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Die weiten Felder des Konservatismus

  • Jan Andres / Wolfgang Braungart / Kai Kauffmann (Hg.): »Nichts als die Schönheit«. Ästhetischer Konservatismus um 1900. (Historische Politikforschung 10) Frankfurt/M.: Campus 2007. 368 S. EUR (D) 39,90.
    ISBN: 978-3-593-38334-7.
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Der Konservatismus, so zeigt ein Blick in die einschlägige Forschung, ist einer der am schwersten fassbaren der ideengeschichtlichen Großbegriffe der Moderne. Seit Karl Mannheims Habilitationsschrift von 1925, die die deutschsprachige Konservatismus-Forschung in die Spur setzte, wird um eine adäquate Beschreibung von Begriff und Phänomen gerungen. Die Positionen liegen nicht selten weit auseinander. Mannheims klassische Abgrenzung des Konservatismus vom Traditionalismus ist bis heute sicher die wirkmächtigste Deutungsvorlage; der Traditionalismus fundiert in Mannheims Interpretation ein rein reaktives Handeln und ist als überhistorische anthropologische Konstante zu verstehen, während der Konservatismus ein Produkt der veränderten Strukturen der Moderne ist und sinnhaftes Handeln zum Ziel hat. 1 An der Frage nach dem Verhältnis zur Moderne lassen sich fortan die Deutungslinien, aber auch die Kontroversen festmachen. Als »Dilemma des Konservatismus« beschreibt Martin Greiffenhagen 1971 dieses Verhältnis. Der Konservatismus kritisiert oder bekämpft immer wieder jene Moderne, deren genuines Produkt er selbst ist. Diese dilemmatische Situation führt auch zu der schweren Greifbarkeit und Darstellbarkeit des Konservatismus als historisches Phänomen, da er sich nicht ideologisch einrichten will in den Verhältnissen, die er ablehnt – einfach gesagt: das Programm des Konservatismus ist es, kein Programm zu haben, und dies besonders im Gegensatz zu seinen großen historisch-politischen Gegen- und Konvergenzbegriffen seit dem frühen 19. Jahrhundert, dem Sozialismus und Kommunismus und dem Liberalismus. 2 Gegen die bis hierhin geteilte Auffassung, den Konservatismus als etwas spezifisch Modernes zu verstehen, argumentiert Panajotis Kondylis in seiner schon in ihrer Materialfülle ehrfurchtgebietenden Studie Konservativismus – Geschichtlicher Gehalt und Untergang von 1986. Kondylis weist den Konservatismus in die Schranken des Alten Europa und sieht in der Moderne nur noch Fragmente konservativen Denkens am Werk, die sich zudem durch Vermischung mit dem Ideengut des Liberalismus in fortschreitender Auflösung befinden. 3

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Konservatismus ästhetisch?

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Lässt man sich allerdings doch auf die Deutung ein, den Konservatismus als das komplexe Widerlager zur Moderne zunächst einmal wenigstens zu umreißen, dann stellt sich schnell die Frage nach der Beschaffenheit der Entwürfe, die konservatives Denken der abzulehnenden eigenen Zeit entgegenstellt. Sind sie nur auf den Feldern des Politischen und Gesellschaftlichen zu suchen? Mit dem von Jan Andres, Wolfgang Braungart und Kai Kauffmann herausgegebenen Band, der eine interdisziplinäre Bielefelder Tagung von 2005 dokumentiert, lässt sich diese Frage klar verneinen. Der ›ästhetische Konservatismus‹ verlangt nach einer ebenso differenzierten Analyse, wie ihn die geschichts- und politikwissenschaftliche Forschung auf ihren Arbeitsfeldern betreibt. Die Herausgeber haben die Zeit zwischen 1870 und 1933 als Untersuchungszeitraum vorgeschlagen – mit dem Beginn der ›klassischen‹ oder ›emphatischen‹ Moderne geht bekanntlich eine epochale Veränderung in der Selbsteinschätzung des künstlerischen Feldes einher. Zuständigkeiten, Einflussmöglichkeiten und Sinnstiftungsfunktionen der Kunst werden auf Gebiete ausgedehnt, die vorher nicht erreichbar waren. Vor dem Hintergrund dieses ganz neuen Selbstverständnisses von Kunst und Künstlern wird auch die Frage nach dem Ort des Konservatismus im Feld des Ästhetischen plausibel. Das »Dilemma des Konservatismus« faltet hier gleichsam noch eine weitere komplexe Dimension aus: Wie lassen sich künstlerische Innovation und die gleichzeitige Ablehnung einer progressiven Moderne vereinbaren? Es ist diese Frage, die im Zentrum der meisten Beiträge steht, die das weite Untersuchungsfeld zwischen Politik, Gesellschaft, Publizistik, Literatur, Kunst, Architektur und Musik abstecken.

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Die Verständigung über das Phänomen des Konservatismus wird allerdings nicht selten verstellt von einem zunächst recht trivial erscheinenden, sich aber schnell durchaus vertrackt erweisenden Umstand. Gemeint ist die heuristisch heikle Tatsache, dass der Konservatismus – oder vielmehr das Adjektiv ›konservativ‹ – ein recht unproblematisches Leben in der Alltagssprache führt. Was im alltäglichen Sprachgebrauch ›konservativ‹ bedeuten soll, weiß jeder. Diese unklare und unstete Semantik des Begriffes zwischen sich widersprechenden historiographischen Deutungsangeboten und einem schnell sich davor schiebenden umgangssprachlichen Verständnis knüpft auch in der wissenschaftlichen Verständigung Fallstricke, denen so schnell nicht zu entkommen ist – eine Beobachtung, das sei an dieser Stelle schon gesagt, die sich auch an einigen Beiträgen des Sammelbandes machen lässt.

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Grundlagen in Gesellschaft und Kunst

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So leidet der erste Beitrag des Bandes, Johannes Roggenhofers »Philosophische Gedanken über ästhetischen Konservatismus«, an einer gewissen Unbestimmtheit, was die Füllung des Konservatismus-Begriffes angeht. Einmal heißt es, »Konservatismus als außerästhetisches Verhaltensmuster ist anthropologisch fundiert« (S. 15), kurze Zeit später erscheint er als »eine reflektierte Haltung und setzt das vom Verlust Bedrohte, das zu Bewahrende als Wert.« (S. 18) Roggenhofer stellt dann drei Typen des Konservatismus um 1900 zur Debatte, den »natürlichen Konservatismus«, den »revolutionären Konservatismus« und den »relativen Konservatismus«. So wenig man gegen diese Typenbildung sagen mag, so wenig lässt sich ihr auch überzeugt zustimmen, weil sie merkwürdig aus der Luft gegriffen scheint. Den »natürlichen Konservatismus« hatte im Übrigen seinerzeit schon Karl Mannheim als Typus erwogen, dann aber aus gutem Grund abgelehnt – dies hätte zumindest kommentierend Erwähnung finden müssen. 4 Ein solch unscharfer, eher assoziativer als ›philosophischer‹ Umgang mit dem Begriffsinventar trägt wenig dazu bei, der Beschäftigung mit dem ästhetischen Konservatismus ein Fundament zu verleihen.

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Grundlegende historische Reflexionen über die Kategorie ›Schönheit‹ hingegen bietet Wolfgang Braungart. Seit dem Beginn der ›Makroepoche Moderne‹ in der Sattelzeit um 1750 lässt sich Schönheit, dem klassizistischen Ideal entsprechend, als ästhetisch konservativ weil ganzheitlich, formbewusst und bruchlos bestimmen. Mit dem Beginn der ästhetischen Moderne ab 1850 ergibt sich aber eine deutliche Veränderung, ein »ambivalentes Verhältnis zur Schönheit« (S. 34). Zunächst, im Naturalismus, erfährt die Schönheit eine Abwertung durch die Konkurrenz der ›sozialen Wirklichkeit‹ als künstlerisches Leitkonzept. Im Ästhetizismus wird das Gegenteil der klassischen Schönheit interessant, die amoralische Schönheit, das authentische, starke Gefühl, die »Schönheit des Bösen« (Baudelaire). Am Beispiel Stefan Georges und seines Kreises erläutert Braungart, wie diese moderne Ambivalenz noch weiter aufgespannt wird. Der ›Wille zur Schönheit‹ verbindet sich mit kulturkritischen Ambitionen und entwickelt daraus ein nicht mehr konservatives, sondern revolutionäres Geschichtsverständnis, das eine fundamentale Ablehnung der Moderne aus dem Geist des Ästhetischen mit sich führt. Hiermit ist in der Tat das markanteste Spannungsfeld des ästhetischen Konservatismus aufgezeigt, die Gleichzeitigkeit von ästhetischem Avantgarde-Bewusstsein und kulturkritischem »ästhetischem Fundamentalismus« (Stefan Breuer). Mit einem Blick auf die seit 1902 erscheinende Zeitschrift Die Schönheit erweitert Braungart die Perspektive um einen bedeutenden Aspekt. Hier wird das klassizistische Schönheitsideal anschlussfähig für vitalistische, biologistische und rassistische Konzepte.

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Diese ganz sicher zentrale Frage nach der ›Anschlussfähigkeit‹ des ästhetischen Konservatismus an die sich radikalisierenden Strömungen der Moderne stellt auch Barbara Beßlich in ihrem Beitrag und beantwortet sie mit einem Blick auf das Werk des Dichters Richard Dehmel (1863–1920). Aus heutiger Perspektive wohl eher in die zweite oder dritte Reihe einzuordnen, war Dehmel um die Jahrhundertwende ein berühmter Mann. Beßlich zeigt, wie sich Dehmels ästhetisch durchaus innovatives zivilisationskritisches Programm einer ganzheitlichen, alle Lebensbereiche umfassenden Kunst öffnet zu einer vitalistischen Emphase der Menschheitsbeglückung und von hier zum national durchdrungenen Kulturkriegertum in der Zeit des Ersten Weltkriegs. Die Ermächtigung der Kunst entwickelt eine Dynamik, die ihrem Sachwalter aus den Händen gleitet und ihn zum nationalen Taumel verführt – Dehmel erscheint als ein geradezu idealtypisches Beispiel für den Künstler, der sich, ohne dessen wirklich gewahr zu werden, auf das Feld der Politik verirrt und dort nach den selbst geschaffenen Regeln der Kunst agiert.

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Wer konsumiert die Werke der ästhetischen Moderne in ihrer Entstehungszeit? Diese Frage beantwortet die Bildungshistorikerin Carola Groppe. So differenziert, wie sich die wilhelminische Gesellschaft entwickelt und transformiert, muss auch die Antwort ausfallen. Das aufsteigende liberal-konservative Wirtschafts- und Bildungsbürgertum des Kaiserreichs, so Groppe, hat durchaus etwas übrig für die Experimente der Moderne, solange sie nicht das Bedürfnis nach dem ›Idealen‹ unbefriedigt lassen. Auf der anderen Seite eignet sich die ästhetische Avantgarde als Ausweis sozialer Distinktion eines in seiner Exklusivität bedrohten Bildungsbürgertums, das das Neue in seinen Kanon integriert, um sich vom nutzenorientierten Bildungsbegriff der Aufsteiger abzugrenzen. Zuletzt lässt sich eine Distinktion durch die Rezeption avantgardistischer Kunst auch familienbiographisch erklären, wie Groppe darlegt: Die Radikalität der zeitgenössischen Kunst ermöglicht einen Gegenentwurf zu den konservativen Strukturen der Herkunftsfamilie; Söhne aus dem Wirtschaftsbürgertum investieren ihr Geld in expressionistische Maler und steigen so aus dem vorgezeichneten Lebensmodell aus.

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Konservatismus zwischen Historismus
und Existenzialismus

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Einer der grundlegenden Erscheinungen der Moderne, ohne die der Konservatismus schlechterdings nicht zu denken ist, widmet sich der Historiker Johannes Heinßen. Ohne das Verständnis von der Geschichtlichkeit all dessen, was ist, ist das Weltbild der Moderne nicht verständlich. Heinßen versucht so, »das Phänomen des ästhetischen Konservatismus über die Frage nach dem Stellenwert der Geschichte in der Kultur ihrer Zeit zu beschreiben.« (S. 77) Er weist hierzu auf eine äußerst wichtige historische Koinzidenz hin. Für die Zeit um 1890, also zeitgleich mit dem Beginn der ästhetischen Moderne im deutschsprachigen Raum, diagnostiziert er eine krisenhafte Fragmentarisierung der Wissens- und Ideenbestände des zuvor stabilen Historismus. Diese Fragmente stehen nun gleichsam der ästhetischen Aneignung frei zur Verfügung und werden auf diese Weise auch produktiv genutzt. Als Beispiel führt Heinßen die Zeitgedichte in Stefan Georges Siebentem Ring an sowie – noch markanter – den Renaissance-Diskurs im Kaiserreich, in dessen Zentrum Julius Langbehns kulturkritischer Bestseller Rembrandt als Erzieher von 1890 steht.

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Diesem wirkmächtigen Buch, ohne das Erörterungen zum ästhetischen Konservatismus kaum auskommen können, gilt auch Stefan Breuers Interesse. In souveräner Analyse schält er den Kern von Langbehns schillernder wie problematischer Rembrandt-Schrift heraus. Weder die Begriffe des Ästhetizismus noch des Konservatismus und des Fundamentalismus sind die passenden Umschreibungen für das, was dieses Werk ausmacht. Breuer schlägt hierfür die Fügung »ästhetisch-politischer Existentialismus« vor. Diesen beschreibt er in Anlehnung an Ausführungen des Philosophen Michael Großheim als Bewältigungsstrategie in einer »von der entfremdeten Subjektivität hervorgerufenen Krise«. Diese Bewältigung wird »im Feld des Politischen« betrieben als ein plötzlicher »Umschlag von der individuell-privaten Dimension zur kollektiven« (S. 145). Diese Deutung Breuers warnt also in gewisser Weise davor, einschlägige Texte und Autoren der Zeit um 1900 allzu schnell in so großräumige ideengeschichtliche Zusammenhänge wie den des Konservatismus einzureihen und dabei jenen grundlegenden Reflex zu übersehen, der sie prägt: die Flucht des entfremdeten Individuums in die Möglichkeitswelten des Kollektiven und Politischen – zweifellos ein unter den Bedingungen der Moderne produktiver wie gefährlicher Reflex.

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Eine sehr originelle Lesart der Tafeln in Stefan Georges Siebentem Ring bietet Jan Andres. Er beschreibt diese Gedichte als ›Erinnerungsorte‹ im Sinne Pierre Noras. In der Tat hat der kulturkritische und normative Impetus des Historikers im Frankreich der Mitterand-Ära einiges gemein mit Georges kulturkritischer und normativer Literaturprogrammatik um 1900. Hat Andres‘ differenzierte Interpretation auch viel für sich, so ist aber doch kritisch zu fragen, ob der »Geschichtskultur« (Wolfgang Hardtwig) der wilhelminischen Jahrhundertwende historisch spezifisch genug begegnet wird mit einer solchen Anwendung des inzwischen fast inflationären gedächtnistopologischen Ansatzes auf ihre Voraussetzungen. Johannes Heinßen hat in seinem schon vorgestellten Beitrag ebenfalls mit Blick auf George auf die Fragmentarisierung des Historismus um 1900 und deren ästhetisches Potential hingewiesen – möglicherweise ließen sich diese Ausführungen und die Analyse von Georges literarischer Gedächtnispolitik zusammenführen.

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Form und Radikalität

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Die Kategorie der Form steht im Mittelpunkt von Toni Tholens Aufsatz zum ästhetischen Konservatismus Hugo von Hofmannsthals und erweitert damit das Forschungsfeld um einen wichtigen Aspekt. Bei Hofmannsthal – der Verfasser untersucht das Märchen der 672. Nacht, die Reitergeschichte und die Griechenland-Essays – manifestiert sich der ästhetische Konservatismus darin, »die ästhetische Form […] an einen regressiven Destruktions- bzw. Todestrieb zu binden und somit Einheit, Ordnung und Disziplin als Resultat eines souveränen oder erhabenen Gewaltakts zu denken […].« (S. 204) Diese enge Verknüpfung von Form und Tod ist, so Tholen, kein Zeichen des Antimodernismus, sondern schreibt den Texten vielmehr eine problematische Signatur der Moderne selbst ein, die sich spätestens mit dem Ersten Weltkrieg auch machtvoll und zerstörerisch außerhalb des ästhetischen Feldes zeigt, die »Unfähigkeit, Einheit und Gemeinschaft ohne Gewalt- und Todesbereitschaft zu denken.« (Ebd.)

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Das publizistische Frühwerk Heinrich Manns ist, wie Volker Riedel in seinem Beitrag noch einmal zeigt, ein dankbarer Gegenstand für die Beleuchtung der komplexen Beziehung von politischem und ästhetischem Konservatismus. Der Versuch, in der literarischen Moderne »anzukommen« und sich gleichzeitig auf dem Wege der Abgrenzung eine eigene Position innerhalb der progressiven Strömungen in den frühen 1890er Jahren zu schaffen, scheint Heinrich Mann eine experimentierfreudige und nicht ganz unproblematische Offenheit für allerlei ideologische Versatzstücke verschafft zu haben. Dies alles gipfelte in seiner Mitarbeit an der völkisch-antisemitischen Monatsschrift Das Zwanzigste Jahrhundert in den Jahren 1895 und 1896, deren Deutung weiterhin eine biographische Herausforderung bleibt.

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Die Ästhetik der Politik

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Friedmar Apel liefert einen pointierten Essay zu Individualismus und Anarchie und ihren politisch-sozialen Dimensionen bei Oscar Wilde, mit Seitenblicken auf Karl Kraus, Peter Altenberg und Hugo von Hofmannsthal; Justus H. Ulbricht beschreibt etwas weitschweifig die Strömungen der Neoklassik und Neoromantik am Beispiel Weimars um 1900 – von beiden Verfassern hätte man gern noch vertiefende Reflexionen gelesen, auf welche Weise ihre Themen in Verbindung mit dem ästhetischen Konservatismus zu bringen sind. Letzteres, die Frage nach der Verbindung mit dem Titelthema des Sammelbandes, bleibt allerdings sehr im Unklaren in dem mit knapp fünfzig Seiten mit Abstand längsten Beitrag des Buches, Burckhard Dückers Abhandlung zum nationalsozialistischen Thing-Spiel. Diese »Literaturform« (S. 242) wird umfassend aus der Perspektive der Ritualforschung dargestellt – man hat es mit einem hochwertigen Handbuchartikel zu tun, der sich anscheinend in die falsche Publikation verirrt hat, was seine Qualität selbstverständlich nicht schmälert.

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Den unbestreitbar literaturwissenschaftlich dominierten Band beschließen drei Beiträge, die sinnvolle Perspektiven auf andere Kunstgattungen und die dort zutage tretenden Debatten um Konservatismus und Moderne erlauben. Am Beispiel der kunstkritischen Arbeiten Julius Meier-Graefes – besonders der Entwicklungsgeschichte der modernen Kunst (1904) und des Bandes Der Fall Böcklin (1905) – legt Markus Bernauer dar, wie diese wirkmächtigen Schriften das Verständnis des Modernen in der Malerei bis weit ins 20. Jahrhundert hinein geprägt haben: moderne Kunst repräsentiert keine Ideen, sondern nur sich selbst, Licht, Farben und Formen. Die »reine[ ] Bildwirklichkeit« (S. 294) ist ihr Thema, Realismus und die Darstellung von Außer-Malerischem sind die Zugangsweisen der ›Archaisten‹. Trotz oder gerade wegen der nach diesen Setzungen vergleichsweise einfachen Identifizierbarkeit moderner Künstlern auf der einen Seite und konservativer auf der anderen in diesem Bereich weist Bernauer zurecht darauf hin, dass »in den Debatten um die Kunst der ›Gegenwart‹ seit 1900 […] die Ideologie von Fortschrittlichkeit und Konservativität ein wesentlicher Bestandteil der Moderne selber« ist. (S. 309)

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Die beiden letzten Aufsätze schließlich bieten noch einmal eindrucksvolle Beispiele für das variationenreiche Thema von der Gleichzeitigkeit von ästhetischer Innovationsbereitschaft und politisch-gesellschaftlichem Konservatismus. Der Architekturhistoriker Wolfgang Sonne ergänzt dieses Thema sehr illustrativ um die anderen sich bietenden Kombinationen; neben das Rubrum ›ästhetisch progressiv und politisch konservativ‹ tritt also die Verbindung von ästhetischem Traditionalismus und politischem Konservatismus sowie die Verbindung von ästhetischem Traditionalismus und politischer Progressivität. Für alle diese Kombinationen finden sich in der Programmatik und Praxis der Architektur um 1900 und ihre Einbindung in die unterschiedlichsten ideologischen Gemengelage der Zeit prägnante Beispiele. Auf die Ambivalenz der radikalen musikalischen Modernität in der Schönberg-Schule weist der Musikwissenschaftler Werner Keil hin: gleichsam auf der anderen Seite des revolutionierenden Aufbruchs in die Atonalität findet sich ein Hang zum Okkulten, Mystischen, zum Theosophischen und Gnostischen bei Schönberg und seinen Schülern – der Schritt in die Moderne geht einher mit einer manifesten Verweigerung ebendieser Moderne.

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Fazit

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Dem Band kann uneingeschränkt das Verdienst zugesprochen werden, die von den Herausgebern vorgeschlagene Prägung vom ›ästhetischen Konservatismus‹ nicht nur plausibel gemacht, sondern auch das breite Spektrum seiner Wirkungen aufgezeigt zu haben. Doch aber sei noch einmal an die schon eingangs formulierte Kritik angeschlossen. Probleme ergeben sich bei der Beschreibung des Konservatismus und seiner komplexen, ja widersprüchlichen Gestalt besonders dort, wo die Begrifflichkeiten nicht klar definiert sind oder die Voraussetzungen der Begriffsbildungen nicht offen gelegt werden. Für eine interdisziplinäre Beschäftigung mit dem Konservatismus gleich welcher Ausprägung ergibt sich hier eine – wenn nicht die größte – Chance: aus den unterschiedlichen Disziplinen heraus können unterschiedliche Angebote der begrifflichen Arbeit am Phänomen des (ästhetischen) Konservatismus gemacht werden. Ihre Zusammenführung im Sinne einer Verknüpfung miteinander oder der Feststellung einer Unvereinbarkeit kann neue Perspektiven auf das Phänomen eröffnen. Hierzu bietet der Sammelband leider zu wenige Möglichkeiten. An einem markanten Beispiel sei diese Kritik deutlich gemacht. Während der Sozialwissenschaftler Stefan Breuer in seinem Beitrag die klassische Unterscheidung Mannheims zwischen Konservatismus und Traditionalismus referiert und auf sie zurückgreift (S. 129), findet man im Aufsatz der Literaturwissenschaftlerin Barbara Beßlich beide Begriffe zur Doppelformel »traditionalistisch-konservativ« zusammengefügt (S. 149) – sie sind in diesem Gebrauch also anscheinend als Synonyme zu verstehen. Der Architekturhistoriker Wolfgang Sonne hingegen bezeichnet mit Traditionalismus im Gegensatz zum Konservatismus eine »moderne Strategie«, die einen »reflexiven Bezug zur Architekturgeschichte« herstellt. (S. 336) Das ist Mannheims Definition – nur spiegelverkehrt. Eine interdisziplinäre Beschäftigung mit dem Konservatismus wird dann ertragreich, wenn solche unterschiedlichen Begriffsverwendungen nicht nur nebeneinander stehen, sondern als solche auch reflektiert und zwischen den Disziplinen erörtert werden. Möglicherweise ist dies auf der dem Band vorausgegangenen Tagung geschehen, in den Beiträgen dokumentiert ist es aber bedauerlicherweise nicht. Diese Einschränkungen ändern aber nichts an der hohen Qualität und der Vielfalt der Beiträge. Zukünftige, breiter angelegte monographische Arbeiten, die die Begriffsprägung vom ästhetischen Konservatismus aufnehmen wollen, was nachdrücklich zu wünschen ist, finden in dem Band wichtige Arbeitsfelder umrissen und außerdem die interessantesten Möglichkeiten der Anknüpfung und Abgrenzung versammelt.

 
 

Anmerkungen

Karl Mannheim: Konservatismus. Ein Beitrag zur Soziologie des Wissens. Hg. von David Kettler u.a. (stw 478) Frankfurt/M. 1984 – als Habilitationsschrift hatte Mannheim seine Studie 1925 unter dem Titel »Altkonservatismus« vorgelegt.    zurück
Martin Greiffenhagen: Das Dilemma des Konservatismus in Deutschland. München 1971.   zurück
Panajotis Kondylis: Konservativismus. Geschichtlicher Gehalt und Untergang. Stuttgart 1986.    zurück
Vgl. Karl Mannheim (siehe Anm. 1), S. 93.   zurück