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Romantik und Romantisches

Eine negative Teleologie

  • Rüdiger Safranski: Romantik. Eine deutsche Affäre. München: Carl Hanser 2007. 416 S. EUR (D) 24,90.
    ISBN: 978-3-446-20944-2.
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Der deutsche Sonderweg

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Thomas Manns im Jahre 1947 veröffentlichter Roman Doktor Faustus lässt sich bekanntlich auf verschiedenen, einander ergänzenden Ebenen verstehen, etwa als Künstlerroman, als Roman über die Unerzählbarkeit der Welt, als Abgesang auf die deutsche Bürgerlichkeit, die vor Hitler versagt hat, oder auch als Bestandsaufnahme der deutschen Geschichte anhand ihrer Kunstformen vom Mittelalter bis zur historischen Gegenwart.

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In der Perspektive des Textes, ebenso aber in den späten Essays des Autors, kommt diese Geschichte wesentlich als Geschichte deutscher Innerlichkeit und zugleich als dämonisches Schicksal zum Vorschein, dessen Ursprung in der Reformation situiert wird. Die Reformatoren gelten als die eigentlichen »Sendlinge des Unglücks«, 1 weil sie die Deutschen auf den Irrweg nach Innen gesetzt haben: diesem Anfang sei das Ende bereits eingeschrieben, die finale Katastrophe zwangsläufig.

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Die Entwicklung seit dem Protestantismus wird daher als »Höllenfahrt« 2 wahrgenommen, deren markante Stationen man in Bach, in der Romantik, in Wagner und Nietzsche und schließlich in Hitler zu erblicken habe. Von diesem Ende her gesehen, stellt sich das Debakel der deutschen Geschichte als logische Konsequenz eines vermeintlich spezifisch deutschen, von »machtgeschützter Innerlichkeit« geprägten Denkens dar. 3 Dies ist bekannt. Rüdiger Safranski erzählt es, wiewohl in anderer Akzentuierung und leicht phasenverschoben, noch einmal.

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Implizit legt Safranski dabei ebenso das Muster vom deutschen Sonderweg zugrunde wie die Vorstellung einer negativen Teleologie, gegen die er sich in Auseinandersetzung mit Doktor Faustus doch ausdrücklich verwahrt (vgl. S. 370 ff.). Allerdings beginnt seine Version später und endet auch später: Safranskis Schema lautet nicht Luther bis Hitler, sondern Herder bis 1968. Damit ist schon klar, dass der Titel des Buchs sowohl auf eine literaturgeschichtliche Epoche rekurriert als auch auf die Kontinuität bestimmter, im weitesten Sinne »romantischer« Argumentations- und Handlungsmuster.

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Überhaupt fordert der Titel, insbesondere das Wort ›Affäre‹, zu einem kurzen Innehalten auf. Eine Affäre kann ja etwas sehr Unangenehmes sein, das man möglichst rasch hinter sich bringen möchte; im Sinne einer Liebesgeschichte kann das Wort aber auch – freilich je nach Perspektive – etwas höchst Erfreuliches bezeichnen. Unabhängig von der Deutung gehört zur Affäre in beiden Fällen, dass sie erstens anstrengend und zweitens zeitlich begrenzt ist, so dass sich die Frage stellt, ob die womöglich für alle Beteiligten peinliche Affäre der Deutschen mit der Romantik seit den sicher anstrengenden Ereignissen von 1968 endgültig vorüber ist. Dass in europäischer Sicht auch andere eine Affäre mit der Romantik hatten, die Engländer (Byron, P.B. Shelley, Keats) gleichermaßen wie die Franzosen (Hugo), Russen (Lermontow, Puschkin) oder Polen (Mickiewicz), um nur einige Beispiele zu nennen, blendet der Autor leider völlig aus, weil sich allein auf diesem Weg seine These vom spezifisch deutschen Charakter des Phänomens aufrechterhalten lässt. Zu dieser Verengung aufs Nationale tritt die unbegründete Beschränkung auf Literatur und Philosophie hinzu – Malerei und Musik fehlen, mit Ausnahme Wagners, gänzlich.

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Romantik als Epoche

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Das Buch ist zweigeteilt. Der erste Teil widmet sich der Romantik als Epoche, der zweite Teil wendet sich den daraus entspringenden Filiationen zu, die der Idee des »Romantischen« subsumiert werden (S. 231 ff.). Im ersten, epochengeschichtlichen Teil zeichnet Safranski in grundlegenden Zügen die Entwicklung von der Präromantik bis zur Spätromantik nach, namentlich von Herder bis zu E.T.A. Hoffmann, wobei die durchgängige Personalisierung der Darstellung Methode hat. Hier geht es nicht um Diskursanalyse, Strukturgeschichte, New Historicism oder dergleichen – hier geht es um die Biographien der usual suspects der Romantik und des Idealismus, um ihre Werke und wiederkehrende Denkfiguren.

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Dass Herder am Anfang steht, leuchtet unmittelbar ein; zu Recht sieht der Autor in ihm »einen Anfang vor dem Anfang« (S. 11). Während folglich die Romantik in Herder ihren legitimen Ahnherrn findet, kommt dieser selbst in Safranskis Darstellung jedoch offenbar aus dem Nichts und erfindet kurzerhand gleich zwei wegweisende Dinge: das geschichtliche Denken (vgl. S. 23) und den Individualismus (vgl. S. 25). Dass Herder maßgebliche Beiträge zu diesen Aspekten moderner Selbstdeutung geleistet hat, steht außer Zweifel, doch hätte man wohl im ersten Fall wenigstens einen Hinweis auf Vico und im zweiten auf Rousseau erwarten dürfen. Beide Namen werden verschwiegen, weil erneut das spezifisch Deutsche auf dem Spiel gestanden hätte.

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Vor dem Hintergrund dieser Monita, die vielleicht schlicht der Pointierung geschuldet sind, stellt sich die prinzipielle Frage, auf welcher Ebene man dieses Buch bewerten darf. Denn die Reihe solcher Verkürzungen und Mängel ist lang – bis hin zu dem Ärgernis, dass Josef K. plötzlich als Landvermesser in Kafkas letztem Roman Das Schloß figurieren soll (vgl. S. 342), ein Versehen, das zumindest einem Lektor hätte auffallen müssen. Safranskis Buch ist entschieden kein Fachbuch, sondern ein popularisierendes, niveauvolles Sachbuch mit vielen vertrauten und wenigen gewagten Thesen, das auf verständliche Art hochkomplexe Zusammenhänge für ein großes Publikum darstellt. Erst unter dieser Voraussetzung lässt sich das teilweise überschwängliche Lob im Feuilleton verstehen.

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Sämtliche Ausführungen im Epochenteil gelten freilich seit langem als Gemeingut der Forschung zum 18. und frühen 19. Jahrhundert; weder begegnet man neuen Fakten oder Quellen, noch irgendwelchen neuen Einsichten. Und sicher wäre es ungerecht, wissenschaftliche Standards zum Maßstab der Kritik zu machen, weil der Autor daran gar nicht gemessen werden will. Doch auch ein Sachbuch sollte Pointierung und Verzicht auf Detaillierung nicht als Freibrief zur Entdifferenzierung verstehen. Mit dem Romantik-Buch, so mein Eindruck, ist Safranski unter seinen eigenen Möglichkeiten geblieben, wie er sie etwa in seiner Heidegger-Biographie eindrucksvoll unter Beweis gestellt hat. 4

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Auf der anderen Seite lassen sich dennoch überzeugende Zuspitzungen entdecken, zum Beispiel dass nicht nur die Aufklärung als solche, sondern auch die seinerzeit grassierende Lesewut nach mehr Licht verlangte (vgl. S. 49), dass in der Frühromantik die »Ironie zur theoretischen Goldader« wurde (S. 62), dass Tieck alles leicht von der Hand ging, darin aber auch sein Dilemma bestand (vgl. S. 90), dass sich bei Novalis Leichtsinn und Tiefsinn paarten (vgl. S. 127) oder dass etwa der Unterschied zwischen Romantik und Postmoderne darin zu sehen sei, dass die ersteren meinten, noch vieles vor sich zu haben, während die letzteren glauben, »das meiste schon hinter sich zu haben« (S. 134). Warum dann aber die Romantiker trotzdem »unsere Zeitgenossen« sein sollen (S. 208), die wir doch weithin posthistorisch und postmodern gestimmt sind, bleibt nach diesen Überlegungen unklar.

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Ontologie des Romantischen?

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Der zweite, kürzere Teil befasst sich mit dem ungleich längeren Zeitraum von 1830 bis 1968 und sucht einerseits die genuin romantischen Motive aufzuspüren, andererseits den Transformationen des Romantischen nachzugehen. Dabei dient die Personalisierung der geschichtlichen Zusammenhänge erneut als (zuweilen bloß additives) Ordnungsprinzip.

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Am Beginn stehen Hegels und Heines Romantik-Bilder sowie die Romantik-Kritik der Jungdeutschen. Darauf folgt eine Darstellung Wagners, dessen Werk als Einlösung des frühromantischen Postulats nach einer »neuen Mythologie« gedeutet wird (S. 261). Überragenden Einfluss schreibt Safranski Tristan und Isolde zu, weil es nicht nur den »Höhepunkt« von Wagners Romantik bilde, sondern als »europäisches Ereignis« allererst ein tief greifendes Verständnis der deutschen Romantik auch außerhalb Deutschlands ermöglicht habe (S. 273). Die letzte ausführliche Betrachtung gilt Nietzsches Identifikation des Dionysischen mit dem Romantischen (vgl. S. 292) bei gleichzeitiger Kritik der christlich gewordenen Romantik (vgl. S. 294).

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Danach geht es Schlag auf Schlag. Im Zeichen der Lebensphilosophie als umfassender Reaktivierung des Romantischen erscheinen alle als Romantiker (vgl. S. 302 ff.): Hofmannsthal, Rilke, George, Thomas Mann, Heinrich und Julius Hart, Harry Graf Kessler, Hermann Hesse, August Bebel, die Arbeiterbewegung (»kleinbürgerliche Romantik«, S. 306), Ernst Jünger, die im wilhelminischen Reich einsetzende, von Goebbels so genannte »stählerne Romantik« (S. 318 u.ö.), die Dadaisten, Heidegger usw. Außer den Autoren der Neuen Sachlichkeit und Gottfried Benn bleibt fast niemand übrig. Alle vorhandenen Unterschiede aber werden bis zur Unkenntlichkeit nivelliert.

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Nietzsches Gleichsetzung des Dionysischen mit dem wahrhaft Romantischen erschien Safranski offenbar so überzeugend, dass er sie als Zuordnungskriterium und Beschreibungsmodell übernommen hat. Überall dort, wo das Lebendige im Sinne Nietzsches als entscheidender Wert gilt, sieht Safranski das Romantische am Werk, am meisten aber dort, wo die Visionen der Lebenssteigerung und Eigentlichkeit ins Politische ausgreifen: in der politischen Romantik nach 1800, bei Carl Schmitt und Heidegger, schließlich im Nationalsozialismus. Die Verlockung, zugleich romantisch und politisch zu werden, interpretiert Safranski als zentrale Besonderheit der deutschen Entwicklung:

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Immer aber bleibt das Mißverständnis, daß man in der Politik etwas sucht, was man dort niemals finden wird: Erlösung, das wahre Sein, Antwort auf die letzten Fragen, Verwirklichung der Träume, Utopie des gelingenden Lebens, den Gott der Geschichte, Apokalypse und Eschatologie. Wer solches aber doch in der Politik sucht, der gehört zur politischen Romantik. (S. 347)
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In dieser Perspektive zählt die Generation der 68er, mit welcher der Band schließt, zweifellos zu den Romantikern. Dass es sich hierbei um ein internationales Phänomen zwischen Paris, Rom, Berkeley und Berlin handelte, erwähnt der Autor kurz (vgl. S. 385), kehrt dann aber sogleich in die alte Bundesrepublik zurück; und die DDR kommt nicht vor, als wäre sie nicht ebenfalls zutiefst deutsch und auf fatale Weise politisch romantisch gewesen.

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Das Buch endet mit einem Plädoyer für die Trennung der Sphären und einem Lob des Pragmatismus. Das Romantische, als etablierte Geisteshaltung vermeintlicher Weltfremdheit, darf sich im Reich des »Vorstellbaren« austoben, soll sich jedoch vom Politischen als dem einzig »Lebbaren« fernhalten (S. 393). Damit sind die modernen Hegelianer unter uns sicher einverstanden, aber auch alle anderen?

 
 

Anmerkungen

Thomas Mann: Doktor Faustus. In: T. M.: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Werke, Tagebücher, Briefe. Hg. von Heinrich Detering u.a. Bd. 10.1. Hg. von Ruprecht Wimmer. Frankfurt/M. 2007, S. 132.   zurück
Vgl. ebd., S. 654 f.: »Meine Erzählung eilt ihrem Ende zu – das tut alles. Alles drängt und stürzt dem Ende entgegen, in Endes Zeichen steht die Welt, – steht darin wenigstens für uns Deutsche, deren tausendjährige Geschichte, widerlegt, ad absurdum geführt, als unselig verfehlt, als Irrweg erwiesen durch dieses Ergebnis, ins Nichts, in die Verzweiflung, in einen Bankerott ohne Beispiel, in eine von donnernden Flammen umtanzte Höllenfahrt mündet. Wenn es wahr ist, was der deutsche Spruch wahrhaben will, daß ein jeder Weg zu rechtem Zwecke auch recht ist in jeder seiner Strecken, so will eingestanden sein, daß der Weg, der in dies Unheil ging – und ich gebrauche das Wort in seiner strengsten, religiösesten Bedeutung – heillos war überall, an jedem seiner Punkte und Wendungen, so bitter es die Liebe ankommen mag, in diese Logik einzuwilligen.«    zurück
Thomas Mann: Leiden und Größe Richard Wagners. In: T. M.: Essays. Nach den Erstdrucken hg. von Hermann Kurzke und Stephan Stachorski. Bd. 4: Achtung Europa! Essays 1933–1938. Frankfurt/M. 1995, S. 11–72, hier S. 65.   zurück
Vgl. Rüdiger Safranski: Ein Meister aus Deutschland. Heidegger und seine Zeit. München, Wien 1994.   zurück