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Interkulturelles Lernen:

Bertin Nyembs Studie zu Thomas Manns Frühwerk

  • Bertin Nyemb: Interkulturalität im Werk Thomas Manns. Zum Spannungsverhältnis zwischen Deutschem und Fremdem. Stuttgart: ibidem 2007. 236 S. Paperback. EUR (D) 29,90.
    ISBN: 978-3-89821-781-1.
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Diese Studie will viel leisten: Denn nichts weniger hat sich Bertin Nyemb vorgenommen, als zu erklären, weshalb die hundert Jahre alten Texte Thomas Manns noch immer von grundstürzender Brisanz sind. Es ist Nyembs Überzeugung, dass die Werke Thomas Manns »universellen Problemen Ausdruck« (S. 13) verleihen. Als bislang geheimes Zentrum der von ihm interpretierten Texte schlägt er das Problem der Interkulturalität vor. Nicht länger soll der viel diskutierte Gegensatz von Künstlern und Bürgern im Mittelpunkt der Untersuchung stehen, sondern die problematische Auseinandersetzung mit dem Fremden. Einleitend formuliert Nyemb seine Leitthese, dass Thomas Mann »für ein Neben- und Miteinander von Menschen verschiedener ethnischer Herkunft und Kulturen eintritt, auch wenn er aufgrund seines dialektischen Denkens Gefahren und Konflikte interkultureller Provenienz stets einblendet« (S. 14). Als besonders auffällig notiert Nyemb die Beobachtung, Mann verhandle interkulturelle Konflikte zumeist als einen Nord-Süd-Gegensatz (S. 40).

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Methodische Überlegungen:
Interkulturelles Lernen

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Bevor Nyemb seine Textlektüren eröffnet, entwickelt er auf Basis jüngster kulturtheoretischer Überlegungen seine Leitbegriffe, vor allem den des interkulturellen Lernens. Eingebettet in einen engagierten Forschungsbericht, der verschiedene Positionen zu Integrationsforderung und Assimilierungspolitik umreißt und einer kritischen Diskussion des Begriffs der ›Leitkultur‹ nicht aus dem Weg geht (S. 22), entfaltet Nyemb eine Vorstellung von Identität, die »nichts Fertiges ist, sondern stets neu definiert werden soll« (S. 31). Diese Arbeit an der Identität sieht Nyemb durch den interkulturellen Austausch gewährleistet, der je neu in der Interaktion zu unternehmen ist. Diese »bewegliche Vermittlung zwischen den Kulturen« legt es für Nyemb »zwingend nahe, interkulturell zu handeln«, getragen von der »gegenseitigen Bereicherung der beteiligten Akteure« (S. 31). Thomas Manns Texte liest er vor dieser Folie als Versuche, interkulturelles Lernen als Mittel zur Identitätsfindung in den Blick zu rücken.

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Der Nord-Süd-Gegensatz
im Frühwerk Thomas Manns

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Die Studie überrascht mit ihrer Textauswahl: Denn es ist gerade nicht der Roman um Joseph und seine Brüder, der von Nyemb als paradigmatische Darstellung von Fremdheit und kulturellem Austausch analysiert wird. Nyemb hält sich konsequent an das Frühwerk Thomas Manns: Neben den Erzählungen Der Wille zum Glück und Tonio Kröger bilden die Romane Buddenbrooks und Königliche Hoheit die Grundlage für Nyembs Überlegungen.

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Die große Bedeutung des Nord-Süd-Gegensatzes im Werk Thomas Manns führt Nyemb auf Manns eigene Existenz als »sujet mixte« zurück, die sich zum »Motiv der Blutmischung« sublimiert in den Texten finden lasse (S. 45). Ob tatsächlich die allerwenigsten in Deutschland wissen, dass Mann eine brasilianische Mutter hatte, wie Nyemb seine Forschungen selbstgewiss von der bisherigen Literatur abhebt (S. 34), darf allerdings bezweifelt werden: Gerade die exotische Mutter des Schriftstellers ist bekannt durch die Vielzahl von Tonio Kröger-Deutungen, die die Erzählung auf autobiographische Selbstauskünfte reduzieren. Zudem dürfte bei der immensen Popularität Thomas Manns und seiner gesamten Familie dieses Detail wohlbekannt sein.

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Die Frage nach der interpretatorischen Relevanz solchen biographischen Wissens drängt sich für Nyembs gesamten Argumentationszusammenhang auf. Er weist selbst darauf hin, dass der Nord-Süd-Gegensatz sich in Deutschland weit verbreitet finden lässt, und führt als Beispiel Wilhelm Hauffs Erzählung Das Bild des Kaisers an, die gar zur Vorlage des Nord-Süd-Gegensatzes in den Buddenbrooks erklärt wird (S. 40).

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Als erste Explikation der Polarität von Nord und Süd stellt Nyemb Der Wille zum Glück vor. In dieser Erzählung spielt Mann nach Nyembs Deutung die »aus Kulturkontakten resultierenden Chancen deutlich« herunter (S. 44). Paolo Hoffmann ist ein sujet mixte, der sich vor allem durch seine Passivität auszeichnet. Gerade diese Unfähigkeit zu Handeln führt Nyemb nun auf ein misslungenes interkulturelles Lernen zurück, das die Ehe von Hoffmanns Eltern geprägt habe. Besonders der schlechte Einfluss der Mutter wird von Nyemb als verantwortlich für Hoffmanns Sterben dargestellt.

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Interkulturalität und Antisemitismus

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Im Gegensatz zu dem schwächlichen Lebensverweigerer Hoffmann blüht seine Geliebte Ada Stein vor Leben. In der Deutung dieser Figur gewinnt Nyembs Studie an Tiefgang, schließlich kann er sich vor der Folie seiner Überlegungen zur Interkulturalität von Interpretationen absetzen, die in dieser jüdischen Figur ein Beispiel für Thomas Manns Antisemitismus erkennen wollen. Gerade Ada Stein wird für Nyemb zur »Symbolgestalt für den Kampf gegen Diskriminierung« (S. 58). Nyemb weist Yahya Elsaghes Lesart zurück, dass Hoffmann an Ada Stein zugrunde gehe. 1 Indem Ada treu zu Paolo hält, befeuert sie seinen Lebenswillen.

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Überhaupt ist Nyembs Studie da am besten, wo sie differenziert den Kontakt zwischen Deutschen und Juden im Werk Thomas Manns betrachtet. Denn gerade sein Begriff des interkulturellen Lernens eröffnet hier neue Perspektiven. So versucht Nyemb die Hagenström-Handlung der Buddenbrooks von jedem Antisemitismus freizusprechen, weil den Hagenströms – im Gegensatz zu Gerda Buddenbrook etwa – die Integration in die Lübecker Gesellschaft gelingt (S. 76). Denn interkulturelles Lernen beschreibt Nyemb als beiderseitige Pflicht, sich miteinander ins Benehmen zu setzen.

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Zur paradigmatischen Figur jüdischer Integration wird allerdings Dr. Sammet in Königliche Hoheit. Zwar konstatiert Nyemb, dass sich in der Schilderung Sammets durchaus antisemitische Klischees finden lassen, dem Leser jedoch »die große Sympathie des Erzählers für die jüdische Gestalt nicht entgehen« könne (S. 176). Wieder ist es die gelungene Integration, die den Vorwurf des Antisemitismus unhaltbar erscheinen lässt. Indem der großherzogliche Leibarzt Eschrich als Kontrast zu Sammet vorgeführt wird, der mit dessen Umsicht und Kompetenz nicht mitzuhalten weiß, scheint die Überlegenheit des jüdischen Arztes durch. So deutet Nyemb denn auch Sammets Ernennung zum Leiter der Kinderklinik als eine Entscheidung, die »Kompetenz und Sachverstand« über ethnische Zugehörigkeit setzt (S. 183). Wenn Nyemb sodann den Tod des Lehrers Raoul Überbein aus seiner Unfähigkeit zu Menschlichkeit erklärt, wird die besondere Bedeutung Sammets umso deutlicher: Diesem gelingt es, seinen Beruf mit seiner Integration in die Gesellschaft zu verbinden, während der Lehrer sich der menschlichen Gesellschaft entzieht.

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Doch eine Leitkultur?

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An dieser Stelle werden Nyembs optimistische Überlegungen zum Antisemitismus im Werk Thomas Manns trüb. Einleitend hat sich Nyemb gegen die Forderung nach einer Leitkultur verwahrt. Eine Leitkultur scheint allerdings in den Texten Thomas Manns zumindest implizit normativ zu wirken. Denn die Integrationsleistung der Hagenströms und Sammets misst sich wie die Integrationsverweigerung Überbeins an einer festgefügten Gesellschaft, deren Teil sie werden – oder eben nicht. Die Integration Sammets erscheint als eine Assimilation an die Gepflogenheiten im Großherzogtum, wie auch die Hagenströms sich die Lebensweise der Lübecker Gesellschaft aneignen. Ob von gesellschaftlicher Seite hier tatsächlich Integrationsleistungen vorliegen, bleibt zweifelhaft – Sammets Judentum spielt keine Rolle mehr, womit es als Teil seiner Identität gelöscht wird. So bleibt denn auch der Blick auf die gesellschaftlichen Verhältnisse in Nyembs Studie blind; die Fokussierung auf die fremden Protagonisten weitet sich an keiner Stelle zu einem Panoramablick, der das gesellschaftliche Umfeld der Erzählungen und Romane ins Auge fasst. Nyembs Leitbegriff des interkulturellen Lernens, das von beiden Seiten Integrationsleistungen verlangt, wird von ihm selbst nicht konsequent verfolgt. In seiner Studie arbeiten sich Einzelne mehr oder minder erfolgreich an der Integration ab; die Gesellschaft, deren Teil sie werden wollen, vollbringt keine Leistungen dieser Art.

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Bayrische Exotik

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Im Übrigen beschränken sich Nyembs Ausführungen auf oft gedeutete Konstellationen, befragen diese allerdings auf ihre interkulturellen Implikationen. So erkennt Nyemb in Tony Buddenbrooks »zweiter Ehekatastrophe« mit Alois Permaneder das »Paradebeispiel für Manns Darstellung von Kulturbegegnungen« (S. 109). Man reibt sich verwundert die Augen, schließlich gelingt gerade dieser Ehe das interkulturelle Lernen keineswegs. Nyembs Leitthese ist es aber, dass Mann für ein Miteinander eintritt. Hier überwiegen die Gefahren. Nyemb macht überzeugend deutlich, wie die kulturellen Differenzen zwischen Lübecker Senatorentochter und bayerischem Händler in der Ehe nicht aufzuheben sind. Die Polarität von Nord und Süd bleibt unüberwindlich. Allein fügt Nyemb dieser bekannten Diagnose keine neuen Erkenntnisse hinzu. Die Einkleidung seiner Analyse in die Fragestellung der Interkulturalität führt nicht zu einer neuen Sicht auf die Buddenbrooks. Ähnlich ist es mit seinen Überlegungen zu Gerda Buddenbrook: Hier will schon der postulierte Gegensatz von Nord und Süd nicht recht überzeugen, schließlich ist Gerdas kultureller Hintergrund als Tochter eines reichen Amsterdamer Kaufmannes dem der Buddenbrooks nicht unähnlich. Ob hier nicht doch der Bürger-Künstler-Gegensatz das eheliche Unglück verursacht? Auch die Interpretation des Tonio Kröger, die sehr textnah verfährt, endet mit der entdeckten Bürgerliebe zum Menschlichen, die aber eher Ergebnis einer gesellschaftlichen Selbstbesinnung als eines interkulturellen Lernprozesses ist.

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Einbürgerungskonzepte

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Die abschließende Interpretation von Königliche Hoheit gerät zu einem deutlichen Plädoyer für Menschlichkeit. Inwiefern diese aber eine Folge eines interkulturellen Lernprozesses ist, bleibt unklar. Natürlich legt Nyemb überzeugend dar, wie die je eigenen Erfahrungen des Prinzen und Imma Spoelmanns in der Interaktion zu einer ehelichen Gemeinschaft mit Sinn für den Staat führen. Doch bleibt dabei das Moment des Fremden unklar. Zudem lässt sich Nyemb in seinem Engagement zu sehr hinreißen: Die Aktualität von Königliche Hoheit begründet er mit den »politischen Diskussionen in Deutschland«, wohlgemerkt: den heutigen, die sich von den »Anregungen für angemessene Einbürgerungskonzepte«, die der Roman entwickle, inspirieren lassen könnten (S. 214). Den Roman überfordert Nyemb vollends, wenn er zu dem Schluss kommt:

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In unserer sich ständig umwälzenden Welt brauchen wir Menschen, die sich wie Imma und Klaus für Völkerannäherung und -verständigung vorurteilsfrei einsetzen, die den Mut zu Reformen und Veränderungen aufbringen. Wer auf diese Weise handelt, vermag auf Dauer die Herausforderungen der Globalisierung zu bewältigen. (S. 215)
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Im Zuge seiner Bemühungen, die Aktualität des Mann’schen Erzählwerks begreiflich zu machen, schießt Nyemb weit über das Ziel hinaus, weil er die Romane und Erzählungen selbst aus den Augen verliert. Er spannt sie in seine methodischen Vorannahmen ein und überprüft nicht, ob die gewählte Perspektive sich aus den Texten selbst ergibt oder an ihnen belegen lässt, oder ob sie den Texten aufgezwungen wird. Letzteres scheint mehrheitlich der Fall zu sein.

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Fazit

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Zu oft fällt das fahle Licht politischer Korrektheit heutigen Verständnisses auf Thomas Manns Texte, die in Nyembs Deutungen zu stark in die Nähe erbaulicher Traktate gerückt werden. Damit wird Nyemb den Romanen und Erzählungen in ihrer Abgründigkeit nicht gerecht, wie er selbst in seinen wiederholten Bemerkungen zur Dialektik der Mann’schen Kompositionen betont.

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Nyemb betrachtet die Forschungsergebnisse neu durch die Brille der Interkulturalität. Der Gewinn an neuen Perspektiven fällt gering aus. Und doch: Die Thomas-Mann-Forschung auf das Interkulturalitätsproblem hingewiesen und damit neue Desiderate der Forschung benannt zu haben, bleibt das Verdienst seiner Arbeit.

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Unerfreulich ist die Leistung des Verlags, der nicht einmal für ein leserfreundliches Schriftbild gesorgt hat. Und wenn der Verfasser den Autor von Auf der Suche nach der verlorenen Zeit mit dem Formel 1-Rennfahrer Alain Prost verwechselt, ist das die Art Flüchtigkeitsfehler, die jedem am Schreibtisch passieren kann, die aber jemand vor der Publikation korrigieren sollte.

 
 

Anmerkungen

Yahya Elsaghe: Die imaginäre Nation. Thomas Mann und das Deutsche. München: Fink 2000, S. 302.   zurück