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Öffentlichkeit, Medien und Justiz im Vergleich

  • Daniel Siemens: Metropole und Verbrechen. Die Gerichtsreportage in Berlin, Paris und Chicago 1919-1933. (Transatlantische Historische Studien 32) Stuttgart: Franz Steiner 2007. 444 S. 23 s/w Abb. Gebunden. EUR (D) 54,00.
    ISBN: 978-3-515-09008-7.
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Bislang wurde für moderne Gesellschaften zumeist angenommen, dass sie ›ritualarm‹ und ›sachlich‹ organisiert seien. […] Ein Grund für diese Vernachlässigung mag in dem Umstand liegen, dass performances in der Moderne durch die fortschreitende Ausdifferenzierung der Gesellschaft am Eindeutigkeit verlieren und in aller Regel über die Medien inszeniert werden müssen. (S. 45)
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Daniel Siemens schreibt ein Buch über Gerichtsreportagen. Wie das Zitat bereits anklingen lässt, liest Siemens die Zeitungsberichte über Kriminalfälle in einer sehr innovativen Weise als Zeugnisse einer Auseinandersetzung mit gesellschaftlichem Wandel und diskursiver Spezialisierung. Reportagen über Gerichtsfälle erscheinen aus dieser Sicht als ›Orte‹, an denen Wissen über städtische Räume, Lebensformen und Wertehaltungen in sozialen Gruppen sowie spezialisiertes Wissen über Verbrechen, Richten und Strafen vermittelt wird. Es ist eine Stärke dieses Buches, diese interdiskursiven Bezüge nicht nur aus theoretischer Perspektive zu postulieren, sondern anhand von Textanalysen empirisch zu untersuchen.

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Siemens schreibt kein Buch über Gerichtsreportagen als einem journalistischen Genre. Seine Fragestellung ist viel weiter gefasst. Sie bezieht sich einerseits auf die gesellschaftlichen Veränderungen in der Zwischenkriegszeit und deren Reflexion in den Berichten über Verbrechen und Strafen. Andererseits interessiert sich der Autor auch für die Relevanz der Gerichtsreportagen für die Vermittlung eines moralisch-ethischen Orientierungswissens.

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Sind Gerichtsreportagen vergleichbar?

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Die für den Vergleich herangezogenen Gerichtsreportagen aus Berlin, Paris und Chicago stehen hier für zeitgenössische Reflexionen über Modernitätserfahrungen in den Metropolen des frühen 20. Jahrhunderts. Die Wahl der drei Bezugspunkte begründet Siemens einerseits mit dem paradigmatischen Status von Berlin und Chicago als moderne Großstadt und andererseits mit den Gemeinsamkeiten des urbanen Lebens in den drei Metropolen: »Anonymisierung, Technisierung und Individualisierung [entwickelten sich] zu dominanten Kennzeichen des menschlichen Zusammenlebens.« (S. 19)

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Das kulturwissenschaftliche Labor von Daniel Siemens ist anspruchsvoll ausgestattet. Die Entscheidung für eine vergleichende Untersuchung von drei großen Themenkomplexen – dem Verbrecherbild in der Gerichtsreportage, der medialen Inszenierung von Sensationsprozessen und der Entschuldbarkeit von Gewalthandlungen – ist mutig und durch die Ergebnisse mehr als gerechtfertigt.

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Siemens interessiert sich am Beginn seiner Untersuchung für die Gemeinsamkeiten und lokalen Besonderheiten in der Ausbildung des Genres Gerichtsreportage, seiner institutionellen Entwicklung innerhalb der Zeitungen in den drei Metropolen und der Ausgestaltung interdiskursiver Bezüge zwischen Fach- und Alltagswissen über Kriminalität und Kriminelle. Er spitzt sein Erkenntnisinteresse auf die Frage zu, »inwieweit für die Zwischenkriegszeit von einer miteinander verwobenen Metropolenkultur gesprochen werden [kann]?« Er führt diese Überlegung weiter, indem er danach fragt, ob

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in Chicago, Berlin und Paris ähnliche Erfahrungen [überwogen], oder die medial ausgewählten Konflikte und die Strategien ihrer Bewältigung eine weitgehend als disparat empfundene – oder lediglich unterschiedlich inszenierte – Wirklichkeit [zeigen]? (S 29).
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Bei der Lektüre des Buches wird die Problematik eines Vergleichs von Medienberichten als performances immer wieder deutlich. Gerichtsreportagen als Inszenierungen von juristischen Verfahren, moralischen Werten und wissenschaftlichen Positionen beziehen sich auf die lokalen Kontexte. Siemens Buch besticht durch ein analytisches Gespür für diese Kontexte, mit denen die Verbrecherbilder, Sensationsprozesse und Gerechtigkeitsvorstellungen in spannender Form zugänglich gemacht werden. Das erfordert ein systematisches Einlassen auf die lokalen ›Situationen‹ und führt zu einer zweiachsigen Gliederung des Buches. Die Kapitel sind durch die thematischen Zugriffe definiert. Innerhalb der einzelnen Kapitel stehen drei lokale Fallstudien nebeneinander, die durch einen vergleichenden Schluss aufeinander bezogen werden.

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Diese Struktur funktioniert erstaunlich gut, wenn man sich auf das Buch einlassen kann. Für eine rasche Lektüre bieten die Zusammenfassungen am Ende jedes Kapitels und am Schluss des Buches zwar eine erste Orientierung, der Leser sollte sich aber nicht darauf beschränken. Die einzelnen Fallstudien als eine Art analytischer ›Vignetten‹ sind eine wirkliche Lesefreude. Sie vermitteln spannende Einblicke in unterschiedliche Aspekte der Vermittlung von Recht und kriminologischem Orientierungswissen an eine breite Leserschaft in einer überzeugenden Darstellung.

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Das Buch beginnt mit einem Prolog in zwei Kapiteln, in denen Art und Organisation der Gerichtsberichterstattung (Kapitel 2) und die Thematisierung von Justiz und Strafverfahren in den Gerichtsreportagen (Kapitel 3) vergleichend betrachtet werden. Dabei argumentiert Siemens mit den Unterschieden in der journalistischen Bearbeitung eines ähnlich gelagerten Stoffes und für ein Publikum mit vergleichbaren Interessen an Sensationen, News und Einblicken in das Leben der sozial privilegierten Gesellschaft. Den literarisch ambitionierten Gerichtsberichten in den Berliner Zeitungen stellt Siemens die News bzw. die feature story der Chicagoer Zeitungen gegenüber. Die Pariser Medien verortet er in der Mitte zwischen diesen »beiden Extremen« (S. 111 f.)

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Reportagen als Übersetzungen

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Wie setzten sich die Journalisten mit der Herausforderung auseinander, innerhalb der unterschiedlichen Rahmen die vor Gericht verhandelten Straftaten einem großstädtischen Publikum zu vermitteln? Siemens beantwortet diese Frage in drei Schritten. Im ersten nimmt er die Übersetzungsfunktion der Gerichtsreportage in den Blick, d.h. die Vermittlung von kriminologischem Wissen an die Leserinnen und Leser. Hier sieht er drei unterschiedliche Wissenskulturen, wobei er Überschneidungen und Berührungspunkte im Hinblick auf die zunehmende Deutungsmacht der Psychiatrie und Kriminalbiologie keinesfalls ausblendet. Die Unterschiede zwischen den drei Metropolen kommen aus seiner Sicht stärker in der Relevanz wissenschaftlicher kriminologischer Erkenntnisse für die Berichterstattung zum Ausdruck.

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Zwei Stärken von Siemens‘ Buch sind die Kontextualisierung sowie ein differenzierter analytischer Zugang. Das zeigt sich bei seiner Analyse der Übersetzungsleistung vom kriminalbiologischen Labor in die journalistische Auseinandersetzung mit Kriminalität. Sie beschränkt sich nicht auf die Auswertung der Gerichtsreportage, sondern bezieht auch die Thematisierung von kriminologischen Forschungen in der Presse insgesamt ein. Dadurch lässt sich ein spannendes Nebeneinander von affirmativem Referieren neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse und die völlige Absenz dieser neuen Verbrecherbilder in der Berichterstattung über einzelne Fälle feststellen (S. 206–223). Das kennzeichnet den Berliner Fall. Für Chicago verweist der Autor auf eine andere Konstellation, die durch den starken Einfluss des psychopathologischen Labors auf die Rechtsprechung und auf die Deutungsmuster der Journalisten bedingt war.

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Die vergleichende Einschätzung der Übersetzung vom Fachdiskurs in journalistische Verbrecherbilder operiert auf zwei Ebenen. Einerseits betont Siemens das ungebrochene Vertrauen der Berliner Presse in wissenschaftliche Autoritäten – ein Phänomen, das sich für Paris und Chicago nicht feststellen lässt. Andererseits hebt der Autor die größere Bereitschaft der amerikanischen und französischen Presse hervor, die Abnormalität eines Straftäters ins Spiel zu bringen. Die Zurückhaltung der Berliner Presse in diesem Bereich interpretiert der Autor durchaus überzeugend als ein caveat gegenüber undifferenzierten Annahmen des Siegeszugs von eugenischen und kriminalbiologischen Positionen im Deutschland der Weimarer Republik (S. 264 f.).

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Wenn man das zunehmende Vordringen der aktuellen Kriminalbiologie in Form von Hirnforschung und Genetik kritisch verfolgt, gibt die Argumentation von Siemens einige wichtige Denkanstöße. Sein Hinweis auf die bedeutende Funktion der Institutionalisierung von kriminalbiologischen Forschungen und Evaluierungen innerhalb der Rechtspflege in den USA lässt sich unschwer in die heutige Entwicklung einordnen. Einflussreiche Stiftungen in den USA betreiben die Aufnahme von entsprechenden wissenschaftlichen Angeboten in die Gerichtspraxis mit großem finanziellem und organisatorischem Aufwand. Diese Aktivitäten sind mit der Tätigkeit des psychopathologischen Labors durchaus zu vergleichen. Die auch heute festzustellende neutral-affirmative Berichterstattung über kriminalbiologische Forschungen hat auch damals die politische Umsetzung dieser Forderungen zwar nicht direkt gefördert, aber auch nicht behindert.

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Politik, Medien und Gesellschaft

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In den beiden letzten Kapiteln dieses gelungenen Buches ändert der Autor den Schwerpunkt seiner Analyse. Er blickt anhand von Sensationsprozessen und von Debatten über ›legitime‹ Formen der Gewaltanwendung auf wichtige gesellschaftliche Konfliktlinien – Jugend, Moderne, Mentalitätswandel, aber auch das Recht auf Rache werden aus dieser Perspektive reflektiert. Unterschiede und Gemeinsamkeiten in den drei Fallstudien werden dazu genutzt, um vereinfachende Erklärungen wie den Hinweis auf die brutalisierenden Erfahrungen des Ersten Weltkrieges nicht zu widerlegen, sondern in ihrer Relevanz zu hinterfragen.

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An den Ergebnissen des vergleichenden Zugriffs zeigen sich die Stärke und das Dilemma dieses Buches. Der Vergleich von drei ›dichten Beschreibungen‹ von Gerichtsreportage eröffnet faszinierende Einsichten in das Verhältnis zwischen Politik, Medien und Gesellschaft, in die Beziehungen zwischen Spezialdiskursen und medialer Vermittlung. Die Komplexität der Analyse lässt sich jedoch nicht einfach in ein komparatives Schema einordnen. Die vergleichenden Zusammenfassungen sind daher stimmig und konzise, nehmen aber letztlich nur einen Teil der analytischen Vielfalt der einzelnen Fallgeschichten auf.

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Es ist ein gelungenes Buch, das viele Anregungen für die Auseinandersetzung mit heutigen Interdiskursen im Bereich von Kriminologie und Medien bietet. Ein formales Defizit betrifft den Satz. Auf Seite 265 bricht die Argumentation unvermittelt in einem Wort ab. Das ist schade, weil dem Leser dadurch die letzten Sätze der Zusammenfassung zum Kapitel 4 vorenthalten werden.