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Die Gottscheds: Ein Arbeitspaar der Aufklärung zwischen Gelehrsamkeit und Vernetzung

  • Gabriele Ball / Helga Brandes / Katherine R. Goodman (Hg.): Diskurse der Aufklärung. Luise Adelgunde Victorie und Johann Christoph Gottsched. Wiesbaden: Harrassowitz 2006. 288 S. 18 s/w Abb. Gebunden. EUR (D) 79,00.
    ISBN: 978-3-447-05495-9.
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Der Band richtet das Augenmerk auf die »Arbeitsgemeinschaft« (S. 7) des Ehepaares, das im deutschsprachigen Raum die Aufklärung prägte, die Forschung aber nur zeitverschoben und in der Regel als Leistung des bzw. der einzelnen beschäftigt hat. Im Gegensatz zu der langen Forschungstradition, in der Werk und Wirkung Johann Christoph Gottscheds (1700–1766) stehen, ist seine Ehefrau Luise Adelgunde Victorie, geb. Kulmus (1713–1776) erst seit den 1980er Jahren verstärkt in den Blick getreten, zumeist im Kontext der Gender Studies. In vier thematisch gruppierten Blöcken bilanziert der Band die Forschung und stellt die Aktivitäten der Ehepartner von neuem zur Diskussion.

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Die Lebenswelten der Luise Kulmus, verheiratete Gottsched

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Da sind zunächst die Lebenswelten der unverheirateten, dann verheirateten Frau. Luise Adelgunde Victorie Kulmus, Tochter Johann Georg Kulmus’ (1680–1731), des Leibarztes des Kurfürsten Friedrich August I. von Sachsen (1670–1733), erwirbt in Danzig im Kreis von Familie und Freunden eine selbst für Gelehrtentöchter außergewöhnlich gute Bildung, ausgerichtet an zeitgenössischer Philosophie und Poetik, Literatur und Musik, aber auch an »modern science« (Goodman, S. 34) und Fremdsprachen – sie lernt das Englische kennen und lieben (Goodman, S. 31). Gottsched seit 1727 durch eigene Gedichte bekannt, lernen sich beide 1729 persönlich kennen und stehen seit 1730 in einem von den Eltern erlaubten Briefwechsel. Mit der 1735 endlich möglichen Heirat kommt Luise Kulmus nach Leipzig, in »ein, wenn nicht sogar das kulturelle Zentrum Deutschlands« (Döring, S. 42). Als Ehefrau des bereits weit über Leipzig hinaus bekannten Universitätsprofessors für Logik und Metaphysik führt sie einen »trotz Kinderlosigkeit arbeitsintensiven Haushalt« (Döring, S. 42), der nicht nur den Empfang von Besuchen und das Betreiben eines Mittagstischs einschließt, sondern auch die Beherbergung der Bibliothek der Deutschen Gesellschaft, die im Hause des Seniors aufgestellt – Gottsched tritt erst 1738 aus der Gesellschaft aus – und für »alle Mitglieder frei zugänglich« ist (Döring, S. 44). Gleichwohl war Luise Gottsched als Frau im Zentrum aufklärerischer Geselligkeit Zutritt und Mitgliedschaft in geselligen und wissenschaftlichen Vereinigungen versagt. Den adelig bestimmten »Aletophilen« , in deren Kreis sie in den 1740er Jahren fassbar ist, war keine lange Lebensdauer beschieden; über im Hause Gottsched selbst veranstaltete gesellige Zusammenkünfte ist noch ebenso wenig bekannt wie über Leipziger Formen der Geselligkeit oder ihre Beziehungen zu adeligen Frauen, die in Leipzig lebten.

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Die literarischen Aktivitäten der Luise Gottsched

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Der zweite Block thematisiert das Werk der Luise Gottsched anhand ihres Briefwechsels mit Gottsched, ihrer Lustspiele und der Polemik gegen ihr Trauerspiel Panthea. In Anbetracht des »doppelten Spannungsfeldes von intendiertem individuellen Selbstentwurf und adressatenbezogener ›Zurichtung‹« (Kording, S. 72) werden die »Konstruktionen der Unmittelbarkeit« in den Brautbriefen Luise Kulmus’ greifbar, aber auch deren Effekte:

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So ist die vermeintliche Unterwerfungsgeste [unter ihren zukünftigen Ehemann anläßlich der neuerlichen Aufschiebung der Hochzeit im August 1734, H. M.] letztlich nur dem äußeren aptum, der gesellschaftlich festgelegten Entscheidungsmacht des Bräutigams gegenüber der Braut […] geschuldet, die L. Kulmus ihrem Verlobten zwar verbal einräumt, die sie faktisch jedoch untergräbt und ins Unmögliche verkehrt. (Kording, S. 88)
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Gerade die Geschlechterdiskurse, roter Faden der fünf Original-Lustspiele, die L. Gottsched zwischen 1743 und 1745 verfasst, weckten das Interesse der Zeitgenossen. »Burleske Gleichbehandlung der Geschlechter« und »junge weibliche Figuren, die beredt die vernünftige Stimme des Stückes bilden« (Becker-Cantarino, S. 105), angelegt bereits in der 1736 anonym veröffentlichten Pietisterey im Fischbeinrocke, bilden die Neuerungen, die sie in die Komödie und das deutsche Theater einführt, und zwar auch als »Zweifel an der maskulinen Deutungshoheit« (Becker-Cantarino, S. 106). Dass gerade Johann Jakob Bodmer (1698–1783) in Zürich gegen ihr Trauerspiel Panthea (1746) polemisiert, verweist auf den Streit zwischen Leipzig und Zürich um den fiktionalen Charakter der Poesie, erlaubt aber, die Entstehung einer »spezifischen Wertungssprache« bei der Auseinandersetzung mit einem literarischen Werk zu verfolgen, die einen »Fortschritt innerhalb des Genres Literaturkritik« (A. Lütteken, S. 109) markiert.

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Johann Christoph Gottscheds Publikationsstrategien

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Der Aufnahme der L. Gottsched auf dem literarischen Markt stehen die Strategien gegenüber, mit denen J. Ch. Gottsched seinerseits sich in der Öffentlichkeit platziert. Exemplarisch beleuchtet werden seine Förderung junger Autoren und seine Tätigkeit als Übersetzer. Die »Modellierung« eines »Autorprofils« – gemeint ist der in Diensten der Halberstädter Landesregierung stehende Jurist Magnus Gottfried Lichtwer (1719–1783) – setzt Gottsched von Leipzig aus systematisch ins Werk. Nach der mehr zufälligen Entdeckung von Lichtwers 1748 anonym veröffentlichten Vier Büchern äsopischer Fabeln widmet Gottsched ihnen in seiner Zeitschrift Das Neueste aus der anmuthigen Gelehrsamkeit 1751 eine erste lobende Besprechung. Die Diskussion über die Zugehörigkeit des Autors zu seiner Schule nutzt der ›Meister‹ umgehend zur Stärkung seiner eigenen, schwindenden Position auf dem literarischen Markt: weitere »wohlwollende Rezensionen«, Lichtwers »Einbindung in Organisationsformen des literarischen Lebens«, d. h. seine Mitgliedschaft in der Deutschen Gesellschaft zu Königsberg und der der freien Künste zu Leipzig, »Unterstützung bei der Produktion, Distribution und Rezeption seines Lehrgedichts Das Recht der Vernunft« (Hettche, S. 133) von 1758, dem zweiten und letzten von Lichtwers Werken. Lichtwer, der sich im Zuge des Niedergangs von Gottscheds Regelpoetik von seinem Förderer zu trennen weiß, kann dennoch ohne Mentor auf dem Markt nicht bestehen. Auch die Übersetzung von Pierre Bayles Dictionnaire historique et critique (1695–1697) von 1742 verdeutlicht Gottscheds Kenntnis und Umgang mit den Mechanismen von literarischem Markt und literarischer Öffentlichkeit. Während die Übersetzung als solche ohne die Arbeit seiner Frau nicht denkbar war, wie er selbst mehrfach hervorhob (Quéval, S. 146), erlauben ihm seine Anmerkungen den philosophischen Dialog mit dem Autor wie die Einübung in die Kunst, mithilfe der »Finessen der Beredsamkeit gewagte Gedankengänge gefahrlos zu veröffentlichen« (Quéval, S. 148).

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Das ›Arbeitspaar‹:
Gemeinsamkeiten und Absetzungsbewegungen

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Der vierte Block hebt auf gemeinsam erfahrene Einflüsse und divergierende Reaktionen der Ehepartner ab. Die frühen Trauerspieladaptionen, sein Sterbender Cato (1731) und ihre Cornelia, die Mutter der Grachen (um 1739), kreisen um die »vernünftige Regierungsform« (Pailer, S. 169). Vor dem Hintergrund eines von beiden postulierten Staatsmodells, »in welchem der Regent nicht qua Geburt absoluter Herrscher sein, sondern sich durch seinen Einsatz für das Gemeinwohl bewähren soll« (Pailer, S. 175), sind indes in beiden Stücken Staats- und Familienthematik derart verschränkt, dass der Widerspruch zwischen einer allein durch Erbschaft legitimierten Republik und einer aufklärerischen Erziehung zur Republik unlösbar bleibt. Neben der intensiven Auseinandersetzung der Gottscheds mit Exempeln aus der Geschichte »übte das zeitgenössische Frankreich zeitlebens einen großen Einfluß [auf beide, H. M.] aus.« (Brandes, S. 191) Dieser schlug sich in diversen »Transfer-Projekten« (ebd.) nieder: Übersetzungen, Poetiken, literaturtheoretischen Abhandlungen, publizistischen Arbeiten, der Herausgeberschaft von Theaterstücken und der Produktion eigener Stücke nach französischen Vorlagen. Beide begnügen sich keineswegs mit der Nachahmung der Franzosen. J. Ch. Gottscheds Übersetzung und Kommentar zu Bernard Le Bovier de Fontenelles (1657–1757) Digression sur les Anciens et les Modernes (1687) sind ein Plädoyer für eine »Modernisierung der traditionellen Kulturauffassung« (Brandes, S. 200), L. Gottscheds Lustspielproduktion vermittelt die zeitgenössische französische Komödie nach Deutschland und betreibt die »Entrhetorisierung des Stils« (Brandes, S. 211). Trotz beider Überzeugung, dass »positive emotions of love and patriotism were natural and beneficial elements of civil society« (Goodman, S. 280), trotz des Interesses, das L. Gottsched an Shaftesburys Sicht der Gefühle zeigt, verlegt sich J. Ch. Gottsched in seinen Trauerspielen auf »political and public affairs«, während L. Gottsched zwar »personal virtues and emotions« ins Zentrum rückt, aber sich mit »a more receptive attitude toward modern corncerns and modes of expression« begnügt (Goodman, S. 281).

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Der Vergleich der Privatbibliotheken der Ehepartner erschließt die materiellen Seiten ihrer Gelehrtenexistenz. Schon der Umfang, laut den überlieferten Auktionskatalogen 6000 Losnummern in seinem, 1222 in ihrem Fall –»eine absolute Ausnahme für eine nichtadelige Buchbesitzerin« (Ball, S. 220) –, aber vor allem das Profil ihrer Bibliothek dokumentiert die »Autonomie ihrer Sammlung und die Ebenbürtigkeit ihrer Gelehrsamkeit« (Ball, S. 222) ebenso wie die Unterschiede zu den von den Moralischen Wochenschriften propagierten »Frauenzimmer-Bibliotheken« (Ball, S. 221) und die zu der ihres Mannes. Der große Anteil an livres philosophiques, zur Hälfte in Französisch, belegt die stete Beschäftigung L. Gottscheds mit Weltweisheit und Philosophie. Hinzu kommen die geringe Autoren-Schnittmenge der beiden Bibliotheken, die Anglophilie, die Dominanz an Oktavbänden und die Präsenz aller Werke der Physikotheologie sowie, direkt benachbart, die der Institutions de physiques (1740) der Gabrielle Emilie du Châtelet (1706–1749) in ihrer Bibliothek. Die

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Ambivalenz [der L. Gottsched dem Thema ›weibliche Öffentlichkeit‹ gegenüber, H. M.] hat jedoch nicht verhindert, dass sie, manchmal mit Unterstützung des Literaturpolitikers Gottsched, manchmal trotz ihrer Rolle als »Gehülfin« Leistungen hervorgebracht hat, welche den für Frauen vorgesehenen Aktionsradius weit überschreiten. (Ball, S. 228)
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Der Band gestattet erstmals konkrete Einblicke in die »Arbeitsgemeinschaft« der Gottscheds. Er bezeugt Eigenständigkeiten und Unterschiede und eröffnet darüber hinaus neue Perspektiven auf Werk und Wirken der Ehepartner. Für die weitere Forschung stellt er einen unverzichtbaren Baustein.