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Dilettantismus des fin de siècle
und Wagner-Kritik

  • Paolo Panizzo: Ästhetizismus und Demagogie. Der Dilettant in Thomas Manns Frühwerk. (Epistemata - Würzburger wissenschaftliche Schriften. Reihe Literaturwissenschaft 602) Würzburg: Königshausen & Neumann 2007. 236 S. Geheftet. EUR (D) 38,00.
    ISBN: 978-3-8260-3639-2.
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Die Dissertation Paolo Panizzos ist dem Thema des Dilettantismus des fin de siècle im Frühwerk Thomas Manns gewidmet. Im Motto zu der Einleitung dieser Arbeit wird bereits eine für Panizzos Überlegungen signifikante Stelle aus einem Brief an Hermann Hesse von April 1910 vorgestellt, in der sich Thomas Mann über den überragenden Einfluss Richard Wagners auf sein Werk äußert und die Wagner’sche Kunst als ebenso »exklusiv« wie »demagogisch« apostrophiert. In einer Besprechung hatte Hermann Hesse in der Tat an Thomas Manns neuem Roman Königliche Hoheit (1909) bemängelt, der Autor habe zu sehr an den Leser gedacht. Der Roman sei dadurch »ein Gewolltes« (GKFA 21, 777), dem der naive Blick der Buddenbrooks fehle. Thomas Mann hatte dann seinen Anspruch erläutert, mit seinem Werk sowohl auf »die gröbsten Bedürfnisse« des Publikums als auch auf die »raffiniertesten« (GKFA 21, 448) wirken zu wollen. Paolo Panizzo versucht, davon ausgehend, in seiner Arbeit den Dilettantismusbegriff weiter zu fassen als bisher geschehen. Er blickt dabei auf eine lange Reihe von wissenschaftlichen Arbeiten zurück, die sich mit dem ›modernen‹ Dilettantismus beschäftigt haben. Als einer der ersten steht Hans Rudolf Vagets Essay Der Dilettant. Eine Skizze der Wort- und Bedeutungsgeschichte aus dem Jahre 1970, in dem der historische Bedeutungswandel dieses Wortes analysiert und der Dilettantismus des fin de siècle eine »Chiffre für einen zentralen psychologischen und lebensphilosophischen Komplex im Verständnis der Jahre vor der Jahrhundertwende« genannt wird.

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Panizzos Dissertation besteht aus zwei ausgewogenen Hauptteilen, die durch ein »Intermezzo« über den Essay Leiden und Größe Richard Wagners (1933) von einander getrennt sind. Der erste Hauptteil ist darum bemüht, das theoretische Fundament zu liefern. Er verspricht, neben der herausragenden Figur dieser Zeit, Friedrich Nietzsche, auf zwei weitere Hauptmentoren der décadence einzugehen – den Essayisten Paul Bourget (der Romancier wird weniger berücksichtigt), der als erster eine Definition des Dilettantismus des fin de siècle gegeben hat, und den österreichischen Vielschreiber Hermann Bahr, der Thomas Manns Anfänge mitgeprägt hat. Dass das »Intermezzo« über den seinerzeit umstrittenen Essay Leiden und Größe Richard Wagners den zeitlichen Rahmen sprengt, gibt Paolo Panizzo durchaus zu, sieht eine Heranziehung dieses Textes jedoch als sinnvoll an, da Thomas Mann 1933 darin die »ausführlichste Abrechnung mit dem ›moderne[n] Künstler par excellence« (S.17) gemacht und provokativ auf Wagners »ins Geniehafte getriebene[n] Dilettantismus« (GW IX, 376) hingewiesen habe. Der zweite und letzte Hauptteil dieser Arbeit stellt repräsentative Dilettanten- und Künstlerfiguren des Frühwerks Thomas Manns vor, von der frühen Skizze Vision (1893) bis zum Tod in Venedig (1912).

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Kritik und Kreativität
und der Verlust der »kulturellen Einheit«

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Paolo Panizzo eröffnet seinen theoretischen Hauptteil mit Überlegungen über das Notizenkonvolut Geist und Kunst. Wir wissen, dass Thomas Mann, kurz nach seinem Roman Königliche Hoheit, »allerhand Zeitkritisches« (TM/HM 138) plante, das den Titel Geist und Kunst tragen sollte. Wir wissen auch, dass er aus dem »undurchdringlichen typologischen Dschungel« nicht herausfand und diesen Werkentwurf seiner Figur Gustav von Aschenbach vermachte, der ihn fertigstellte. Um sein eigenes Schaffen innerhalb der verschiedenen Kunsttendenzen zu verorten, habe Thomas Mann, so Paolo Panizzo, hier in großem Umfang auf Nietzsches Denken, vor allem auf seine Wagner-Kritik, zurückgegriffen. In Nietzsches Schule habe Thomas Mann die Trennung von Geist und Kunst als Verlust der »kulturellen Einheit« verstanden, mit dem Nietzsche seine Kritik der décadence resümiere. Noch vor Bourget, der an seiner Zeit den Verlust der Einheit in allen Lebensäußerungen feststellte, hat Nietzsche an der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in der Tat das eklektische »Durcheinander aller Stile« (KSA 1, 163) diagnostiziert. Paolo Panizzo meint:

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Gerade im kulturellen Eklektizismus seiner Zeit hatte Nietzsche das Verfallsprinzip erkannt, das seine Epoche dominierte: Leben und Kunst, die in vitalen Kulturen unzertrennlich sind und die sich in der Einheit des künstlerischen Stils widerspiegeln, gingen für Nietzsche in der modernen Zeit getrennte Wege. Der Bürger (d.h. der ›produktive‹ Mensch) hatte sich vom Künstler getrennt und verlangte nun, dass ihm dieser immer neue Kunstprodukte zur Verfügung stellte, um sie in seiner von der Arbeit nicht in Anspruch genommenen Zeit zu genießen. (S.34)
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Paolo Panizzo untersucht in diesem Zusammenhang die Rolle, die »die Kunst für Nietzsche im kulturellen Koordinatensystem der décadence einnimmt« (S.45). Kunst sei im »arbeitsamen Zeitalter« nun Gegenstand der Muße geworden.

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Auch die ›große Kunst‹ mache Zugeständnisse an das Publikum. Die Konsequenz sei die Herabsetzung des Künstlers zum bloßen Unterhaltungskünstler, der nach Anerkennung und Beifall lechze, – und auch somit zum Demagogen. Richard Wagner als Künstler der Modernität par excellence gibt Paolo Panizzo auch Anlass, sich unmittelbar mit dem Dilettantismusbegriff auseinanderzusetzen, dem Nietzsche Wagner zuordnete. Zum Problem wird Nietzsche das Berauschende an Wagners Kunst bereits in der sonst beifälligen vierten Unzeitgemäßen Betrachtung. Wagner sei in jungen Jahren deshalb ein relativ »schlechter Musiker« gewesen, weil er von einer »nervöse[n] Hast« gekennzeichnet sei, hundert Dinge auf einmal zu erfassen: »er sei zum Dilettantisieren geboren. […] Die gefährliche Lust an geistigem Anschmecken trat ihm nahe« (KSA 1, 435), schreibt Nietzsche in Richard Wagner in Bayreuth. Diese nervöse Hast rühre, so Paolo Panizzo, von einer »existenziellen Instabilität [her], die aus der Unfähigkeit bzw. aus dem Unwillen entspringt, einen Platz im etablierten System des ›arbeitsamen Zeitalters‹ einzunehmen« (S.48). Aber für Nietzsche war Wagner kein Einzelfall, sondern stand stellvertretend für décadence-Künstlertum, so dass sich auch Thomas Mann die Frage stellen konnte, wie man als Künstler dem Fluch des Dilettantismus entgehen könne. Einen Ausweg sieht Thomas Mann, so Paolo Panizzo, in seinem strengen Arbeitsethos, in dem er versuchte, Künstlertum und Bürgertum miteinander zu versöhnen.

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Über einen weiteren décadence-Theoretiker

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Der erste Teil des Bourget-gewidmeten Kapitels befasst sich auch mit Nietzsche. Seine Rezeption des Werkes Bourgets, hauptsächlich der Essais de psychologie contemporaine wird ins Visier genommen, wobei hier Paolo Panizzo irrtümlich eine spätere, von Bourget 1899 überarbeitete Ausgabe der Essays verwendet, eine Ausgabe, die die Autoren des fin de siècle mitsamt Nietzsche nicht benutzten, so dass einige Zitate nicht mit dem Text übereinstimmen, den die damaligen Autoren kannten. Im Mittelpunkt der Argumentation Paolo Panizzos steht die in Anlehnung an Bourget herausgebildete Definition des Stils der décadence, mit dem Nietzsche Wagners Stil zu charakterisieren trachtete: ein Stil, der sich durch Einheitsverlust auszeichne. Paolo Panizzo unterstreicht dann den bedeutenden, wenngleich bald vorübergehenden Einfluss des Franzosen auf die Literatur des fin de siècle.

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In ihm erkennt Nietzsche für kurze Zeit einen Gleichgesinnten, der bemüht ist, die dekadenten Inhalte seiner Zeit zu subsumieren. Nicht allein Nietzsche fühlt sich von den prägnanten Formeln der Bourget’schen Argumentation angesprochen, sondern auch u.a. die Brüder Mann. Paolo Panizzo nennt Bourget zu Recht »eine[n] der bedeutendsten Wegbereiter für die deutschsprachige Literatur der Jahrhundertwende« (S.59). Auch ist es zutreffend zu betonen, dass die Ideen, die Nietzsche bei Bourget vorfand, eine »Reprise« älterer Themen aus seinem eigenen Werk sind. Aufschlussreich ist auch der Hinweis auf Otto Jahns Aufsätze, die Nietzsche kannte. Bereits 1868, noch vor Bourget, werden hier an Wagner der »Mangel der künstlerischen Organisation« und die »Detailmalerei« vorwurfsvoll hervorgehoben – eine Diagnose, die Nietzsche in Bourgets berühmter Definition des décadence-Stils mit Zustimmung wiederfindet. Paolo Panizzo betont auch zu Recht, dass zeitlich gesehen Nietzsche an Bourget das Zurückgreifen auf Konservativismus kaum wahrnehmen konnte. Panizzos These »[j]e mehr sich Bourget als ›sozialer Therapeut‹ versteht, desto geringer wird […] Nietzsches Bewunderung für diesen Autor« (S.64) erscheint allerdings forciert. Im Juli 1887 ist zum ersten Mal eine Zurückhaltung in Nietzsches Urteil über Bourget spürbar, aber sie gilt eher den krassen Schilderungen in André Cornélis, zu denen Bourgets »delikater Geschmack« nicht passen würden.

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In Thomas und Heinrich Manns Rezeption der Werke Bourgets sieht Paolo Panizzo neben dem wertvollen Psychologen der décadence auch und in erster Linie den Moralisten am Werk. Heinrich Mann habe nicht umsonst mit dem Werk Le Disciple die Lektüre Bourgets angefangen, in dem der französische Autor seine Wendung zum Moralisten vollziehe. Heinrich Mann bemerkt in der Tat mit Erschrockenheit »die Ähnlichkeit [s]einer Geistes- und Gemütsverfassung mit der des ›Disciple‹ in Bourgets neuestem Werk« und erkennt im Dasein des Dilettanten Greslou sein eigenes Streben, Psychologie als Selbstzweck zu betreiben. Paolo Panizzo zitiert weiterhin die Schlüsselstelle aus Cosmopolis über die Wurzellosigkeit der Kosmopoliten, bei der die Brüder Mann, nach der Liquidierung des Familienunternehmens, mit Sicherheit ihre eigene Situation wiedererkennen konnten.

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In dieser Stelle aus Cosmopolis, die Thomas Mann in Ein nationaler Dichter frei übersetzt, wird auf die Entwurzelten hingewiesen, die »fast immer letzte Ausläufer ihrer Rasse sind, die ererbte Kräfte, geistige und materielle, verzehren, ohne sie zu vermehren, entartete Spätlinge, deren Väter einst wahre Arbeit verrichteten und sie ihren Söhnen überlieferten, damit diese an derselben Stelle ihre eigene Leistung hinzufügten« (GKFA 14.1., 40). Dass Heinrich Mann durch seine Mitarbeit an der erzkonservativen Zeitschrift Das Zwanzigste Jahrhundert Bourgets konservatives Programm verwirklichte, liegt nahe. Thomas Manns Position dieser Zeitschrift gegenüber ist zweideutiger. Es ist durchaus denkbar, dass sich der junge Thomas Mann im Los des entwurzelten, dilettantischen Kosmopoliten wiedererkannte, aber er hat Bourgets konservatives Gedankengut vor allem spielerisch übernommen, das »einfältige Blättchen« von oben herab behandelt, so dass der Moralist Bourget beim frühen Thomas Mann vermutlich eine untergeordnete Rolle gespielt hat. »Nationales Empfinden« ist Thomas Mann auch in Ein nationaler Dichter lediglich »ein litterarischer (!) Geschmack« (GKFA 14.1., 40), mit dem sich spielen lässt.

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Über den ›Pseudo-Pariser‹ Hermann Bahr

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Auch über die Werke Hermann Bahrs hat Thomas Mann, der 1895 zugibt, ein Jahr zuvor noch ein »so verrannter Bahrianer« (GKFA 21, 55) gewesen zu sein, an der Dilettantismus-Diskussion um 1890 teilgenommen. Zwar ist es nicht mit Sicherheit belegt, ob Thomas Mann Bahrs Roman Die gute Schule kannte, jedoch spricht, wie Paolo Panizzo zeigt, einiges dafür. Um die Dilettantismusproblematik näher zu beleuchten, greift Paolo Panizzo zu zwei Werken, zu Bahrs Vorstudie zu seinem Roman Die gute Schule, »Der Einzige und sein Buch«, und zu dem Roman selbst. Im Mittelpunkt der damaligen Beschäftigung Bahrs steht die Figur des modernen, wurzellosen Dilettanten mit ausgesprochenem Hang zur Kunst. Allerdings ist dieser Individualist nicht darum bemüht, Kunst mit bürgerlichem Fleiß zu verbinden. Paolo Panizzo erinnert an Nietzsches décadence-Analyse, für den die Kunst im »arbeitsamen Zeitalter« bloß als Zeitvertreib zu betrachten sei, und sieht Bahrs Figur in dieser Optik. Auch die Selbstbeobachtungsgabe, das »tout comprendre« des Dilettanten zeichnet diese Figur aus, wie auch »sein Streben nach einem festen existenziellen Stützpunkt« (S.73), der ihn für »starke Ideologien« (S.74) anfällig mache. An der Figur des namenlosen Malers aus dem Roman Die gute Schule stellt Paolo Panizzo sowohl »eine tiefgehende innere Leere und existenzielle Unzufriedenheit […] als auch das bittere Ressentiment gegenüber der Außenwelt und ein[en] ausgeprägte[n] Wille[n] zur Revanche« (S.76/77) fest.

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Paolo Panizzo erkennt auch an der Figur Bahrs den Kunst-Messianismus wieder, der für Nietzsche bei der Kunst Richard Wagners bestimmend sei. Sich auf Hubert Ohl stützend, identifiziert Panizzo zusammenfassend zahlreiche Motive der Guten Schule Bahrs in Thomas Manns Frühwerk – Motive, die jedoch auch in derselben Form bei Bourget vorkommen, etwa das Motiv der Verdoppelung des Ich oder das der »separierten Sonderexistenz [des Künstlers] der Gesellschaft als dem Bereich sozialer Verantwortung gegenüber«, so dass hier deutlich wird, dass die Rezeption Bahrs Hand in Hand mit Bourget- und Nietzsche-Rezeption geht. Panizzos Ausführungen über Thomas Manns Wagner-Essay aus dem Jahr 1933 schließen den theoretischen Teil dieser Arbeit und erlauben ihm die wichtigsten Merkmale der Dilettantismusproblematik zu rekapitulieren und den Kontext zu schildern, in dem sich die Dilettanten- und Künstlerfiguren des Frühwerks Thomas Manns bewegen.

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Auf der Suche nach den ›Gewissenlosen und Lässigen‹
im Frühwerk Thomas Manns

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Das »Schülerprodukt« (GW XIII, 133) Vision (1893) eröffnet den zweiten Hauptteil dieser Arbeit. Wie wir wissen, steht diese Skizze noch unter dem Einfluss Hermann Bahrs, des »genialen« Künstlers, dem es gewidmet ist. P. Panizzo sieht hier bereits, dass diese Skizze »nicht in Unkenntnis jener literarischen Tendenzen geschrieben wurde, in denen der Dilettantismus eine wichtige Rolle spielt« (S.106); Tendenzen, wie etwa die beherrschende Selbstreflexion des Betrachters und das Spiel zwischen Traum und Wirklichkeit.

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In der Novelle Gefallen (1894) erweist sich die Figur des Dr. Selten zum ersten Mal als ausgesprochener Dilettant. Auch die Umgebung, in der die Rahmennovelle spielt, das Atelier des Malers Meysenberg, hat den dilettantischen musealen Charakter, den Bourget in seinen Essays beschrieben hat und als Zeichen seiner Epoche sah. Paolo Panizzo zeigt, dass man dort auch Nietzsches »chaotisch[es] Durcheinander aller Stile« wiederfindet, das dieser in seiner ersten Unzeitgemäßen Betrachtung an seiner Zeit bemängelt hat und einer einheitlichen Kultur entgegensetzte. Bei Meysenberg habe die Kunst lediglich eine »dekorative Funktion« (S.109). Der ›moderne Held‹ aber sei nicht Meysenberg, sondern Dr. Selten, der durch seine enttäuschte Liebe zum Zyniker, aber auch zum Epikureer geworden sei. »Wie Nietzsches ›asketischer Priester‹, der aus dem Ressentiment am Leben paradoxerweise einen Lebensgrund zu machen weiß, schöpft auch Selten Kraft aus der erlittenen Enttäuschung« (S.111), kommentiert Paolo Panizzo.

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Auch im Falle der Novelle Gefallen sieht Panizzo den Moralismus Paul Bourgets am Werk, wie kurze Zeit danach in Manns Mitarbeit am Zwanzigsten Jahrhundert. Bourget habe ihm dazu verholfen, die dilettantische Orientierungslosigkeit zu bekämpfen. Diese Lösung habe sich aber bald als unzureichend erwiesen. Paolo Panizzo schließt seine Untersuchung der Novelle Gefallen mit dem Fazit:

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Im Spannungsfeld zwischen dem ›gewissenhaften‹ Künstler, der die Kunst in ihrer gesellschaftlichen Dimension auffasst, und dem ›gewissenlosen‹ Dilettanten, der in der Kunst bloß das ›private Glück‹ sucht, verortet sich nicht nur die Dilettantismusproblematik in Thomas Manns ganzem Frühwerk, sondern auch das besondere Kunstverständnis dieses Schriftstellers, der im asketischen Produktionsethos des Bürgertums das Prinzip erkannte, das einen Ausweg aus der narzisstischen Lebenseinstellung des Dilettanten ermöglichte […].(S.114)
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Die Erzählung Der Wille zum Glück schreibt Thomas Mann 1895 und er stellt, wie seinerzeit Hermann Bahr, einen jungen Maler in den Mittelpunkt. Beherrschend sei auch hier Nietzsches Einfluss, der bereits im Titel der Erzählung angelegt sei. Allerdings lese sich die Geschichte Paolo Hofmanns wie das »Gegenteil von Nietzsches ›Willen zur Macht‹«(S.118). Auch Paolo Hofmann kennt das ungebundene, kosmopolitische Leben des Dilettanten und an keiner Stelle wird er bei der Arbeit porträtiert. »Paolos Kunst bleibt Surrogat versagter Lebenserfüllung« (S.120) und wirkt der décadence-Zeit entsprechend als Narkotikum. Während man in der Forschung Paolo Hofmann Interesse zubilligte, weil er als »Vorform« des Leistungsethikers erscheint, unterstreicht Panizzo die Tatsache, dass Paolo Hofmann deshalb von Interesse ist, weil er »ein zentrales Motiv der Dilettantismusproblematik darstellt, nämlich die extreme Selbstbezogenheit des modernen Dilettanten, für welchen es keine soziale Dimension geben kann« (S.121/122). Paolo Hofmann stirbt in der mütterlichen Welt des Kunstgenusses und findet nicht den Weg zum Ethos, den Tonio Kröger mit seiner Rückkehr in die väterliche Welt einschlägt.

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Über die Erzählung Der kleine Herr Friedemann vertraut Thomas Mann Grautoff an, »die diskreten Formen und Masken« gefunden zu haben, die ihm erlaubten, mit seinen Erlebnissen »unter die Leute [zu] gehen« (GKFA 21, 89). Ist es aber hier nicht vielmehr der Wunsch, der homoerotischen Anlage nun verdeckt Ausdruck geben zu können, als »der eigenen dilettantischen Disposition« (S.125), wie P. Panizzo glaubt? Im Gegensatz zu Paolo Hofmann in Der Wille zum Glück zähle Johannes Friedemann zu den anerkannten Bürgern seiner Heimatstadt und wisse der »dilettantischen Orientierungslosigkeit« durch ein geregeltes Leben zu entkommen. Entgegen dem nietscheanischen, lebensschwachen Typus empfinde Friedemann keine Rachsucht gegenüber dem Leben. Dass er ein »Epikuräer« genannt wird, verweise ihn jedoch eindeutig in die décadence, wie Nietzsche in Der Antichrist lehre. Gerda sei auch in der Logik der décadence als das ›kranke Weib‹ zu verstehen, das Nietzsche in seiner Abhandlung »Was bedeuten asketische Ideale?« beschreibt. Auch ihre Machtverhältnisse, das Wechselspiel zwischen Masochismus und Sadismus, das ihre Beziehungen prägt, könnten als »facettenreiches Bild jener Psychologie betrachtet werden, die für Nietzsche die ganze Epoche der décadence dominiert« (S.132).

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In der Erzählung Der Bajazzo stehe die Dilettantismusproblematik, wie in keinem anderen Text, im Mittelpunkt der Beschäftigung Thomas Manns – eine Figur, die der junge Autor selber ausdrücklich einen »unglücklichen Dilettanten« (GKFA 21, 57) nennt. Panizzo sieht am Bajazzo den Wunsch jedes Dilettanten am Werk, »durch die Kunst zu einem existenziellen Gleichgewicht zu kommen« (S.147) und sich einen angesehenen Platz innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft zu erkämpfen. Federführend scheint hier das Beispiel des Schauspieler-Musikers Wagner zu sein, der es vermochte, durch Kunst die Öffentlichkeit zu erobern. Feststeht, dass Wagners Werk und dessen »ruchlos geniale[r] Dilettantismus« im Bajazzo starke Wirkungen ausübt. Panizzo unterstreicht die Tatsache, dass der Bajazzo an Wagners Werk den von Nietzsche angeklagten modernen Dilettantismus zwar erkennt, dass er aber selber so sehr unter diesem Einfluss steht, dass ihm Wagner zum Modell wird, »durch Instrumentalisierung der ästhetischen Wirkung einen anerkannten Platz in der Gesellschaft einnehmen zu können« (S.152).

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In Christian Buddenbrook kulminieren, so Panizzo in Anlehnung an Michael Wielers Untersuchung über Dilettantismus, die dilettantischen Eigenschaften der Helden des Frühwerks. Seine Bajazzobegabung bestehe darin, Kunst zu mimen und dabei das Gefühl zu haben, selber Künstler zu sein. Dies trage erneut das Gepräge der Nietzscheschen décadence-Analyse, für den der Künstler der décadence zum »Histrio« geworden ist und ein erholungsbedürftiges Publikum zu unterhalten weiß. In einem weiteren Abschnitt konfrontiert Panizzo die Brüder Buddenbrook, Christian und Thomas, dabei ihre Wesensverwandtschaft betonend. Hier wiederum sei Nietzsche bildend. Thomas Mann habe in den beiden Brüdern den Antagonismus angelegt zwischen Asket und Komödiant der asketischen Ideale, wie Panizzo in Anlehnung an Hans Rudolf Vaget erwähnt: »Vor diesem Hintergrund erscheint auch Thomas Buddenbrook eindeutig als ›Asket‹ im Sinne Nietzsches: Das Geheimnis seiner Existenz ist das ›Geheimnis des Asketen, der der Arbeit als Mittel der Selbstbetäubung bedarf« (S.165). Um nicht wie Christian der dilettantischen Orientierungslosigkeit zu verfallen, ist Thomas Buddenbrook zum ›gewissenhaften Asketen‹ geworden, ohne dass es ihm jedoch gänzlich gelingen wollte, seinen Dilettantismus zu überwinden.

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Tonio Kröger seinerseits versuche die Basis eines Künstlertums jenseits des Dilettantismus aufzubauen, aber seine Bemühungen seien auch hier vermutlich nicht von Erfolg gekrönt, da er noch Züge mit dem »rachsüchtigen und anerkennungsbedürftigen Künstler der décadence« (S.217) teile. Aschenbach zeige zuletzt durch seinen Verfall und seinen Tod das Misslingen eines »Programms von Erneuerung der Kultur, das auf der Figur des asketischen ›Leistungsethikers‹ basiert« (S.217). Auch Aschenbachs Leben sei von der dilettantischen Krankheit gekennzeichnet. Bezeichnend sei, dass seine Kunst auch etwas »Gewolltes« sei – wie Hesse an Thomas Manns Königliche Hoheit hervorgehoben hatte – es trage ein »gewolltes Gepräge der Meisterlichkeit und Klassizität« (GKFA 2.1., 514), sei dekadente Klassizität. Wie Wagner und in seiner Nachfolge Thomas Mann ist es in der Tat Aschenbach gelungen, sowohl den ›exklusiven‹ als auch den ›einfacheren‹ Geschmack seines Publikums zu befriedigen. Dabei lässt er Nietzsches Warnungen unberücksichtigt. Aschenbachs Kunst sei letztlich keine kulturelle Einheit, sondern nur »die Ruhmbegierde und der Geltungsdrang des Künstlers der décadence« (206).

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Fazit

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Paolo Panizzo zeigt durch eine detailreiche, sorgfältige und kluge Analyse, wie breit gefächert das Dilettantismus-Phänomen des fin de siècle ist. Bereits das Inhaltsverzeichnis der Arbeit Panizzos macht aber deutlich, dass Nietzsche bei weitem mehr Raum zugestanden wird als Paul Bourget und Hermann Bahr. Diese verschwinden im Verlauf der Analyse des Werkes Thomas Manns immer wieder neben der imponierenden Gestalt Nietzsches. An Nietzsches décadence-Kritik hat Panizzo das Raster gefunden, mit dem er unbeirrt die Figuren des Frühwerks untersucht und oft zu ausgefallenen Resultaten kommt.