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Das Metzler Lexikon Weltliteratur eignet sich ganz wunderbar zum neugierigen Schmökern in Essays über Autorinnen und Autoren. Ich kann nach umfangreichen Tests in verschiedenen Lektüresituationen (im Bus, auf dem Sofa liegend, am Küchentisch, morgens, mittags, abends) mitteilen, dass mich die drei Bände stets gut unterhalten haben. Viele der Artikel sind mit erkennbarem schriftstellerischen Ehrgeiz verfasst worden und so anregend, gelegentlich sogar so fesselnd geraten (einer meiner Lieblingsartikel ist der über Balzac!), wie vielleicht nur noch die in den Essays thematisierten Primärtexte. Mit literaturwissenschaftlichem Ballast beschweren sich diese Essays eigentlich nicht, und auch sprachlich sind sie so erkennbar auf ein breites Lesepublikum ausgerichtet, dass man insgesamt von einer gelungenen populären Einführung in Leben und Werke zahlreicher Autorinnen und Autoren sprechen darf. Das Metzler Lexikon Weltliteratur kann ich dem literaturinteressierten Laien also nur zur Anschaffung empfehlen.
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Anders verhält es sich hingegen, sollte man dieses Lexikon als literaturwissenschaftliches Arbeitsinstrument beurteilen. Hier wären kritische Vorbehalte zu formulieren. Eine ganze Reihe der Einwände, die vorzubringen sind, werden bereits im Vorwort, welches Auswahl- und Aufbauprinzipien der Bände nennt, erkennbar. Mit dem ersten Satz macht der Herausgeber klar, dass der Untertitel des Gesamtwerkes lediglich runde Reklame ist, denn tatsächlich biete das Lexikon »mehr als 1000 Porträts von Schriftstellerinnen und Schriftstellern aus aller Welt sowie einige Artikel über anonym erschienene Einzelwerke« (S. V). Diese unverhoffte Großzügigkeit kann dem Leser bzw. Käufer nur recht sein, problematisch wird es allerdings, wenn er erfährt:
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Das Werk basiert auf den Metzler Lexika Amerikanische Autoren (2000) und Englischsprachige Autorinnen und Autoren (2002), dem Metzler Autorenlexikon. Deutschsprachige Dichter und Schriftsteller vom Mittelalter bis zur Gegenwart (32004), dem Metzler Autorinnen Lexikon (1998) und dem Metzler Lexikon antiker Autoren (1997), aus denen etwa die Hälfte der hier versammelten Artikel stammt. (S. V)
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Der Innentitel hält im Kleingedruckten außerdem fest: »In diesen Lexika befinden sich auch weiterführende Literaturhinweise zu jedem der Artikel« (S. IV).
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Die Bedeutung von »basieren« und »stammen« wird einem schnell klar, wenn man z.B. feststellen muss, dass Artikel im Metzler Lexikon Weltliteratur nicht auf dem erreichbaren aktuellen Stand wenigstens der Werkentwicklung des jeweils vorgestellten Autors bzw. der jeweils vorgestellten Autorin sind. So werden etwa in dem Beitrag über J. M. Coetzee lediglich bis 1994 erschienene Werke Coetzees genannt, spätere Texte wie z.B. Elizabeth Costello (2003), Slow Man (2005) oder auch Youth (2002) kommen, wie auch schon in seinem Vorgängerartikel, hingegen nicht vor. Eine gewisse Anpassung an den aktuellen Publikationskontext des Metzler Lexikon Weltiteratur kann man darin erkennen, dass Coetzee im letzten Satz des Beitrages immerhin als »Nobelpreisträger von 2003« (Bd. 1, S. 320) bezeichnet wird. Der exemplarische Artikel bietet – im Unterschied zu seinem Vorläufer im Metzler Lexikon englischsprachiger Autorinnen und Autoren – keine weiteren Literaturangaben, weder zu Primärtexten oder Übersetzungen (im fließenden Text werden die Titel und Daten einiger älterer Werke Coetzees sowie Titel und Daten zu deutschen Übersetzungen genannt), noch zur Forschungsliteratur. Im vorausgehenden Artikel über Jean Cocteau (der französischsprachige und eben nicht deutsche Romane, Dramen und lyrische Texte geschrieben hat) wird abschließend die lakonische Information gegeben: »Werkausgabe: 12 Bde. Hg. v. R. Schmidt, Frankfurt a.M. 1988«, statt z.B. »Oeuvres complètes, 1947–52«; der auf den Artikel über Coetzee folgende Artikel über Samuel Taylor Coleridge nennt etwas großzügiger »Werkausgaben: The Collected Works. Hg. K Coburn. London 1969ff. – Gedichte. Stuttgart 1973« (Bd. 1, S. 322).
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Lückenhafte Angaben und Verkürzungen
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Es handelt sich mithin um Artikel, die weitgehend oder vollständig um den kritischen lexikographischen Apparat verkürzt und überdies im Fall der Werkentwicklung von Gegenwartsautoren veraltet sind. Da hilft es auch nichts, wenn man, wie im Artikel über Brigitte Kronauer, abschließend und wahrheitsgetreulich von »ihren jüngeren Büchern« (Bd. 2, S. 302) statt – wie zuvor im Metzler Autorinnen Lexikon – von »ihren jüngsten Büchern« spricht, Kronauers Oeuvre aber in beiden ansonsten textidentischen Artikeln bei Teufelsbrück (2000) enden lässt. Wirft man weiter einen Blick in den Artikel über Günter Grass, so muss man nach der Lektüre annehmen, Grassens Oeuvre reiche lediglich bis zu Im Krebsgang (2002) – z.B. Beim Häuten der Zwiebel (2006) kommt beinahe selbstverständlich nicht vor. Man muss auch annehmen, dass es sich bei Grass um einen lupenreinen Romanautor und Erzähler handelt, der außer seinem erzählerischen Werk lediglich zwei tagebuchartige Publikationen (Aus dem Tagebuch einer Schnecke, 1972; Mein Jahrhundert, 1999) und eine Publikation mit »haikuähnliche[n] Kurzverse[n]« (Bd 2, S. 63, hingewiesen wird auf Fundsachen für Nichtleser, 1997) zu bieten hat. Zwar wird auch der Titel Die Plebejer proben den Aufstand in dem Artikel genannt, es wird aber hier wie bei den meisten anderen einfachen Titelnennungen nicht kenntlich gemacht, was für eine Art Text sich hinter dem Titel wohl verbergen mag. Vielmehr setzt der Artikel den in dieser Hinsicht bereits informierten Leser voraus – eine wagemutige Voraussetzung, die einem literaturwissenschaftlichen Arbeitsinstrument eigentlich nicht zusteht und auch nicht im Interesse von literaturwissenschaftlichen Laien sein kann. Dass das lyrische Werk Grassens auf einige »haikuähnliche Kurzverse« reduziert und kein Wort über andere Gedichtbände (angefangen bei den Vorzügen der Windhühner) und deren Bedeutung innerhalb des Oeuvres von Günter Grass und im Kontext der bundesrepublikanischen Literatur bis in die Gegenwart (u.a. Letzte Tänze, 2003; Lyrische Beute, 2004) verloren wird, verzeichnet das Oeuvre geradezu. Gleiches muss man im Hinblick auf das Stillschweigen über Grassens dramatisches Werk sagen.
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Mit den Artikeln über längst verstorbene Autoren sieht es allerdings nicht besser aus als mit denen über die noch lebenden Gegenwartsautoren. Konsultiert man beispielsweise den Artikel über Friedrich Schiller (Bd. 3, S. 201–206), so findet man dort keinen Hinweis darauf, dass Schiller auch der Verfasser von Die Braut von Messina und von Die Jungfrau von Orleans ist. Als einzige lyrische Text Schillers finden Das Lied von der Glocke und der Gedichtentwurf Deutsche Größe in dem Artikel Erwähnung.
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Solche Lücken sind eben nicht allein dem synergetischen Prinzip polyfunktionaler Modulkombination von Lexikon-Artikeln (vulgo: Recycling) geschuldet, sondern mehr noch der grundlegenden Entscheidung für die Form des Essay-Artikels, der stets zwischen biographischen, werkgeschichtlichen und interpretatorischen Informationen schwankt und jedenfalls keinen definierten und damit vergleichbaren Aufbauprinzipien folgt, die auf größtmögliche Sachinformation abzielen. In keinem der Artikel gibt es beispielsweise eine überblickshafte Zusammenstellung der biographischen Daten (lediglich Geburts- und Todesdaten, Geburts- und Sterbeorte werden im Artikelkopf genannt); es gibt in keinem Artikel ein chronologisches Werkverzeichnis, es gibt kein Verzeichnis der Übersetzungen (und nicht einmal eines der Übersetzungen ins Deutsche), es gibt keine Hinweise auf die zuverlässigsten oder besten Ausgaben, es gibt keine systematische Kennzeichnung der Gattungen, denen die jeweils im Artikel genannten Werke angehören könnten. Es ist nicht klar und wird nirgendwo geklärt, was die jeweils im Anschluss an die Titel genannten Jahreszahlen bedeuten sollen (Jahr der Fertigstellung, des Erstdrucks, der Uraufführung, der ersten oder vielleicht auch der maßgeblichen Übersetzung ins Deutsche u.a.m.), und es gibt kein Verzeichnis wenigstens der wichtigsten Sekundärliteratur. Die müsste man in den älteren Vorlagen suchen.
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Dem »einfacheren Verständnis« (S. V) dient die Entscheidung, Ortsangaben und Nennungen von Herkunftsländern nicht in allen Fällen »historischen Gegebenheiten« folgen zu lassen, sondern auf »heutige Zugehörigkeiten« zu verweisen. Dem gleichen Zweck dient wohl auch die Entscheidung, bei der Schreibweise von Autorennamen »zum Teil allgemeine gebräuchliche Formen« (S. V) anstelle wissenschaftlicher Umschriften zu verwenden. Stillschweigend werden überdies Autorennamen vereinfacht. So wird Horaz eben nur als »Horaz« vorgestellt, und nicht als Quintus Horatius Flaccus; Pindar lernt man als »Pindar« kennen, nicht als Pindaros; Terenz geht schlicht als »Terenz« in die Weltliteratur ein, nicht als Publius Terentius Afer.
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›Weltliteratur‹
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Problematisch oder wenigstens doch diskussionswürdig erscheinen mir nicht zuletzt die Auswahlkriterien, nach denen die Artikel in das dreibändige Weltliteratur-Lexikon aufgenommen wurden. Der Herausgeber teilt hierzu mit:
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Ausgewählt wurden einerseits klassische, zum Kanon der Weltliteratur zählende Autorinnen und Autoren, andererseits Schriftsteller, vor allem der Gegenwartsliteraturen, die für deutschsprachige Leser/innen durch ihre Verbreitung im deutschen Sprachraum von Interesse sind.
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Sicherheitshalber fügt er hinzu:
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Dass eine solche Auswahl nicht die Weltliteratur insgesamt repräsentieren und nicht allen Vorstellungen von ihr gerecht werden kann, versteht sich von selbst. (S. V)
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Das kann wohl keine Auswahl. Dennoch würde es interessieren, was denn als »Kanon der Weltliteratur«, was als »klassisches« Werk betrachtet werden kann. Hierüber gibt es, anders als die gewählten Formulierungen nahe legen, tatsächlich keinen Konsens, und es kann ihn aus sachlichen Gründen auch gar nicht geben – oder anders: den »Kanon der Weltliteratur« gibt es nicht. Vielmehr gibt es erstens unterschiedliche Konzepte von Weltliteratur und zweitens ganz unterschiedliche Kanones. Grundsätzlich kann man mindestens fünf Konzepte von ›Weltliteratur‹ voneinander unterscheiden: das relationale, das qualitative, das quantitative, das soziologische und das intertextuelle.
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Das relationale Konzept meint mit ›Weltliteratur‹ eine Gemeinschaft von Autoren, die ihre Nationen repräsentieren, das qualitative Konzept meint die besten oder gelungensten Bücher der Welt, das quantitative Konzept meint enzyklopädisch-additiv die ›Literaturen der Welt‹, das soziologische Konzept meint Literatur, die von vornherein nationale Barrieren überwindet, das intertextuelle Konzept meint schließlich Texte verschiedener Literaturen, die durch intertextuelle Bezugnahmen miteinander verbunden sind.
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Das Metzler Lexikon Weltliteratur ist anscheinend keinem dieser Konzepte verpflichtet, mischt die Konzepte allenfalls. Es lässt den Leser im Unklaren darüber, ob es sich mit ›Gestaltklassikern‹ und auch / oder mit ›Werkklassikern‹ befasst. Das Stichwort ›Literatur‹ suggeriert ›Texte‹, könnte aber auch lediglich aufgrund irgendwelcher Kriterien für bedeutend gehaltene (›klassische‹, ›kanonische‹) Personen meinen. Der Raum zwischen metonymischer und eigentlicher Rede in der »einerseits«-Passage ist ganz unterschiedlich und jedenfalls nicht eindeutig füllbar, so dass das Stichwort »Weltliteratur« im Titel des Metzler Lexikon Weltliteratur vor allen Dingen die Funktion einer Hochwert-Attrappe zu haben scheint. Die »andererseits«-Passage in der Erläuterung der Auswahlkriterien unterstützt diesen Eindruck. Sie fügt den erkennbare relationalen und qualitativen Komponenten nun quantitative hinzu, schränkt dieses aber zugleich durch ein lesesoziologisches Element ein, indem es eben um »Schriftsteller, vor allem der Gegenwartsliteraturen« gehen soll, »die für deutschsprachige Leser/innen durch ihre Verbreitung im deutschen Sprachraum von Interesse sind« – kurz: es geht auch um deutschsprachige ›Weltliteratur‹ für deutsche Gegenwartsleser bzw. um Literatur, die unter Deutschen zur Zeit weltberühmt ist. Dass die lesesoziologischen Elemente in einer gewissen Spannung zu den relationalen und qualitativen Aspekten stehen, ist dabei offenkundig. So sehr ich Peter Rühmkorf, Luise Rinser, Anna Maria Ortese oder Juan Marsé schätze, so sehr überrascht mich doch (durchaus positiv) ihre Berücksichtigung im Metzler Lexikon Weltliteratur.
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Andererseits vermisse ich auch den einen oder anderen Artikel in diesem Lexikon. So sucht man z.B. vergebens nach Einträgen über Apuleius, über Rafael Alberti, über Gaimbattista Basile oder Guido Cavalcanti, über den chinesischen Dichter Cao Zhan, über Carlo Collodi, über Martha Grimes oder Reginald Hill, über den Lazarillo de Tormes oder den Amadís de Gaula; über Longos ebenso wie über Livius Andronicus; man findet nichts über Juvenal und Martial oder gar Mendele Mocher Sforim und nichts über Isaac Leib Perez oder über Charles Perrault und über Kurt Vonnegut.
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Fazit
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Zusammenfassend kann man sagen: Als literaturwissenschaftliches Lexikon hat das Metzler Lexikon Weltliteratur durchaus erkennbare Schwächen, es hilft aus konzeptionellen Gründen vielfach nur unzulänglich oder gar nicht weiter. Für den anregenden Lektürespaß, für die vergnügliche und dabei auch lehrreiche Beschäftigung mit autororientierten Essays zur Weltliteratur scheint es mir hingegen die erste Wahl zu sein.
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