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Hankels Ablage kommt vor, doch Innstetten fehlt

Helmuth Nürnberger und Dietmar Storch
haben ein neuartiges Fontane-Lexikon verfasst

  • Helmuth Nürnberger / Dietmar Storch (Hg.): Fontane Lexikon. Namen - Stoffe - Zeitgeschichte. München: Carl Hanser 2007. 520 S. Gebunden. EUR (D) 39,90.
    ISBN: 3-446-20841-0.
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Es war in der schottischen Grafschaft Kinross, deren schönster Punkt der Leven-See ist. Mitten im See liegt eine Insel, und mitten auf der Insel, hinter Eschen und Schwarztannen halb versteckt, erhebt sich ein altes Douglas-Schloß, das in Lied und Sage vielgenannte Lochleven-Castle. 1
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So beginnt der zweite Absatz von Fontanes berühmt gewordenem Vorwort zu den Wanderungen durch die Mark Brandenburg. Fontane hatte sich in den zwei Jahrzehnten zuvor, bei seinen immer länger werdenden Aufenthalten, England und Schottland durch Zug- und Kutschfahrten oder, wenn nötig, Wanderungen erschlossen (tatsächlich zog Fontane den Komfort des Gefahrenwerdens der mühsamen Fortbewegung auf seinen zwei Beinen vor). Vor rund 150 Jahren war es noch ein Abenteuer, wie Fontane und sein Freund Bernhard von Lepel durch Schottland zu reisen, und das literarische Ergebnis Jenseit des Tweed (Fontane bestand auf der für ihn vornehmeren Form ohne ›s‹) ist eine lohnende Lektüre, immer noch ein Geheimtipp für jene, die vor allem die Romane und Gedichte kennen.

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Der Kontinent Fontane ist weitgehend vermessen und kartographiert, und wenn es hier und dort noch weiße Flecken gibt, dann kann man sicher sein, dass das Fontane-Archiv Postdam und die Fontane-Gesellschaft in den gemeinsam herausgegebenen Fontane-Blättern, dem zentralen Organ der Fontane-Forschung, diese unbekannteren Parzellen zu erkunden bemüht sind. Immer wieder tauchen einzelne Briefe oder kleinere Handschriften auf, deren Erkenntniswert sich allerdings für den ›Feld-Wald-und-Wiesen-Fontaneleser‹ in engen Grenzen hält, so sachkundig und materialreich sie auch aufbereitet und kommentiert sein mögen. Keiner kann sicher sein, ob nicht noch in irgendeinem osteuropäischen Archiv die eine oder andere handfeste Überraschung auftaucht, doch darüber zu spekulieren ist müßig. Auch das Desiderat einer neuen, umfassenden Werkausgabe wird mit der Großen Brandenburger Ausgabe des Aufbau-Verlags langsam geschlossen – wobei die beiden existierenden großen Konkurrenzausgaben, die Nymphenburger und die Hanser-Werkausgabe, sehr viel Forschungsarbeit enthalten und immer noch eine hervorragende Arbeitsgrundlage sind.

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Wegweiser durch Fontanes Werk

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Ein ebenso geringer Mangel herrscht an Wegweisern durch Fontanes Werk. Eine Pioniertat war vor mehr als einem Vierteljahrhundert Christian Grawes Führer durch die Romane Theodor Fontanes, 2 vielbenutzt und durch die Neuauflage bei Reclam auch für den schulischen Gebrauch attraktiv geworden. Wer nach seiner Effi-Briest-Lektüre im Zusammenhang lesen will, welche traumatisierende Jugend Roswitha Gellenhagen hatte und wie sie sich in das Figurenpersonal des Romans einfügt, der kann ebenso zu Grawe greifen wie jemand, der sich dafür interessiert herauszufinden, in welchen Werken welche Gespenster vorkommen und wie sich welche Figuren dazu stellen.

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Christian Grawe ist außerdem der Autor eines weiteren sehr nützlichen Werks, der Fontane-Chronik. Hier lassen sich Fontanes Erlebnisse, Lektüren und Arbeiten minutiös nachvollziehen, beispielsweise der genaue Ablauf der Schottlandreise vom 9.-25. August 1858. Vom 22.-24. datieren jene Abstecher von Edinburgh aus, zu denen auch der Besuch des Lochleven-Castle am 23. gehört, dem Grawe einen eigenen Abschnitt widmet. 3

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Schlaglichter auf zentrale Themen und Motive im Werk zu werfen und dies unterhaltsam zu vermitteln versucht das Fontane-ABC. 4 Hier finden sich auch Einträge wie »Feuer«, »Hurengeschichte« oder »Goethegötzenkultus«, ein Fontanescher Neologismus. Eine umfangreiche Bestandsaufnahme der bisherigen Erkenntnisse zu Leben und Werk bietet das umfangreiche Fontane-Handbuch, 5 das einen vorläufigen Schlusspunkt hinter eine (von Heine einmal abgesehen) beispiellose Kanonisierungsleistung der Nachkriegszeit, hinter die so genannte Fontane-Renaissance setzt. Zahlreiche Fachwissenschaftler haben an dem von Christian Grawe und Helmuth Nürnberger herausgegebenen Handbuch mitgewirkt, und wer einen fundierten Zugang zu diesem Autor möchte, hat damit genau das richtige Werk gefunden. Die Beiträge sind alle um Sachlichkeit bemüht, sehr informativ und auf hohem Niveau, wenn auch – wie bei einem solchen Projekt nicht zu verhindern – unterschiedlich insbesondere dann, wenn es um die Werkinterpretation geht.

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Konzeption und Aufbau des Lexikons

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Von zahlreichen Einzelstudien, etwa dem umfangreichen Fontanes Welt des langjährigen Vorsitzenden der Theodor-Fontane-Gesellschaft, Helmuth Nürnberger, muss geschwiegen werden, um auf den Hauptweg dieser Rezension zurückzukehren. 6 Nun also hat Nürnberger, gemeinsam mit dem ebenfalls in der Fontane-Forschung bekannten Dietmar Storch, 7 ein weiteres Werk vorgelegt, das Fontane-Lexikon, diesmal sogar im renommierten Carl-Hanser-Verlag. In einem kurzen Vorwort erläutern sie ihre Absicht, »gestützt auf die Fontane-Forschung« wichtige Einzelheiten zu Autor und Werk »griffbereit« zur Verfügung stellen zu wollen, wobei sie darauf hinweisen, nicht das »Gesamtterrain in allen Einzelheiten erschließen zu können« (S. 5). Vorweg sei gesagt, dass der Band diesem Anspruch zweifellos gerecht wird.

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Es folgt – etwas leseunfreundlich – das Abkürzungsverzeichnis, bevor es dann an die Lemmata von »Aachen« bis »Zychlinski, Franz von« geht. In der »Nachbemerkung« spielt der eingangs erwähnte »Leven-See« eine Rolle (S. 505), um das auch in einem geographischen Sinn Weitreichende von Fontanes Produktion deutlich zu machen und ihn zu zeichnen als einen Dichter »des sich immer gleichbleibend Humanen« (S. 507). Eine Zeittafel auf übersichtlichen neun Seiten rundet das Angebot des Bandes ab.

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Im Vergleich zu den früheren Reiseführern durch das Fontaneland bieten Nürnberger / Storch auf den ersten Blick konzeptionsbedingt mehr. Allerdings ist zu fragen, ob sie im Detail auch ein größeres Angebot offerieren als der Führer durch die Romane, das Fontane-Handbuch, die Fontane-Chronik oder das Fontane-ABC. Ein Lexikon zu lesen ist eine mühsame Angelegenheit, eine solche Lektüre zu vermitteln ist nahezu unmöglich. Deshalb soll ein kleiner Vergleich anhand von ausgewählten Lemmata erfolgen. Schon bei der ersten Durchsicht stellt sich heraus, dass der an den Hauptwerken interessierte Leser auf Grawes Führer durch die Romane Theodor Fontanes keinesfalls verzichten sollte. Nürnberger / Storch haben Einträge zu jedem Werk und erläutern knapp seinen Inhalt, geben noch knapper Deutungshinweise und nennen wichtige Forschung zum Nach- und Weiterlesen. Einträge zu dem Figurenpersonal fehlen allerdings fast vollständig, selbst Geert von Innstetten, um nur eine der zentralen Figuren zu nennen, muss auf eine Nennung verzichten; was wegen der häufigen Falschschreibung seines Namens doppelt schade ist. Wer so seltene und geheimnisvolle Namen wie Borstelkamm entschlüsselt haben möchte, kann ohnehin auf Grawe nicht verzichten. 8 Auch die Detailgenauigkeit des Fontane-Handbuchs wird nur punktuell erreicht, es ist fraglos umfassender angelegt, richtet sich dafür aber mehr an Forscher als an sonstige interessierte Leser.

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Eine kleine synoptische Lektüre ...

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Erläuterungen zu Orten, die wirklich existieren und in Fontanes Werk fiktionalisiert werden, finden sich im Führer wie im Lexikon, etwa »Hankels Ablage«. Bei Nürnberger / Storch erfahren wir, dass es sich ursprünglich um einen »Verlade- und Stapelplatz« handelte, »an dem der Amtsfischer Hankel 1789 ein Fischerhaus in Erbpacht erhalten hatte«, und dass dort acht Kapitel der 1884 erschienenen Erzählung Irrungen, Wirrungen spielen. Wenn auf »die Landpartie (und Übernachtung!) des Liebespaars« hingewiesen wird (S. 195), dann dürfte nur dem eingeweihten Fontane-Leser klar sein, dass das Ausrufezeichen am Ende der Klammer auf das Skandalon der Erzählung hindeutet, auf jene Episode, die einen Mitinhaber der Vossischen Zeitung, die für den Vorabdruck verantwortlich zeichnete, zu der Bemerkung veranlasst haben soll: »Wird denn diese gräßliche Hurengeschichte nicht bald aufhören?« 9 Heute dürfte der Umstand, dass die Übernachtungsgäste Lene und Botho nicht verheiratet waren und dennoch ein Zimmer teilten, keinen Moralapostel mehr auf den Plan rufen.

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Zurück zu Hankels Ablage. Grawe beschränkt sich auf die Ortsangaben »Ausflugslokal an der Oberspree südöstlich von Berlin« und erläutert dann genauer, wie der Ort in die Erzählung eingebunden ist. 10 Außerdem weist Grawe auf eine weitere Nennung des Ortes in der Erzählung Stine hin, die bei Nürnberger / Storch fehlt; hingegen wird dort ein Artikel Fontanes über den Ort zitiert und es findet sich ein Literaturhinweis zum Nachlesen weiterer Einzelheiten.

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Vergleicht man nun das Fontane-Lexikon mit der anders aufgebauten Fontane-Chronik, dann wird der stärker summarische Stil des Lexikons deutlich. Der Eintrag »Schottland« beispielsweise (S. 403 f.) weist kurz auf die Bedeutung des Landes wie der Reise mit Bernhard von Lepel für Fontane hin und nennt die wichtigsten Etappen, verzichtet aber auf genauere Angaben zur Reise bis hin zur Datierung und zu Einflüssen im Werk, wie sie sich bei Grawe finden.

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Besonders hilfreich ist das Fontane-Lexikon, wenn es um Zeitgenossen Fontanes geht, beispielsweise um die ältere Brieffreundin Mathilde von Rohr (S. 382). Wenn man bisher schnell etwas über sie erfahren wollte, war man auf das Blättern in den Personenregistern von Biographien oder kommentierten Ausgaben angewiesen. Als besonders komfortabel zeigen sich hier zudem die weiterführenden Literaturhinweise, auch auf besondere Briefausgaben. Einen Eintrag zur Dichtervereinigung »Tunnel über der Spree« gibt es ebenfalls (S. 450 f.), allerdings keinen separaten Eintrag zu dessen Namenspaten, dem Tunnel unter der Themse in London, der in Fontanes Jugendzeit als achtes Weltwunder galt; andere technische Errungenschaften wie die »Rohrpost« (S. 382 f.) oder die »Telegraphie« (S. 437) werden dagegen mit kurzen, aber interessanten Einträgen gewürdigt. Auch Möglichkeiten intertextueller Lektüre werden eröffnet, wenn beispielsweise auf den Einfluss von Charles Dickens (S. 103 f.), William Makepeace Thackeray (S. 438) oder Sir Walter Scott (S. 407 f.) hingewiesen wird. Sozialhistorisch richtig ist es, auch auf Autoren wie Felix Dahn einzugehen, von dem man liest, dass und woher Fontane ihn persönlich kannte (S. 96).

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... und ihr Ergebnis

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Als Fazit lässt sich formulieren, dass Nürnberger / Storch die Fontane-Forschung mit einem weiteren nützlichen Nachschlagewerk ausgestattet haben. Vor allem Wissen über Personen aus Freundeskreis und Zeitgeschichte, auch über solche, die Fontane nicht persönlich kannte, aber Spuren in seinem Werk hinterlassen haben, wird erstmals in solchem Umfang zwischen zwei Buchdeckeln versammelt; knapp formuliert, aber stets, sofern es welche gibt, mit (ausgewählten) weiterführenden Literaturhinweisen versehen.

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Die anderen Nachschlagewerke werden durch das neue Lexikon nicht überflüssig, im Gegenteil – nur alle zusammen bieten die Möglichkeit, sich so umfassend wie möglich über reale und fiktive Personen und Orte, über Themen und Motive zu informieren, die für Fontane wichtig waren und es für seine interessierten Leser auch heute noch sind.

 
 

Anmerkungen

Theodor Fontane: Wanderungen durch die Mark Brandenburg. Hg. von Gotthard Erler u. Rudolf Mingau. Erster Teil: Die Grafschaft Ruppin. (insel taschenbuch 1181) Frankfurt/M.: Insel 1989, S. 1.   zurück
Vgl. Christian Grawe: Führer durch die Romane Theodor Fontanes. Ein Verzeichnis der darin auftauchenden Personen, Schauplätze und Kunstwerke. Mit fünf Abb. (Fontane-Bibliothek) Frankfurt/M. u.a.: Ullstein 1980.   zurück
Christian Grawe: Fontane-Chronik. Mit 12 Abb. (RUB 9721) Stuttgart: Reclam 1998, S. 90 f.   zurück
Stefan Neuhaus: Fontane-ABC. (Reclam-Bibliothek 1631) Leipzig: Reclam 1998.   zurück
Christian Grawe u. Helmuth Nürnberger (Hg.): Fontane-Handbuch. Stuttgart: Kröner 2000.   zurück
Helmuth Nürnberger: Fontanes Welt. München: Siedler 1997.   zurück
Vgl. Dietmar Storch: Theodor Fontane, Hannover und Niedersachsen. (Quellen und Darstellungen zur Geschichte Niedersachsens, 94) Hildesheim: Lax 1981. Ansonsten hat Storch v.a. Bücher zu historischen und politischen Fragen veröffentlicht.   zurück
Vgl. Grawe: Führer durch die Romane Theodor Fontanes (Anm. 2), S. 54. So heißt der neue Pastor im Dörfchen Emmerode in der Erzählung Ellernklipp.   zurück
Zitiert nach Neuhaus: Fontane-ABC (Anm. 4), S. 94.   zurück
10 
Grawe: Führer durch die Romane Theodor Fontanes (Anm. 2), S. 104.   zurück