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Wieviel Schönheit verträgt die Literatur?

Zur schwierigen Geschichte der Schönheit im Diskursfeld des Literarischen.

  • Joachim Jacob: Die Schönheit der Literatur. Tübingen: Max Niemeyer 2007.
    ISBN: 978-3484181830.
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Die zeitgenössische Literaturtheorie hat in der gesamten Breite und Differenziertheit ihrer Begrifflichkeiten und Paradigmen einen Begriff völlig eliminiert, der gerade das Erbe der vormodernen Ästhetik und Poetik beinahe ganz in sich fasst: der des Schönen. Damit schließt sie an den modernen Untergang des ›Schönen‹ an, ja sie scheint aus der Leerstelle hervorgegangen zu sein, die diese einstmals übermächtige Kategorie hinterlassen hat: Gute Gründe, dieses master concept wiederzubeleben, findet nur, wer sich jenseits der ideologischen Grabenkämpfe der Moderne in differenzierter Auseinandersetzung um seine Begriffs- und Problemgeschichte bemüht.

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Joachim Jacobs Habilitationsschrift Die Schönheit der Literatur. Zur Geschichte eines Problems von Gorgias bis Max Bense führt den Problembegriff sogleich im Untertitel mit und weist damit auf die immer schon schwierige Beziehung von Literatur und Schönheit. Die Untersuchung nimmt sich dieser Problematik als »poetologische Vergangenheitsbewältigung« an und entwirft in fünf großen Kapiteln von der Antike bis in die Moderne eine Geschichte des Versuchs, Dichtung und Literatur als Teil der ›schönen Künste‹ zu begreifen.

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Inhalt

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Bereits die »Einleitung« entwickelt die Grundproblematik der historischen Diskussion um die Übertragbarkeit des Merkmals der Schönheit auf die Literatur. Die Frage, »ob und in welcher Weise der Begriff der Schönheit überhaupt eine sinnvolle Kategorie für die Sprachkunst [...] ist« (S. 12), steht deshalb im Zentrum der Studie. Dafür differenziert Jacob gleich zu Beginn in kurzen Vorentwürfen zwischen der materialen und der idealen Schönheit der Literatur: entweder »kann das sprachliche Zeichen selbst [...] als schön erscheinen«, oder »die Schönheit [ist] auf der Bedeutungsebene des sprachlichen Zeichens situiert« und meint dann »die schöne Vorstellung, die das sprachliche Zeichen kommuniziert« (S. 14 f.).

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Antike

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Für die »antike Rhetorik« kann Jacob zeigen, welche tiefen Ambivalenzen das Problem des Schönen für deren pragmatische Wirkungsausrichtung erzeugt: Ist die Schönheit der Sprache, differierend in so verschiedenen Vorstellungen wie ornatus, euphonie, symmetria oder analogia, zum einen Bedingung des angemessenen Sprechens, insofern es die darzustellende Sache erst recht beleuchtet und damit klarer sichtbar macht, verdunkelt es diese doch zugleich, wenn es als Sprachgestaltung selbst hervortritt und sich im Sprechakt in den Vordergrund drängt. Das Grundideal der Rede, ›kunstvoll natürlich‹ zu sein und der zu besprechenden Sache angemessen, d.h. mediale Durchlässigkeit mit zeichenhafter Transzendenz auf das Gemeinte hin in völlige Einheit zu bringen, muss die Schönheit zugleich in Anspruch nehmen und streng begrenzen.

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Doch auch die antike Poetik setzt nun nicht, wie man glauben möchte, aufgrund ihres Heraustretens aus dem pragmatischen Wirkungs- und Zweckbezug rhetorischer Rede die materiale Schönheit der Worte frei: Aristoteles strukturale Schönheitsdefinition der »wahrnehmbaren Ordnung eines in sich geschlossenen Handlungszusammenhangs« (S. 85), die im Ganzen der Tragödie zweckhaft auf bestimmte Wirkungsdimensionen bezogen wird, erlaubt den eigenen sprachlichen Schönheitspotenzialen nur eine begrenzte und untergeordnete Stellung im Gesamt des Werkes, wenn Aristoteles dieses auch konsequent sowohl in seiner Sprachlichkeit als auch in seiner anthropologischen Ausrichtung bedenkt.

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Horaz’ Ars poetica schließt an diese Beschränkung der Schönheit an, wenn er wie Aristoteles poetische Schönheit in Aktualisierung der symmetria-Vorstellung als »formale Perfektion und Regelgenauigkeit« (S. 94) in der Ordnung wie Gestaltung des Werkes versteht, diese aber nicht als hinreichende, sondern höchstens als notwendige Bedingungen von Poesie fasst: zum pulchrum muss dulcia, das Bewegende, Rührende hinzutreten, wodurch die Aristotelische Linie der Wirkungsästhetik aufgenommen wird.

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Dionysios von Halikarnassos und Pseudo-Login werden schließlich als die antiken Denker vorgeführt, welche die dichotomische Ausgrenzung des »Schönen« aus dem Wirkungsvollen, welches die gesamte antike Diskussion beherrscht, durch eine Vermischung von Schönem und Bewegendem aufzuheben trachten. Die Kontamination des Schönheitsbegriffes mit dem »Erhabenen, Befremdenden oder Ungefälligen« (S. 100) bei Dionysios konfiguriert eine Unterscheidung neu, indem sie den Attributen des sonst bloß Bewegenden plötzlich den Schönheitsstatus zuerkennt; bis auf Pseudo-Longin ist ihm bis ins 18. Jh. darin jedoch kaum ein Denker des Schönen gefolgt.

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Neuzeit

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Generell gilt für die Neuzeit: »Sehr allgemein formuliert, wird das Schöne in der Neuzeit systematischen Differenzierungen unterworfen, die der Antike fremd waren.« (S. 112) Dabei verfolgt Jacob zu Anfang vor allem die Herausbildung der Unterscheidung von Wissenschaft und schöner Literatur als inkompatible Diskurssysteme am Ende des 18. Jh., indem er zeigt, inwiefern der zuvor »weite« Begriff von Literatur als Bezeichnung für die Produkte aller Art von Gelehrsamkeit sich mit dem Begriff des ›Schönen‹ in dem Terminus ›Schöne Wissenschaften‹ verbindet, der als Übersetzung der Belles Lettres jede Art regelgeleiteten Tuns – und damit nach rhetorischem Verständnis auch die Dichtkunst – meint (S. 117 f.).

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Erst Mitte des 18. Jh. vollzieht sich ein »folgenreicher Wandel im Gebrauch des Begriffs ›schöne Wissenschaften‹« (S. 121): Erstens werden Dicht- und Redekunst »nicht mehr als wissenschaftliche Disziplinen verstanden, sondern erscheinen als Gegenstände von Wissenschaft« (S. 121). Wo der Begriff noch kunstbezogen gebraucht wird, meint er wie bei Mendelssohn nurmehr die Dicht- und Redekunst; sonst taucht er vor allem als Synonym der neuen Disziplin der Ästhetik auf. Zweitens aber transformiert die Kantische Trennlinie der Seelenvermögen Wissenschaft und Kunst in einen scharfen Gegensatz, der den Begriff der ›schönen Wissenschaft‹ nicht länger möglich macht (S. 125 f.): Doch erst so rückt ›schöne Literatur‹ als Gegenstand der Wissenschaft überhaupt in den Blick.

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Die Eingliederung der Dichtkunst in die ihr vormals entgegengesetzten ›schönen Künste‹ spätestens seit Batteux (S. 128–130) ist deshalb nicht mehr rückgängig zu machen. Zu dieser Vereinheitlichung aller Künste unter dem Oberbegriff ›schöne Künste‹ tritt allerdings seit Beginn des Jahrhunderts eine Gegenbewegung hinzu, die gerade an der materialspezifischen Differenzierung der Künste interessiert ist.

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Lessing

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Mit G. E. Lessings Laokoon oder über die Grenzen der Malerei und Poesie von 1766 sieht Jacob einen folgenreichen Einschnitt gekommen: Bei Lessing geht es nicht mehr um die Beschaffenheit des Schönen, sondern um die vorgelagerte materialästhetische Frage, ob und wie Malerei und Poesie Schönheit »zur Darstellung bringen können« (S. 186). Die Reflexion auf die präformierende Struktur des Materials der Darstellung in den verschiedenen Künsten rückt die eigene Qualität der sprachlichen Zeichen erstmals umfassend in der Kunsttheorie in den Blick, um von dort aus das Schöne als ›unbequem‹ für die Literatur zu kennzeichnen: Entgegen der antiken wie rationalistischen Durchlässigkeits- und Flexibilitätsthese sprachlicher Zeichen (die noch für Hegel gilt) markiert Lessing am Zeichenmaterial gerade die Dimensionen, welche einer Darstellung des Schönen entgegenwirken.

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Dabei bringt Lessing einen engen Schönheitsbegriff zurück ins Spiel, der gegen dessen rhetorische wie philosophisch-ästhetische Erweiterungen Schönheit an »Sichtbarkeit« und »Körperlichkeit« (S. 188) bindet. Diese Einschränkung der Dichtkunst kann er ruhigen Gewissens vornehmen, weil das Schöne als doppelt relativiert für ihn nur von untergeordnetem Interesse ist (S. 185 f.): Der Gegenstand moderner Kunst ist die ganze Natur, nicht mehr nur die schöne; und ihr Ziel nicht bloß Wiedergabe von Schönheit, sondern ›Wahrheit‹ und ›Ausdruck‹ derselben. Jacob blendet vor dem Durchgang durch die Lessing’sche Argumentation zwei historische Teile vor, welche die Traditionslinien markieren, in denen Lessing Neuland betritt.

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Lessings Laokoon löst das alte Ziel der Nachahmung des Schönen und der Natur in der Poesie durch ein auf die Kunstform selbst bezogenes Ziel ab: für den angestrebten radikalen ästhetischen Illusionismus (S. 242), der auf ›Lebendigkeit‹ der Vorstellungen statt deren intuitive Schönheit zielt, muss die Poesie gerade »besondere Aufmerksamkeit auf das Medium ihrer Vermittlung« (ebd.) legen, um dieses Medium im Prozess der Darstellung möglichst effektiv aufheben zu können: Die Schönheit des Materials wäre dafür sogar gefährlich, weil sie die Aufmerksamkeit auf die Medialität selbst zieht. Lessing schließt die auf Sichtbarkeit und Körperlichkeit zusammengezogene Schönheit – und damit jede ekphratische Anschaulichkeit – ganz aus der Literatur aus; gerade damit will er die erhöhte Illusionsfähigkeit poetischer Rede angemessener begründen (S. 243). Schönheit einzig durch Transformationsprozesse im literarischen Medium darstellbar: in der Schilderung ihrer Wirkung oder in ihrer Verwandlung in Reiz.

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Frühromantik und Idealismus

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Die beiden Lehren von Lessings Poetik für das Schöne –»zum einen, dass bildhaft-malerische Repräsentation von Schönheit etwas anderes ist als sprachliche Repräsentation von Schönheit, und zum anderen, dass Schönheit in der Moderne überhaupt ein Thema von untergeordneter Bedeutung ist« (S. 287) – werden um 1800 durch das neue Leitparadigma der Musik in ein neues Licht gerückt. Die ›Musikalisierung‹ poetischer Schönheit z.B. bei den Frühromantikern rückt die Beweglichkeit, das innere Gefühl und die Inspiration ins Zentrum des Schönen – und führt damit zu einem »umfassenden Abbau des alten okularen Paradigmas« (S. 288). Das Refugium des Schönen in der Poesie dagegen wird ebenfalls in der Nachfolge Lessings bestimmt: Handlung und Freiheit sind die Grundmerkmale poetischer Darstellung und müssen deshalb in die Überlegungen, wie Literatur schön sein könne, adäquat eingepasst werden. Wo deshalb Lessing die Freiheit der poetischen Handlung und die Schönheit voneinander trennt, versuchen die idealistischen Ästhetiken, Freiheit und Schönheit als Komplex zu begreifen.

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Schiller verlagert die Frage der Schönheit vom Gegenstand der Darstellung wieder auf die Darstellung selbst zurück und sucht die selbst schön erscheinende poetische Vergegenwärtigung (S. 291). Dieser ›objektive‹ Begriff des Schönen sowohl im Gegenstand als auch im Material der Darstellung wird als »Freiheit in der Erscheinung« bestimmt: als »in sich selbst vollendete Gestalt« ist etwas nur dann schön, »wenn scheinbar jedes Einzelne zugleich eigenem Gesetz [...] und [damit] zwanglos höherer Ordnung folgt« (S. 293). Diese Erscheinung von Autonomie nun kollidiert jedoch für Schiller mit der »eigenen Individualität« von Darstellungsmaterial und Material des Dargestellten (S. 294): Schöne poetische Darstellung ist deshalb nur die, welche den Anschein des Materials von Darstellung und Gegenstand abstreifen kann, um den Gegenstand als rein geistige Wesentlichkeit zu vergegenwärtigen. Dabei wird gerade die notwendige Abstraktheit der Sprache, deren Worte und Begriffe stets den Überschuss des Einzelfalls verfehlen, zum Hauptproblem: im »poetischen Zusammenhang, in dem es um eine maximale Individualität und d.h. um eine sinnliche, möglichst durchgehend bestimmte Anschaulichkeit geht« (S. 296), wird die Künstlichkeit, Allgemeinheit, Bildlosigkeit und Sukzessivität der Sprache erneut zum Hindernis.

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Hölderlins Dichtungstheorie ist laut Jacob der ernsthafteste Versuch, Geistigkeit und Materialität der Schönheit in der Dichtung konsequent zusammenzudenken. In einer konzentrierten und überzeugenden Erörterung zeigt Jacob, auf welche Weise die alles beherrschende Idee des Schönen bei Hölderlin mit der Eigenart poetischen Ausdrucks verbunden wird. In Hölderlins Logik des Schönen sei dessen bildhafte Struktur als zeitloses »Zugleichsein aller Teile« mit seinem Gegenteil, der Sukzessivität des »schönen Fortschritts«, als »Harmonischentgegengesetzte« verbunden (S. 323): Damit sind Schönheit und Sprache keine sich ausschließenden Gegensätze mehr. Der geschichtsphilosophische Überbau Hölderlins indes lässt diese Konstruktionstheorie der Schönheit in der Dichtung bestenfalls als Vorschein realer Schönheit gelten: Sonst »wird über das Schöne im Modus seiner Abwesenheit oder Vergangenheit« (S. 324) gesprochen.

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Hegels Philosophie der Kunst, in deren Kurzschließung der historischen und systematischen Entfaltungen zu einem System die Poesie als notwendiger Teil eingebunden ist und die mit Lessings »Laokoon« neben der materialästhetischen Reflexion und der Bestimmung der Dichtung durch Geistigkeit und Prozessualität auch die »Relativierung der unbedingten Norm des Schönen« (S. 325) teilt, äußert einen »doppelte[n] Vorbehalt« (S. 327) gegen die Möglichkeit des Schönen in der Literatur: Zum einen systematisch – denn Schönheit ist für Hegel nur die vollkommene Ineinsbildung eines Inneren, Geistigen und eines Äußeren, Sinnlich-Konkreten (S. 327 f.). Das sprachliche Zeichen aber als das »erste Äußere« der Literatur ist für deren Inhalt nur noch Transportmittel, nicht mehr sinnlich würdige Instantiierung: Denn als Verweisendes zieht sich »in ihm die äußere Darstellung ganz in die Vorstellungskraft und d.h. in die Innerlichkeit des Bewusstseins zurück« (S. 332). Die eigentliche Äußerlichkeit der Poesie, die Vorstellung selbst, ist dagegen sinnlich zu unbestimmt, als dass ihr die für die Schönheit notwendige äußere Konkretheit der Gestalt zukommen könnte (S. 343 ff.): Ihr fehlt es an »Bestimmtheit der Anschauung« (S. 343). Zum anderen greift dieser Vorbehalt jedoch auch ins Historische aus: Der für das Schöne allein geeignete Inhalt, das Verständnis des Menschen und seiner Gestalt in der Antike (S. 329), sowie die plastisch-konkrete Formgebung können von den Darstellungsmöglichkeiten der Poesie nicht adäquat erfasst und umgesetzt werden.

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Der Formalismus des 19. Jahrhunderts
und die Klassische Moderne

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Der Formalismus des 19. Jahrhunderts, der »von Schiller zu Herbart und Zimmermann« (S. 352) reicht, trennt Hegels Form-Inhalt-Einheit wieder auf, um an ihre Stelle »ausschließlich werkimmanente Verhältnisbestimmungen« als »reine Form« des Schönen zu setzen: eine Verlagerung, die zu einer »Entsprachlichung« (S. 354) und gleichzeitigen Aisthetisierung des Schönheitsbegriffs führt. Dem kontrastiert Jacob zwei Denker, welche die Schönheit der Materialität der Sprache in der poetischen Formung ins Zentrum ihrer Überlegungen rücken: Gustav Gerber und Theodor A. Meyer.

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Gustav Gerber bildet deshalb eine originelle Position innerhalb des Feldes sprachästhetischer Theoriebildung, insofern er eine Zwischenstufe zwischen Sprache (ihrem alltäglichen Gebrauch) und höchster Dichtkunst einzieht, die er »Sprachkunst« nennt: »ein Stadium der Sprachbildung, in dem die Sprache schon ›Kunst‹, aber noch nicht ›Dichtkunst‹ [...] ist«. (S. 364) Damit ist es ihm möglich, den idealistischen Dichtungsbegriff Schillers und Hegels, der auf die Tilgung des Materials zielt, unangetastet zu lassen, und doch eine Sprachkunst zu etablieren, welche »die Rhetorizität des Sprechens noch im vollen Sinn« (S. 364) zur Geltung bringt. Theodor A. Meyers »Das Stilgesetz der Poesie« von 1901 hingegen treibt die Deintuitionierung der Poesie noch viel weiter: Er bestreitet die Auffassung des 18. und 19. Jahrhunderts, dass es die Poesie mit »sinnlicher Anschaulichkeit zu tun hat« (S. 371), und postuliert ein »unsinnliches Vorstellen«.

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Im letzten Teil des Buches widmet sich Jacob der (im engeren Sinn) ästhetischen Moderne seit dem Naturalismus und ihren Verhältnissen zum Schönen. Der gängigen Auffassung, nach der sich die Moderne gerade »durch die Distanzierung des Schönen konstituiert« (S. 378) und im ›Hässlichen‹ oder ›Interessanten‹ die neuen Leitkategorien entdeckt, stellt Jacob die vielfältigen und ebenso konstitutiven Versuche moderner Aktualisierung der Schönheitsproblematik gegenüber. Dabei kennzeichnet, ganz allgemein gesprochen, das moderne Schöne eine vielfältige und vieldimensionale Dynamisierung: ob es nun als kulturrelatives ›Schöne‹ seit dem 18. Jh. seine zeitenthobene Absolutheit der Norm verliert, seine Verwiesenheit auf utopische Perspektiven als Zeitlichkeit eines Versprechens an sich trägt (S. 380), als bloße Erinnerung eines Gewesenseins auf sich als Verlorenes rückverweist, oder in seiner Darstellungsstruktur zeitliche Verschobenheiten in sich aufnimmt. Die Idee der ›flüchtige[n] Schönheit‹ (S. 383 ff.) spielt eine besondere Rolle: Als »flüchtige Kehrseite des Ewigen« seit Baudelaire wird Zeitlichkeit vom Merkmal bestimmter Kunstformen zum »Merkmal des Schönen überhaupt« (S. 385) und verbindet sich mit der spezifisch modernen Zeitform des »Augenblicks« (Bohrer) zu einer durch die Drohung der Vergehens hindurch erscheinenden und begrifflich unfeststellbaren Vollkommenheit des Schönen (S.388).

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Daneben jedoch findet in der ästhetischen Moderne eine folgenreiche Verlagerung statt: In der »Verselbständigung der Sprache« werden »Klangmaterial« und »Wortmaterial« in ihrer Materialität selbst zu Trägern von Schönheit (S. 392).

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Die »Konkrete Poesie« schließlich wendet den Blick vom Klang (dessen Materialität weiterhin Gewicht behält) auf die Materialität der Schrift und damit auf die optisch-bildliche Dimension als Ort poetischer Schönheit. Erst Max Benses »Programmierung des Schönen«, mit der das Buch endet (S. 430 ff.), führt die Materialität wieder in das Bedeutungsgeschehen der Sprachzeichen zurück, wenn sie Schönheit formal-abstrakt als Logik einer spezifischen Verteilung der Textelemente, die eben auch durch Bedeutungsprozesse erfolgt, beschreibt (S. 432).

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Kritik

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Jacobs Historik der Verbindungen von Literatur und Schönheit überzeugt auf der ganzen Linie. Der Aufbau und die Auswahl der Kapitel, Unterkapitel und Exkurse ist so einsichtig wie wohldurchdacht und stets auf seinen jeweiligen Standpunkt im Gesamt der chronologischen Entwicklungslogik durchsichtig. Die Erörterung der einzelnen Positionen ist von oft bewundernswerter Deutlichkeit, Sachangemessenheit und argumentativer Genauigkeit; Jacob findet zudem zumeist die glückliche Mitte von Forschungsdiskussion und eigener, textimmanenter Problementwicklung. Stets wird in äußerster Schärfe das jeweils verwendete Schönheitskonzept benannt, entfaltet und in seinen genealogischen Beziehungen erschlossen. Die kategorialen Grunddifferenzierungen der Einleitung (Schönheit durch Literatur – Schönheit an Literatur – Schönheit über Literatur) werden im Textverlauf beibehalten und historisch in ihren paradigmatischen Leitfunktionen vorgeführt.

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Dem Leser wird an jeder Stelle das echte Bemühen sichtbar, den schwierigen und überkomplexen historischen Gegenstand verstehbar und systematisierbar zu halten.

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Beinahe notwendig nimmt ein Kompendium einer solchen abendländischen Basisvorstellung wie der der ›Schönheit‹ die Gefahr auf sich, dass jeder Rezensent, abhängig von seinem Interessens- und Wissensstand, einiges vermissen wird: So habe ich mir eine eingehendere Vernetzung des ontologischen Schönheitsbegriffes der Antike mit poetologischen Vorstellungen gewünscht, und das Fehlen von Adornos Reaktivierung des Schönheitskonzeptes in spezifisch modernen Zusammenhängen als Leerstelle empfunden. Solche Überlegungen aber stehen hinter der systematischen wie historischen Leistung, die dieses Buch als »Überblick« im besten Sinne darstellt, weit zurück: Fern aller Polemisierungen zeigt Jacob en detail auf, warum ›Schönheit‹ und Literatur sachimmanent eine so schwierige abendländische Beziehung hinter sich haben und doch nicht ohne einander können.

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Die Sachlichkeit des Stils und der Vorgehensweise vermeidet dabei konsequent die Gefahr, angesichts eines solchen Autoritätsbegriffs, wie ihn das ›Schöne‹ darstellt, und seiner historisch gegensätzlichen Füllungen, die ihn eben zu jener beinahe-Leerformel machen, die mit jedem neuen Gebrauch nur weiter funktionalisierbar wird, selbst in polemische Stellungnahmen zu verfallen: Kritische und distanzierte Registrierung der Begriffsverwendungen und ihrer Begründungszusammenhänge bleibt die einzige Vorgehensweise der Arbeit.

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Gerade in Zeiten der fachwissenschaftlichen Extreme, die Wissen entweder auf Einführungslehrbuchniveau und -umfang herunterbrechen oder auf unlesbare Handbuchgröße aufschwemmen (und damit jeden Lesezusammenhang zerstören), zeigt Jacob die Alternative auf: Weit ausgreifende, narrativ als Problemgeschichten verbundene explikative Darstellungen, die die Klarheit, Durchsichtigkeit und Geschlossenheit der Einführungsliteratur wieder mit dem notwendigen Umfang und der Einzeltiefe der Handbücher verbinden. Damit erinnert das Werk performativ an zwei für die Kulturwissenschaften bedenkenswerte Sachverhalte: erstens, dass ihr Wissen in Darstellungszusammenhänge eingespannt ist und sich oft aus der Komplexität und Genauigkeit von deren narrativen Energien ergibt; und zweitens, dass die großen Leistungen des Faches – gegen alle Verbünde, Netzwerke und transdisziplinären Seilschaften – noch immer und zumeist von Einzelnen hervorgebracht werden.

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Für eine hoffentlich notwendige und einer breiten Leserschaft zugängliche (also auch monetär erschwingliche) Zweitauflage ist dem Buch zum einen ein summarischer Schluss zu empfehlen, der die Ergebnisse nochmals engführt. Darüber hinaus wäre ein analytisches Sachregister, dass die einzelnen Schönheitsvorstellungen auflistet und miteinander verlinkt (also eine Art Ideenregister), von großem Vorteil.