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Geheime Wege in beforschtem Terrain

Adam Soboczynski über Kleist

  • Adam Soboczynski: Versuch über Kleist. Die Kunst des Geheimnisses um 1800. Berlin: Matthes & Seitz 2007. 320 S. Gebunden. EUR (D) 28,90.
    ISBN: 978-3-88221-870-1.
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Kleist ist Kult. Noch immer ziehen die Texte dieser schillernden Schriftstellerfigur das literaturwissenschaftliche Interesse auf sich. In seinem Versuch über Kleist. Die Kunst des Geheimnisses um 1800 will Adam Soboczynski aufzeigen, dass der Dauerbrenner ›Kleistforschung‹ aber nach wie vor nicht ausgeschöpft ist. Er tut dies, indem er den Leser auf bisher unbegangene Wege im allseits bekannten Kleistgebiet zu führen versucht. Während die gängige Forschungsmeinung in den Gewaltexzessen Kleistscher Texte nämlich nicht selten den Beweis für eine Modernität sieht, welche »den Humanismus der Aufklärung hinter sich gelassen« (S. 7) hat, greift Soboczynskis Grundthese historisch weiter zurück: Die Gewalt sei vielmehr die extreme Steigerung einer negativen Anthropologie, welche die europäische Hofkultur bereits entfaltet habe – »Kleists Modernität speist sich paradoxerweise aus voraufklärerischen Verhaltensmustern der Verstellungskunst […].«(S. 8)

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Soboczynski stützt seine These, indem er als Erstes eine historisch-theoretische Verortung des Geheimnisdiskurses an sich unternimmt, worauf er eine Auseinandersetzung mit der Rolle des Geheimnisses in ausgewählten Episoden der Kleistschen Biographie folgen lässt, unter anderem anhand des Textkorpus der Würzburger Reise. Den Kernpunkt der Abhandlung bildet schließlich eine erneute Lektüre der Novellen Der Findling, Die Marquise von O... und Die Verlobung in St. Domingo, welche vollständig im Buch abgedruckt sind. Dabei will Soboczynski die Verstellungskunst einerseits herausstellen als handlungsstiftendes und damit inhaltliches Moment in den ausgewählten Texten, andererseits als grundlegenden Bestandteil »einer poetologischen Erzählstrategie« (S. 11), die auf dem listigen Erzähler basiert. Gleichzeitig stellt er die Rückgriffe Kleists auf die Verstellungskunst jeweils in den Zusammenhang mit einer zeitgenössischen gesellschaftspolitischen Thematik.

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Machtspiele zwischen
secretum und mysterium

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Mit der mittelalterlichen Übertragung der Paulinischen Transsubstantiationslehre auf den Herrscherkörper spaltete sich dieser in einen weltlich-sterblichen und einen göttlich-unsterblichen. In Verbindung mit dem Konzept des deus absconditus führte das schließlich zu einer allgemeinen Anerkanntheit des Herrschaftsgeheimnisses. An der Wende des achtzehnten zum neunzehnten Jahrhunderts sahen sich diese arcana imperii jedoch einer gewissen Diskreditierung ausgesetzt, denn die allmähliche Entzauberung der Welt entzog dem Geheimnis seinen herrschaftslegitimierenden Charakter. Auch die darauf begründeten höfischen Klugheitslehren des siebzehnten Jahrhunderts, die zu einer affektkontrollierten eloquentia corporis anleiteten, blieben von diesem »pejorativen Stoß« (S. 19) nicht verschont. Soboczynski zufolge wusste Kleist um die prekäre Situation des Herrschers um 1800, der seiner Gottesanalogie beraubt war, und führte dementsprechend ein entzaubertes Herrschaftsgeheimnis vor: Das arcanum imperii verwandelt sich in »das lächerliche Faktum einer mühsam kaschierten Lüge« (S. 25), und der sterblich-reale Königskörper sowie das Scheitern der Verstellung rücken ins Zentrum der Handlung.

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Obwohl aber die Aufklärung mit ihrer Forderung nach Wahrhaftigkeit einen Rücktritt des Geheimnisses forderte, verbannte sie es nicht vollständig aus ihren Reihen. In Anlehnung an Koschorke verweist Soboczynski unter anderem auf die fortan veränderte Verbindung des Geheimnisses mit dem Modus der Schriftlichkeit: Als »affektives Bindegewebe zwischen den Kommunikanten« (S. 30) wurde das Geheimnis zur Grundlage einer aufgeklärten Kommunikationsutopie. Es ist der Würzburger Briefkorpus, in dem Kleist sich des Geheimnisses in dieser Funktion als sozialem Bindemittel einerseits noch bedient, andererseits aber bereits auf dessen Dekonstruktion zusteuert. Denn Kleist stellt dem Geheimnis Lessings, das eine kommunikative Brüderlichkeit entwirft, ein Geheimnis entgegen, das »fast gänzlich in einem machtstrategischen Kalkül auf[geht]« (S. 52). Außerdem konstituiert Kleist mit seinem steten Versprechen, das Geheimnis – den Grund für die Würzburger Reise – in einem nächsten Brief aufzudecken und dem gleichzeitigen Hinweis darauf, dass sich das Geheimnis eigentlich gar nicht aufdecken lasse, eine Grundstruktur des Geheimnisses, bei welchem das secretum als prinzipiell aufdeckbares Geheimnis dem mysterium gegenübersteht, welches sich als »notorische Undurchdringlichkeit des Wissens« (S. 43) definieren lässt. Soboczynski sieht darin das »Grundprinzip der Kleistschen Novellen« (S. 80), die sich »an der Schnittstelle zwischen secretum und mysterium« (S. 80) bewegen.

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Verstellte Körper im Kontext

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In einem ersten Schritt seiner Textanalyse wendet sich Soboczynski dem Findling zu. Den Kernpunkt dieser Novelle bildet das Geheimnis Elvires um ihre Vorgeschichte, dessen prinzipielle Undarstellbarkeit dadurch suggeriert wird, dass sich die Geheimnisträgerin mit ihrem Geheimnis einkapselt – womit sie im gleichen Atemzug gegen das Transparenzgebot des aufgeklärten Weiblichkeitsdiskurses verstößt. Das vermeintliche secretum um die Vorgeschichte stellt sich damit als ein mysterium dar. Mit schlüssigen Argumenten und der Thematisierung christologischer Analogien identifiziert Soboczynski das Begehren Elvires denn auch als ein Gottesbegehren. Mit dem Hinweis darauf, dass der Leser im Gegensatz zu Nicolo um die Vorgeschichte Elvires weiß, thematisiert Soboczynski außerdem die erzählstrategische Dimension des Geheimnisses, die sich als ein »machtvoller Umgang mit Wissen« (S. 114) zeigt. Zugleich bringt er den Findling in einen Zusammenhang mit dem zeitgenössischen preußischen Ökonomiediskurs, welcher zwischen den Wirtschaftsformen ›Merkantilismus‹ und ›Smithscher Liberalismus‹ schwankte. Dabei deutet Soboczynski den ins Bild gebannten verletzten Heldenkörper von Elvires Retter einerseits als Symbol für das Anti-Ökonomische, andererseits interpretiert er die Hinrichtung Piachis am Ende so, dass die Ökonomie alten Stils begraben wird. Alles in allem parallelisiere die Novelle damit Ökonomie- und Geheimnisdiskurs.

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Auch in der Marquise von O... sieht sich der Leser mit einem Schwanken zwischen secretum und mysterium konfrontiert, wobei unklar bleiben muss, worum es sich denn nun genau handelt. Auf der einen Seite begegnet man dem Vorwurf ihrer Eltern, dass die Marquise sehr wohl wisse, von wem sie empfangen habe, sie es aber schlicht nicht sagen wolle. Auf der anderen Seite steht die Marquise selbst, die das Geheimnis um die Zeugung als ein mysterium erlebt, kann sie sich doch die Zeugung nicht erklären. Wie zuvor im Findling arbeitet Soboczynski auch für die Marquise Verbindungen zur christologischen Semantik heraus. Als gesellschaftspolitischen Kontext nimmt er für diese Novelle die preußische Situation nach dem Zusammenbruch des Staates an, wobei die Protagonisten Marquise und Graf F. als Analogie zum preußischen Herrscherpaar auftreten. In der Verlobung in St. Domingo schließlich begegnet man zwei perfekten Verstellungskünstlerinnen: Babekan und Toni setzen ihre Körper äußerst taktisch zur Kommunikation ein, wobei Toni als das Undurchschaubare schlechthin zum Inbegriff des wandlungsfähigen Höflings wird. Zwar arbeitet Soboczynski auch in dieser Novelle christologische Momente heraus, anders aber als bei den beiden anderen Texten werden die secreta hier nicht in ein göttliches mysterium übergeführt. Der gesellschaftspolitische Kontext speist sich hier aus dem romantischen Staatskonzept: Mag es vordergründig auch um die Misshandlung und Verletzungen von Menschenkörpern gehen, im Hintergrund geht es, wie Soboczynski anschaulich darlegt, um die Zersetzung des Nationalkörpers.

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Zusammenfassend lässt sich damit folgendes feststellen: Durch Kleists Vexierspiel mit secretum und mysterium unterminiert er das arcanum der Aufklärung und damit zugleich die aufklärerische Kommunikationsutopie. Daraus ergibt sich der motivische Schwerpunkt der Novellen, nämlich die Konkurrenz- und Kampfszenen. Dem popularphilosophischen Topos der Natürlichkeit und des unverstellten Körpers stellt Kleist also eine »Handlungslogik des Machtwillens, der Intrige und des kreatürlichen Begehrens« (S. 283) gegenüber. Neben dem inhaltlichen Agieren verstellter Körper verwendet Kleist die Verstellungskunst außerdem insofern als erzählstrategisches Prinzip, als dass er den Leser selbst immer wieder in die Irre führt und letztlich im Unklaren lässt. Indem er die Differenz von secretum und mysterium als unentscheidbar belässt, müssen auch nicht selten die Absichten der Figuren wie auch der »konkrete Sinn seiner Erzählungen im Unklaren« (S. 283) bleiben. Zu guter Letzt erfolgt der Rückgriff auf die Verstellungskunst neben dem inhaltlichen und erzählstrategischen Aspekt auch immer »im Hinblick auf eine zeitgenössische gesellschaftspolitische Thematik« (S. 284).

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Scheitern und Funktionieren

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Kleists Absage an die aufklärerische Kommunikationsutopie mündet jedoch nicht in den Willen, die Verstellungskunst als konstruktives Gegenideologem zur Geheimniskonzeption der Aufklärung zu etablieren. Unter Rückgriff auf Kleists selbst gemachte Erfahrung gescheiterter Affektkontrolle und sein daraus folgendes Fazit, eben nicht »klug im Sinne der Verstellungskunst« (S. 16) zu sein, betont Soboczynski als Kleists vorrangiges Ziel vor allem, das Scheitern der Verstellung aufzuzeigen: »Ihr Funktionieren wäre: ›Ein Traum. Was sonst?‹« (S. 285)

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Kein Traum indes bleibt das Funktionieren der von Soboczynski vorgelegten Abhandlung. Mit seiner Grundthese bezieht er eine klare Position, die er mit nachvollziehbaren Argumenten untermauert, wenn auch die vielfältigen Exkurse es oftmals erschweren, der Argumentationslinie zu folgen. Auch mag die historische Kontextualisierung seiner Grundthese als stellenweise etwas gar ausufernd kritisiert werden, aber die daran anschließende Lektüre der Kleist-Novellen entschädigt dafür gänzlich. Es bleibt festzuhalten, dass Soboczynski originelle und neue Lesarten bisher vermeintlich bekannter Texte präsentiert und dazu anregt, sich auch weiterhin mit der dargelegten These zu beschäftigen. Damit führt er den Leser weg von den Trampelpfaden der Kleistforschung auf noch unbegangene Wege. Auf Wege, die vielleicht bisher von der Macht der Gewohnheit verstellt waren.