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Nur »garstige[s] Gezücht«?

Goethe-Parodien im 19. und 20. Jahrhundert

  • Alexander Reck: Friedrich Theodor Vischer. Parodien auf Goethes 'Faust'. (Beihefte zum Euphorion 53) Heidelberg: Universitätsverlag Winter 2007. XII, 386 S. 11 Abb. Gebunden. EUR (D) 68,00.
    ISBN: 978-3-8253-5236-3.
  • Klaus Schuhmann: Goethe-Parodien. Ein Almanach. Mit Abb. aus älteren bibliophilen Zeitschriften. (Sisyphos 12) Leipzig: Faber & Faber 2007. 159 S. Gebunden. EUR (D) 16,90.
    ISBN: 978-3-86730-041-4.
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Bewundertes Opfer

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Kaum eine Abhandlung zur Geschichte der Parodie kommt ohne den Hinweis auf Goethes scharfes und lange als absolut betrachtetes Verdikt aus, in dem er parodistische Schreibweisen mit dem Stigma moralischer Verderbtheit versieht: »Wie ich ein Todfeind sey von allem Parodiren und Travestiren hab ich nie verhehlt; aber nur deswegen bin ich’s, weil dieses garstige Gezücht das Schöne, Edle, Große herunterzieht um es zu vernichten; ja selbst den Schein seh ich nicht gern dadurch verjagt.« 1 Die Feinde der Parodie zitier(t)en das Urteil gern, freilich ohne auf die parodistische Kunstfertigkeit Goethes selbst zu verweisen, der sich sehr wohl, besonders in frühen Jahren, aufs nicht nur harmlos-verspottende »Parodiren und Travestiren« verstand. 2 Als Warnung verstanden es Goethe-Spötter ohnehin nicht – Parodien, Travestien und Kontrafakturen auf Goethes Werk sind Legion und setzten schon zu seinen Lebzeiten ein. Neben Schiller war Goethe im 19. Jahrhundert einer der meistparodierten Dichter, auch wenn sich das Gros der Texte ausdrücklich als unkritisch verstand und sich der berühmten Muster nur als Vorlage für affirmativ-bewundernde Nachdichtungen bediente: Das »Edle« nahm keinen Schaden, meist blieb es bei harmlos-liebevollem, dadurch aber auch oberflächlichem und oft nicht gerade originellem Ulk. Ernsthafte Literaturkritik, wie sie die seriöse Parodie verlangt, war selten. Selbst ein Meister des Genres wie Robert Neumann kapitulierte vor der stilistischen Virtuosität Goethes 3 – nicht jedoch Friedrich Theodor Vischer (1807–1887), der seine Kritik an Faust II auch parodistisch umsetzte.

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Vischer und Goethe

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Tatsächlich war die Beschäftigung mit Faust auch für Vischer – Kritiker, Literarhistoriker, Schriftsteller, Professor für Literaturwissenschaft und Ästhetik an den Universitäten Tübingen und Zürich sowie am Stuttgarter Polytechnikum – ein »Hauptgeschäft«, wie Alexander Reck in seiner Stuttgarter Dissertation in den einleitenden Kapiteln darstellt. Davon zeugen Vischers wissenschaftliche Arbeiten zu Goethe (S. 11), seine akademischen Vorlesungen (S. 377–380), zahlreiche Bemerkungen im Briefwechsel ebenso wie insgesamt fünf, zum Teil umfangreiche parodistische Texte, entstanden zwischen 1833 und 1886. Aus seiner großen Bewunderung für Goethe, vor allem für den ersten Teil des Faust, hat Vischer nie ein Hehl gemacht: Faust I gilt ihm als »Dichtung von Weltrang« (S. 38). Umso härter und unversöhnlicher fällt sein Urteil über Faust II aus, dessen »erbitterter Gegner« (S. 87) er wurde. Die scharfe, nicht nur parodistisch formulierte Kritik konnten viele der in Ehrfurcht erstarrten Goethe-Apologeten nicht nachvollziehen: »Zarte Damen verabscheuen meine Poße wegen der Cynismen; die haben natürlich über die ganz anderen Schweinereien in Göthes Faust (Blocksberg) in holder Unschuld weggelesen […]« 4 (S. 96, 278).

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Recks Arbeit gliedert sich in zwei Teile: 1. Parodieanalyse (S. 1–165), 2. Dokumentation (S. 213–380). Im zweiten Teil, dem »Editionsanhang«, wird Vischers bisher nicht publizierte Faust-Parodie von 1833 abgedruckt, nebst Kommentar und Anmerkungen (S. 215–262); zur Dokumentation gehört ebenso die – allerdings unkommentierte – Erstpublikation von achtzig Briefen von und an Vischer, die in direktem Zusammenhang mit der Entstehung, Veröffentlichung, Rezeption und Kritik der Goethe-Parodien stehen (S. 269–375).

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Die Parodien

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Fünf parodistische Bearbeitungen von Vischer auf Goethes Faust sind überliefert:

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1. Christians Schmerz und seine Heilung oder: die außerordentlichste Leistung der neueren Logik. Ein sehr gutes Fragment aus den Papieren eines Denkers. [1833].

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2. Zur Fortsetzung des Faust. Eine Posse. 1836.

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3. Faust. Der Tragödie dritter Teil. Treu im Geiste des zweiten Teils des Goetheschen Faust gedichtet von Deutobold Symbolizetti Allegoriowitsch Mystifizinsky. 1862.

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4. Faust. Der Tragödie dritter Teil. Treu im Geiste des zweiten Teils des Goetheschen Faust gedichtet von Deutobold Symbolizetti Allegoriowitsch Mystifizinsky. 2., umgearbeitete und vermehrte Aufl. 1886.

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5. Höchst merkwürdiger Fund aus Goethes Nachlaß. Einfacherer Schluß der Tragödie Faust. Mitgeteilt vom redlichen Finder. 1885.

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Nach einer kurzen historisch-systematischen Einführung in das Phänomen Parodie im 19. Jahrhundert und der Rekonstruktion von Vischers Parodieverständnis (S. 13–31) untersucht Reck die Texte in chronologischer Reihenfolge mit unterschiedlichen Schwerpunkten: Ziel sei nicht »eine lückenlose Analyse von Vischers Faust-Parodien« (S. 4), sondern eine Gegenüberstellung der charakteristischen »Merkmale« (ebd.) der Texte, um die ganz unterschiedlichen Formen, Funktionen und Intentionen der Parodien aufzuzeigen und zu vergleichen. Ausführlich analysiert werden die erste und dritte bzw. vierte Parodie; die sehr kurzen Texte von 1836 und 1885 dienen eher der Vollständigkeit des Textkorpus, liefern aber für Vischers parodistische Auseinandersetzung mit Faust kaum Anhaltspunkte, wie Recks knappe Bemerkungen zu diesen Parodien zeigen (S. 79–83, 161–165). Der Schwerpunkt von Recks Analysen liegt auf den Kontexten, vor allem auf den rezeptionsgeschichtlichen Zusammenhängen von Vischers Parodien, denn seine akademischen Zeitgenossen schätzten ihn durchaus als Autorität innerhalb der Goethe-Philologie und waren durch seinen, in ihren Augen respektlosen Spott nicht unerheblich irritiert (S. 87).

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Textanalysen

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Christians Schmerz und seine Heilung, vermutlich 1833 entstanden und durch ein Originalmanuskript Vischers und eine Abschrift von Eduard Mörike überliefert (S. 42, 243), nimmt in Vischers Faust-Parodien eine Sonderstellung ein: Vorlage ist, entgegen allen anderen Texten, der auch von Vischer hochverehrte Faust I (wahrscheinlich eine der ersten Faust-Parodien überhaupt, wie Reck vermutet, S. 41); weder die formale noch die inhaltliche Bearbeitung, die Anspielungen und die originalen Reminiszenzen lassen eine kritische Absicht erkennen. Im Gegensatz zur seriösen Parodie als gekonnter Umsetzung ernsthafter Literaturkritik mit satirischen Elementen – eine Definition, der auch Vischers Parodieverständnis nahekommt (S. 22–28) – handelt es sich bei Christians Schmerz um eine nicht gegen das Original gerichtete »Kontrafaktur« (S. 58): Parodistisch ist lediglich die Technik der (bloßen) Adaption ausgewählter formaler und inhaltlicher Merkmale. Bühnenanweisungen, Handlungsverlauf und wörtlich übernommene Zitate aus Faust I dienen nur als Folie; die Orientierung an Goethe nutzt den Wiedererkennungseffekt für die Wirkung des Textes, der in seiner Funktion jedoch unabhängig von der Vorlage ist (S. 57 f.). Vischers Kontrafaktur – anlässlich der Verlobung seines Tübinger Stifts-Kollegen Christian Märklin verfasst (S. 43, 50) – steht in der Tradition der Gelegenheitsdichtung, die sich wahrscheinlich, wie Reck vermutet, direkt an Goethes frühe »humorvoll-satirische Posse« (S. 50) Pater Brey »neben anderen derbkomischen, parodistisch-satirischen dramatischen Schwänken, Farcen, Fastnachtspielen und szenischen Scherzen des jungen Goethe« (ebd.) anlehnt. Recks Darstellung der Kontexte und der Entstehungsgeschichte zeigt jedoch, dass der Text neben seiner eher privaten Funktion als »poetisches Geschenk« (S. 43) aufgrund seiner vielen Anspielungen auf die zeitgenössische Hegelrezeption und die Methoden, Inhalte und Tendenzen zeitgenössischer theologischer Ausbildung, auf »Freundschaftskult« (S. 43), Geselligkeit und Gruppenbildung und nicht zuletzt auf den Alltag und das Leben im berühmten Tübinger Stift auch von geistesgeschichtlichem und sozialhistorischem Interesse ist (S. 41–77).

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Vischers Faust. Der Tragödie dritter Teil von 1862, überarbeitet und um ein »Nachspiel« ergänzt in zweiter Auflage 1886 erneut publiziert, gehört zu den bekanntesten und zweifellos zu den gelungensten Parodien auf Goethes Faust II. Um die Brisanz der trotz der Tarnung durch parodistische Kunstgriffe nicht zu übersehenden scharfen Kritik an Goethe wusste Vischer sehr genau, wenn er von seiner »ruchlosen Arbeit Faust III« (S. 120) spricht und glaubt, seinen Angriff in Briefen und in einer »Verteidigungsschrift« Pro domo (1863) wiederholt rechtfertigen zu müssen. Mit Empörung reagierten vor allem Vischers akademische Kollegen (S. 142–150); wohlwollende Kritiker dagegen, z.B. Mörike, Conrad Ferdinand Meyer, Gottfried Keller (S. 87 f.), fühlten sich, gemäß Vischers parodistischer Intention, durch die »befreiende Kraft der Komik von dem drückenden Alb« 5 (S. 150) Faust II befreit.

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Recks Analyse von Faust III berücksichtigt alle Ebenen parodistischen Schreibens, die neben einer Prüfung der Kunstfertigkeit des Spötters vor allem für die Rekonstruktion der Stoßrichtungen der Kritik und somit für die Intention(en) des Parodisten relevant sind: Das Verhältnis von Imitation und Karikatur in Form, Sprache und Stil sowie die, im Fall von Faust III sehr zahlreichen, oftmals detektivischen Spürsinn erfordernden inhaltlichen Anspielungen, Hinweise und Intertextualitäten, die meist über die Kritik an der eigentlichen Vorlage hinausgehen und politische Ereignisse wie kulturelle Moden gleichermaßen attackieren.

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Besonders gelungen ist die Parodie dort, wo Vischer seine »ästhetische[n] Hauptkritikpunkte« (S. 131) allein durch stilistische Karikaturen transportiert: Durch die Häufung regelwidriger und unsinniger Wortbildungen – vor allem Kontaminationen, Komposita und fehlerhafte Superlative – parodiert Vischer die Form der Allegorie (so bereits im Titel der Parodie: Deutobold Symbolizetti Allegoriowitsch Mystifizinsky), als die er Faust III im Einklang mit der zeitgenössischen Goethe-Interpretation definiert (S. 131–134). In der Sprach- und Stilkarikatur richtet sich seine Kritik aber auch gegen die von ihm mehrfach in Briefen und theoretischen Abhandlungen diagnostizierte Manieriertheit von Goethes Altersstil (S. 135–142), der, so Vischer wörtlich, unerträglichen »Bisam- und Moschussprache« (S. 135), die zudem mit leerer und nichtssagender Begrifflichkeit gepaart sei (S. 135).

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Das lässt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig, doch nicht nur Goethe, auch die Zeitgenossen, allen voran, so Vischer, die »Herren Kollegen Lehrstuhlinhaber« (S. 149) bekommen ihr Fett gründlich weg, wie Reck besonders anhand der zweiten Fassung von 1886 zeigt (S. 137–142). In alternierenden Gesängen stacheln sich deutungsbesessene »Sinnhuber« (»Lebe hoch die tiefre Deutung,/Bloß Exaktes ist vom Übel!/Hoch die philosoph’sche Häutung,/Schälung dichterischer Zwiebel!«, S. 139) und sammelnde »Stoffhuber« (»War’s um sechs Uhr oder sieben,/Wann er diesen Vers geschrieben?/War’s vielleicht präzis halb achte,/Als er zu Papiere brachte/Diesen Einfall, diesen Witz?«, S. 139) gegenseitig in ihrer Goetheverehrung auf. Auch mit zahlreichen direkten und indirekten Zitaten, mit Reflexionen über Sprachexperimente bei gleichgesinnten Dichterkollegen wie Mörike (S. 101–117), mit Selbstreferenzen (S. 139–142), mit historischen und politischen Anspielungen (S. 123–126), die in der zweiten Fassung, wie Recks Auflagenvergleich zeigt, vermehrt, aktualisiert und verschärft werden, weist Vischers Parodie weit über literaturkritische Absichten hinaus und bekommt, ohne sich von der Vorlage zu weit zu entfernen, auch einen deutlich erkennbaren satirischen Charakter. Fraglich bleibt jedoch, ob die Ernsthaftigkeit von Vischers literarischer Kritik sowie die Fülle der gesellschaftspolitischen Anspielungen zu Vischers Zeit überhaupt erkannt wurden und somit die Qualität und Intention seines Spotts angemessen gewürdigt werden konnte: Recks Darstellung der Rezeptionsgeschichte von Faust III im Zusammenhang mit der im späten 19. Jahrhundert stetig wachsenden Instrumentalisierung Goethes zum Nationaldichter sprechen dagegen. Das Potenzial von Vischers »Gegenentwurf« (S. 94) entfaltete sich erst im 20. Jahrhundert (S. 155–160), nicht zuletzt mit der (sehr verspäteten) Uraufführung im Torturmtheater in Sommerhausen 1965 (S. 156).

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Mehr als »Hanswurst-Humor«

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Recks Studie zeigt in der Zusammenstellung und vergleichenden Analyse der Faust-Parodien Vischers, wie unterschiedlich Ausführung und Intention parodistischer Texte sein können, auch wenn sie aus der Hand eines Autors stammen und sich jeweils auf dieselbe Vorlage beziehen. Vischers Faust III nimmt nicht nur aufgrund seines Umfangs (S. 94) und der zweiten, stark erweiterten, vor allem aber auch in den politischen Anspielungen aktualisierten Auflage zweifellos eine Sonderstellung innerhalb der Goethe-Parodien des 19. Jahrhunderts ein (S. 94, 169 f.), weil der Text, wie Neuauflagen, Kommentare und Rezeption zeigen, als eigenständiges Werk bestehen konnte, das nicht nur als parodistische Auseinandersetzung mit Goethes Faust II gilt, sondern ebenso als kritischer Kommentar zur literarischen Kanon- und Geschmacksbildung, zur Wissenschaftsgeschichte der Literaturwissenschaft, zur literarischen Entwicklung »neben« Goethe, aber auch zu Politik und Zeitgeschichte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gelesen werden muss. Die Betrachtung der sprachkünstlerischen Qualität, die nicht zuletzt das Überleben von Vischers Parodie sicherte, kommt in Recks Arbeit leider etwas zu kurz; referiert werden hier fast nur bereits bestehende Interpretationen (S. 131–137), die nur die auffälligsten Stilkarikaturen nennen. Überzeugend ist dagegen die Analyse der verschiedenen intertextuellen Ebenen in Faust III, die nicht nur zeigen, wie weit Vischer über eine »produktive Literaturkritik« (S. 169) an Faust II hinausgeht. Dass es sich um mehr als um »Hanswurst-Humor« handelt, wie Vischer seine erste Fassung selbst definiert (S. 281), beweist zudem Recks detailliert rekonstruierte Rezeptionsgeschichte: Eine kongeniale Parodie kann und will nicht nur unterhalten, sondern meinungsbildend wirken und sich neben ihrem Opfer einen bleibenden Platz im literarischen Kanon sichern. Das ist Vischer gelungen.

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Parodistische Goethe-Rezeption im 20. Jahrhundert

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Goethe und Schiller gelten bis weit ins 20. Jahrhundert hinein als die meistparodierten Dichter; nahezu jede Parodieanthologie präsentiert eine Auswahl sogenannter »Klassikerparodien«. 1990 erschien eine Sammlung von 69 Schiller-Parodien aus den Jahren 1789–1985, 6 tatsächlich jedoch fehlten bisher vergleichbare Sammlungen zu Goethe: Er wird meist nur im Doppelpack (mit Schiller) angeboten – so auch in der wohl letzten Anthologie von 1965, die jedoch nur Parodien aus dem 19. Jahrhundert (bis 1905) abdruckt und zudem, ganz in der Klassikerverehrung des 19. Jahrhunderts verhaftet, auf literaturkritisch ausgerichteten Spott mit satirischen Tendenzen verzichtet. 7 Nur eine Publikation neueren Datums konzentriert sich ausschließlich auf Goethe, jedoch lediglich auf Faust-Parodien. 8

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Klaus Schuhmanns 2007 erschienene Anthologie Goethe-Parodien enthält bis auf wenige Ausnahmen Texte aus dem 20. Jahrhundert – darunter berühmte und viel zitierte wie Brechts Liturgie vom Hauch (S. 12–15), Erich Kästners Kennst du das Land, wo die Kanonen blühn (S. 34 f.) und Kurt Tucholskys Zueignung (S. 42 f.). Schuhmanns Auswahl ist repräsentativ für die parodistische und satirische Auseinandersetzung mit Goethe im 20. Jahrhundert, weil sie die Vielfalt der unterschiedlichen formal-stilistischen wie inhaltlichen Annäherungen zeigt, die sich vor allem in ihren parodistisch maskierten Intentionen unterscheiden. Die insgesamt 39 Texte ordnet Schuhmann in zwei Rubriken: »Frei nach Goethe« (S. 12–69) und »Vom ›punktierten‹ zum ›faschisierten‹ Goethe« (S. 72–135).

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In der ersten Rubrik finden sich nicht chronologisch, sondern systematisch nach der jeweiligen Vorlage sortierte Parodien: Der Grad des Vorlagenbezugs, das Verhältnis von Imitation und Karikatur, vor allem aber die Funktion und Intention dieser Texte könnten unterschiedlicher kaum sein. Gemeinsam ist ihnen jedoch, dass sie sich alle der berühmtesten und bekanntesten Vorlagen bedienen, besonders lyrischer Texte (z.B. Ein Gleiches, Mignon-Lied, Erlkönig und Verse aus Faust I), um Kürze und Prägnanz mit einem garantierten Wiedererkennungseffekt zu verbinden. Bloß verulkende Travestien, die Goethe ins Sächsische transponieren (Gennst du das Land, S. 32 f., Faust oder dr gebrällte Deifel, S. 49–56), finden sich hier ebenso wie die gelungenen sprachexperimentellen und -spielerischen Adaptionen von Jandl (ein gleiches, S. 20 f.) oder Enzensbergers, ans »Starckdeutsche« erinnernde Mignon-Parodie Kreubst du das Lerd (S. 29), die nur mit Formübernahmen, mit Assonanzen und dem Rhythmus das Original im Kopf des Lesers aufruft. Den größten Teil machen jedoch diejenigen Parodien aus, die sich wenig oder gar nicht formal-stilistisch mit dem Original auseinandersetzen, sondern die Berühmtheit der Vorlage als Medium nutzen, um die eigene, meist politische und/oder gesellschaftskritische Botschaft parodistisch zu vermitteln – eine Form der Auseinandersetzung mit bekannten Mustern, die besonders in politischen Umbruchzeiten, wie bereits Beispiele aus dem 19. Jahrhundert zeigen (Franz Dingelstedt: Mignon als Volks-Kammer-Sängerin, 1848, S. 28; Anonym: Der Erlkönig, 1848, S. 36 f.), immer mehr genutzt und im Wilhelminismus, nach dem Ersten Weltkrieg, vor allem aber in der Weimarer Republik mit der zunehmenden Gefahr, die von den erstarkenden nationalistischen und nationalsozialistischen Kräften ausging, zu einer schlagkräftigen publizistischen Waffe wurde. Im Vordergrund steht bei diesen Texten die eigene kritische Zeitdiagnose (z.B. bei den erwähnten Brecht, Kästner und Tucholsky), die trotz parodistischer Verkleidung deutlich erkennbar ist, weniger der »Klassikerkultus« der deutschen Bildungsbürger, gar nicht die ästhetische bzw. persönliche Kritik an Goethe.

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Die zweite Rubrik enthält überwiegend Texte aus dem frühen 20. Jahrhundert, die dokumentieren, so Schuhmacher im Nachwort (S. 148–157), wie sehr »der I. Weltkrieg und die Revolutionsmonate in Deutschland die Beschäftigung mit Goethe politisierten, so daß die Kritikerkette von Carl Sternheim zu Raoul Hausmann, von Karl Kraus zu Kurt Tucholsky nicht mehr abreißt und im Goethejahr 1932 geradezu eine ideologische Feldschlacht um Werk und Person Goethes geschlagen wird« (S. 149). Allerdings handelt es sich hier nun gar nicht mehr um Parodien, selbst wenn man den Texten einen sehr weiten Parodiebegriff anmisst, der Travestien, Satiren und (Zitat-)Montagen gleichermaßen berücksichtigt: So stehen neben kritischen und in ihrem Ton sarkastischen Kommentaren zur unzeitgemäßen Klassikerverehrung (M.R. Schönlank: Goethes Geburtstag in Weimar, S. 90–93), zur akademischen Goethe-Philologie im nationalen Gewand, die an Vischers Sinn- und Stoffhuber gemahnen (Victor Aubertin: Die Goethephilologen, S. 78 f.), und politisch-ideologischen Feuilletons mit satirischen Zügen (Kurt Eisner: Der punktierte Goethe. Vom Privateigentum an Kulturwerten, S. 80–88) sowie Karl Kraus’ bitterbösem Verriss der Instrumentalisierung von Goethes Werk im Ersten Weltkrieg (Goethes Volk, S. 94–99) und Raoul Hausmanns Plädoyer für die »dadaistische Welt« (S. 103–106) sogar ein Auszug aus Nico Rosts Aufzeichnungen Goethe in Dachau von 1948 (S. 135–139), in denen Goethes Dichtung hilft, geistig-seelisch ein nationalsozialistisches Konzentrationslager zu überleben (»Es stimmt also doch: klassische Literatur kann helfen und stärken.«, S. 137). Nur in wenigen Texten setzen sich die Autoren mit Goethes Werk auseinander (Dehmel: Der Olympier Goethe. Ein Protest, S. 72–77); überwiegend dient es auch hier, ähnlich den Texten der ersten Rubrik, als Folie für die Formulierung der eigenen, das Zeitgeschehen kommentierenden, kritischen Position, nicht aber einer ästhetischen oder literaturkritischen Stellungnahme. In allen Texten steht das ideologische Moment im Vordergrund, indem vor allem die Stilisierung des Dichters zur nationalen Ikone und der Missbrauch Goethes als »Gewährsmann« und Rechtfertigung für die Durchsetzung nationalistischer Interessen und Ziele scharf verurteilt wird. Jedoch: Auf dem Höhepunkt des nationalen Goethe-Kults, 1932, bröckelt auch Goethes Ruhm: »Goethe war ein großer Deutscher. Zeppelin war der größte Deutsche. Hitler ist überhaupt der allergrößte Deutsche. […] Wenn wir zur Macht gelangen, schaffen wir Goethe ab.« (Tucholsky: Hitler und Goethe. Ein Schulaufsatz, S. 131–134, hier S. 132 f.)

 
 

Anmerkungen

Goethe an Zelter, 26.6.1824. Goethes Werke. Hg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen [Weimarer Ausgabe], IV. Abt., Bd. 38. Weimar 1906, S. 171.   zurück
Vgl. hierzu Waltraud Wende: Goethe-Parodien. Zur Wirkungsgeschichte eines Klassikers. (M-&-P Schriftenreihe für Wissenschaft und Forschung) Stuttgart, Weimar: Metzler 1999, S. 389–398.    zurück
Vgl. Robert Neumann: Zur Ästhetik der Parodie. In: R. N.: Die Parodien. Gesamtausgabe. Wien u.a.: Desch 1962, S. 553–563, hier S. 557.   zurück
Vischer an Julius Ernst von Günthert, 1862.   zurück
So Vischer selbst in Pro domo, 1863.   zurück
Christian Grawe (Hg.): »Wer wagt es, Knappersmann oder Ritt?« Schiller-Parodien aus zwei Jahrhunderten. Stuttgart: Metzler 1990.   zurück
Wolfgang Hecht (Hg.): Frei nach Goethe. Parodien nach klassischen Dichtungen Goethes und Schillers. Berlin: Rütten & Loening 1965.   zurück
Waltraud Wende-Hohenberger / Karl Riha (Hg.): Faust Parodien. Eine Auswahl satirischer Kontrafakturen, Fort- und Weiterdichtungen. Frankfurt/M.: Insel 1989.   zurück