursprünglichen ›Nahmen‹ gekerbten Raum beschränkt, sondern Globalisierung vielmehr auf den glatten Raum des Meeres verlegt – dorthin, wo keine Grenzen zu ziehen und keine Besitztitel festzuschreiben seien, wo vielmehr die wolfish world des Naturzustandes alle festen Rechts- und Staatsordnungen liquidiert habe und es zu einer fortwährenden Neuverteilung komme.

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Dass Melville mit dem Wal gerade das Hobbes’sche Staatssymbol des Leviathan zur Jagd freigibt und damit die Auflösung des nomos, der Einheit von Ortung und Ordnung, betreibt, dies erweise die maritime und amerikanische Globalisierung umso mehr als Gegenkonzeption zur preußischen Geopolitik. Die Pequod ist ein Staatsschiff, weil sie Captain Ahabs archaisches Königtum beherbergt; sie ist aber auch ein Medium der ›Deterritorialisierung‹, weil sie »rechtsfreie Räume« (S. 115) auf irreguläre Weise durchpflügt und ihre Besatzungsmitglieder weniger hörige Untertanen als flexible shareholder darstellen. Während Handels-, Kriegs- und selbst Piratenschiffe einer geopolitischen Ordnung, einem gekerbten Raum zugehören, seien Waljäger die Vorkämpfer einer »hyperkapitalistischen« (S.  124) Weltraumordnung des free trade und der peaceful penetration. Mit ihnen stelle sich bereits Mitte des 19. Jahrhunderts die – bis heute brennende – Frage nach einer internationalen Ordnung entgrenzter, weil medial und kapitalistisch durchherrschter Räume.

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»Geobiopolitik«

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Einen abermaligen Perspektivwechsel nimmt Werber mit seiner Lektüre von Gustav Freytags Soll und Haben (1855) vor: Hier wird die Alternative von gekerbten und glatten Räumen vom Lande aus beobachtet, nämlich von Ostrau aus, damals in der Grenzregion zwischen Preußen, Österreich und Russland sowie im Dunstkreis der polnischen Unabhängigkeitsbestrebungen. Zentrum der Handlung ist ein Handelshaus, Schaltzentrale eines Netzwerks von Transaktionen und Verkehrswegen in die weite Welt des Meeres und der Kolonien, und vor Ort ist es zunächst der Jude Veitel Itzig, der durch seine Machenschaften etablierte Bindungen zwischen Blut und Boden, wie sie etwa ein alteingesessenes Familiengut darstellt, in mobiles Kapital auflöst. Werber interessiert indes weniger diese notorisch antisemitische Figurenzeichnung als der historische Befund, »daß die deutschen Händler politisch für ›Kerbung‹ sind, ökonomisch aber für Mobilisierung«. (S. 151 f.) Darin prägt sich nicht nur die Typologie zwischen ›jüdischem Nomaden‹ und ›germanischem Bauer‹ aus, sondern ein weiterreichender geopolitischer Dualismus – denn künftig stehen, wie Schmitt 1941 schreiben sollte, »die Assimilierungs- und Schmelztiegel-Ideale der Imperien westlicher Demokratie« im »schärfsten Gegensatz zu einem volkhaft aufgefaßten, alles volkliche Leben achtenden Reichsbegriff.« 5

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Gegen ›die Juden‹ und ›die Kapitalisten‹ führt man mithin einen Zweifrontenkrieg nach innen wie nach außen, weshalb Werber spätestens für diesen Zeitraum von einer regelrechten »Geobiopolitik« (S. 168) spricht. Freytags Roman selbst buchstabiert die sozialdarwinistische Komponente der Raumnahme zuletzt in der Konfrontation zwischen polnischen Aufständischen und deutschem Militär aus: Wo die polnischen Partisanen herrschen, befindet sich Freytags Semantik zufolge eine slawische Sahara, Wüste oder Steppe, während das deutsche Militär gegen eine polnische frontier vorrückt, das Land urbar zu machen, Rechtssicherheit zu garantieren und städtische Trutzburgen zu errichten verspricht. Unklar wird in diesem Szenario freilich, ob nun »die Differenz von glattem und gekerbtem Raum« oder nicht vielmehr die zwischen »Nomaden« und einem germanischen »Geschlecht von Kolonisten und Eroberern« (S. 160, 169) den Ausschlag gibt. »Fernwirkungen« (S. 170) von Freytags Roman erkennt Werber jedenfalls in etlichen völkischen und Unterhaltungsromanen um 1900, in Thomas Manns Betrachtungen eines Unpolitischen (1918), in der eigentlichen geopolitischen Schule und natürlich in Hans Grimms Volk ohne Raum (1926).

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Die Weltgemeinschaft und ihre Nicht-Kriege

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Wie wenig völkische Geopolitik bei ›Blut und Boden‹ halt macht, belegen für Werber neusachliche Romane, etwa Arnolt Bronnens Kampf im Aether (1935). Bronnen hatte mit O.S. (1926) nach dem Vorbild Freytags den deutschen Kampf um Oberschlesien geschildert, dabei aber den Staat bzw. die Weimarer Republik als »wirklichen Feind« (S. 181) denunziert. Die mystische Verbindung von Raum und Volk wird in Bronnens späterem Roman deshalb zu einer Frage der Medien- oder Radiotechnik, das deutsche Schicksal zu einer Frage der Schickung oder Sendung. Wie Werber zeigt, entscheidet allein die programmatische ›Selbstbeschreibung‹ darüber, ob eine ›raumüberwindende‹ Technik wie das Radio – nach Brechts Maßgabe – emanzipatorisch und kosmopolitisch, oder – nach Jüngers Konzeption – als »totales Nachrichtenmittel« (S. 181 f.) wirken soll. Von Ernst Kapp, der lange vor 1900 die raumrevolutionierende Wirkung von Medienverbünden konstatiert hat, über die Weltbürgertumsideen nach dem Ersten Weltkrieg bis hin zu den Diagnostikern der gegenwärtigen ›Weltkommunikation‹ (Manuel Castell, Helmut Willke, Norbert Bolz) verfolgt Werber die zusehends geopolitisch abgewandte Seite Medientheorie.

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Weshalb sich bis in die Gegenwart trotz offensichtlich geopolitischer Interessenswahrung dennoch eine einseitig ›bodenlose‹ Semantik der Medieneuphorie halten konnte, erläutert Werber hier nur andeutungsweise (vgl. 130 f.). Eine mögliche Erklärung jedoch hat er an anderer Stelle gegeben 6 : Es ist das völkerrechtlich-militärstrategische System des ›Nicht-Kriegs‹, das als Krieg deklarierte Aktionen der Raumnahme ausschließt, aber durch völkerrechtlich legitimierte Kollektivzwangsmaßnahmen mehrerer Staaten, durch begrenzte Interventionen und polizeiartige Operationen der Weltgemeinschaft ihren unvermeidlichen (wenn auch invisibilisierten) geopolitischen Rahmen gibt. Derartige Präventivkriege, die – zumeist unter humanitären Vorzeichen geführt – mit einer Kriminalisierung eigenständiger Kriegshandlungen einher gehen, hat Schmitt bereits 1938 als eine »abnorme Zwischenlage zwischen Krieg und Frieden« 7 beschrieben – sozusagen als völkerrechtlich sanktionierte Weltraumordnung, die der kosmopolitische, liberale und westliche Imperialismus der völkischen Geopolitik entgegensetze.

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Wenn in der ›westlichen Welt‹ seither geopolitisches Denken noch offen artikuliert wird, dann nur mehr in Militärpapieren oder Trivialepen nach Art von J.J.R. Tolkiens Lord of the Rings. Wie Werber in seiner minutiösen Lektüre nachweist, verarbeitet dieses Epos exakt jene geopolitischen Leitvorstellungen, die im Ersten und Zweiten Weltkrieg neben den Achsenmächten auch die Alliierten vertreten haben: Vorstellungen vom Kampf der Kulturen, der sich als Kampf der Rassen entpuppt; vom wölfischen Naturzustand, der evolutionäre Vorrechte über positives Recht stellt; und von der Notwendigkeit einer dauerhaften Landnahme, die in die Gründung von Großräumen und Großreichen münden soll. In der Phantastik hat die Geobiopolitik offensichtlich ihre semantische »Heimstatt« (S. 220) gefunden.

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Zu guter Letzt scheint auch George Lucas’ kinematographische Star-Wars-Saga das Erbe der Mittelmächte angetreten zu haben. Wenn nämlich das Science Fiction-Kino die geobiopolitische Semantik als technische Wunschprojektion oder als ›immersives‹ Medienensemble umsetzt, so wurde diesem Verfahren bereits in den Romanen, Medientheorien und medienpolitischen Maßnahmen der 1920er Jahre vorgedacht, etwa in Salomon Friedlaenders Graue Magie (1922), bei Hugo Münsterberg oder anlässlich der UFA-Gründung. Sein ›Prisma‹ lässt Werber zuletzt ein ganzes Spektrum dieser technisch implementierten Geobiopolitik erkennen: von einer Kybernetik zweiter Ordnung über umfassend gouvernementale Interventionen von Medizinern bis hin zu Lucas’ kosmischem Ausnahmezustand und gerechtem High-Tech-Vernichtungskrieg. Welche »Rückschlüsse auf die zeitgenössische Geo- und Biopolitik« (S. 268) daraus zu ziehen wären, das freilich überlässt er zuletzt dem Leser.

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Fazit: Geopolitik und ihre
medienwissenschaftliche »Vermessung«

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Niels Werber nimmt seine »Vermessung der Weltraumordnung« auf so ausgreifende wie elegante Weise vor. Unter den Studien, die die geopolitische ›Erbschaft‹ poetologisch aufarbeiten, dürfte sie wenig Gleichrangiges haben. Denn was hier ›vermessen‹ wird, ist jenes literarische Archiv, aus dem sich die geopolitischen Maßgaben – sei es als bloßes Konzept, sei es als konkrete ›diskursive Praktik‹ – letztlich speisen. In diesem diskursanalytischen Sinne ist wohl auch der Buchtitel »Die Geopolitik der Literatur« zu verstehen: Obschon zuweilen von ideologischen ›Vorwegnahmen‹ (S. 42), von literarischen ›Stiftungen‹ (S. 91) oder etwa von einer ›Saat‹ (S. 180) die Rede ist, die dann später politisch aufgegangen sei, scheint das von Werber erschlossene diskursive Feld nicht das einer kontinuierlichen Werk- oder Ideengeschichte, sondern ist es vielmehr von ›literarischen Fluchtlinien‹ durchzogen – von dauernden konzeptuellen Neuansätzen, laufend entstellten Mythographien und unverhohlen künstlichen Naturalisierungen.

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Man könnte auch von einer Verwilderung und Fortwucherung jener Semantik sprechen, die in etablierten, politischen und akademischen Sprachregelungen zunächst ›gepflegt‹, zuletzt aber vermieden wird. Was Werber an ›sozialen Selbstbeschreibungen‹ interessiert, ist ihre Wechselwirkung mit der akademischen und politischen Leitsemantik sowie ihre Übersetzung in »massenmediale Skripte«. Wie er gegen Luhmann geltend macht, formieren sich »plausible Hintergrundannahmen« nicht von selbst zu jenem »Wissensgefüge« (S. 237 f.), das dann auf die Evolution von (Welt-)Gesellschaften zurückwirkt, sondern erst mittels »literarischer Energie« und durch die »Evidenz großer Narrationen« (S. 47). ›Geobiopolitisch‹ können Medien mithin auf die eine oder andere Weise wirken, je nach ihrem Zusammenschluss mit (literarischen) »Selbstbeschreibungsformeln der Gesellschaft« (S. 187). Diese Korrektur am systemtheoretischen Medienbegriff, ebenso aber die nebenbei umrissene Wissenschaftsgeschichte deutscher (und implizit auch amerikanischer) Medientheorie machen die Studie schließlich zu einer medienwissenschaftlichen ›Vermessung‹.

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Anschließen könnte hier eine Profilierung der französischen geohistoire, die ihre Raumforschung von den teleologischen Elementen der deutschen Geopolitik zu befreien suchte, und der géophilosophie, die Werbers eigene Begriffsarchitektur ja wesentlich stützt und auf Ebene philosophischer Begriffsschöpfung den spezifisch deutschen ›Gründungsfuror‹ verfolgt. Zu klären wäre überdies, welche ›Poetologie des Wissens‹ den im engeren Sinne ›geopolitischen‹ Schriften zugrunde liegt: welche (etwa darwinistischen) Szenarios und welche (bildlichen oder narrativen) Evidenztechniken ihre Doktrinen erst möglich gemacht haben; inwiefern sie ein kompensatorisches Projekt im Wechsel von Substanz- zum Funktionsdenken darstellen, wenn sie etwa formale Bedingungen der Erfahrungen oder soziale Tatsachen zu natürlichen Begebenheiten verwandeln; und welcher systematische Stellenwert hier schließlich der ›Ideologie‹ selbst zukommt, die die geopolitische Schule ja zu ihren eigenen Untersuchungsgebieten gezählt hat. 8

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Zu guter Letzt wäre die maritime Geopolitik als solche, und nicht nur – wie nach Carl Schmitts Vorgaben – als das Andere einer landfesten und nomos-basierten Konzeption von Geopolitik herauszuarbeiten. Mitnichten nämlich war das Meer seit jeher ›lawless‹, sondern zunächst dem Römischen Recht, später gewohnheitsrechtlichen und in der Neuzeit dann völkerrechtlichen Bestimmungen unterworfen. Die ›Kerbung‹ des Meeres ist nicht fiktiver als die des Landes. Im 17. Jahrhundert etwa war es von Seiten der englischen Stuarts genauso resoluten Souveränitätsansprüchen ausgesetzt wie das europäische Festland von Seiten der Kontinentalmächte, während ›Ortung‹ und ›Nahme‹ spätestens seit dem 19. Jahrhundert navigations- und waffentechnisch problemlos möglich sind. Wenn die Hochsee (ebenso wie der Weltraum) bis heute ein ›staatsfreier Raum‹ ist, dann nur, weil sie durch internationales Recht zu einem solchen erklärt wurde. Und so wie der Begriff der ›nicht-kriegerischen Maßnahme‹ auf die Seeblockaden der Heiligen Allianz zurückgeht, haben Ratzel und Haushofer wesentliche Impulse von Alfred Thayer Mahans Doktrin der sea power erhalten. Zuletzt zeichnet es Niels Werbers Studie aus, dass sie auch derlei Perspektiven nicht ausschließt, sondern ganz im Gegenteil eröffnet.

 
 

Anmerkungen

Karl Haushofer, Erich Obst, Hermann Lautensach und Otto Maull: Über die historische Entwicklung des Begriffs Geopolitik. In: Dies.: Bausteine zur Geopolitik, Berlin: Vowinckel 1928, S. 3–28, hier S. 18.   zurück
Karl Haushofer: Geopolitik der Pan-Ideen. Berlin: Zentral-Verlag 1931, S. 76.   zurück
Ebenda, S. 70.   zurück
Vgl. etwa Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. Bd. 12 der Werke. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1995, S. 119 und Friedrich Ratzel: Das Meer als Quelle der Völkergröße. Eine politisch-geographische Studie. 2. Aufl. München / Berlin: Oldenbourg 1911, S. 28.   zurück
Carl Schmitt. Völkerrechtliche Großraumordnung mit Interventionsverbot für raumfremde Mächte. Ein Beitrag zum Rechtsbegriff im Völkerrecht. Berlin: Duncker & Humblot 1991 (Reprint der Ausgabe Berlin / Leipzig 1941), S. 51.   zurück
Vgl. etwa Niels Werber: Die unvollendete Mission. Droht uns ein ewiger Zustand des Nicht-Kriegs? In: taz vom 13. 3. 2007.   zurück
Carl Schmitt: Über das Verhältnis der Begriffe Krieg und Feind (1938). In: Positionen und Begriffe. Zusatz im Kampf mit Weimar – Genf – Versailles 1923–1939. Berlin: Duncker & Humblot 1988, S. 244–251, hier S. 247.   zurück
Vgl. Karl Haushofer: Politische Erdkunde und Geopolitik. In: Haushofer/Obst/Lautensach /Maull, a.a.O., S. 49–80, hier S. 66 f.   zurück