IASLonline

Von der Sprache zur Kultur

Eine Reise mit Heymann Steinthal durch die deutsche Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts

  • Céline Trautmann-Waller: Aux origines d'une science allemande de la culture. Linguistique et psychologie des peuples chez Heyman Steinthal. (De l'Allemagne) Paris: Cnrs 2006. 338 S. EUR (D) 28,00.
    ISBN: 2-271-06435-X.
[1] 

Die Studie von Céline Trautmann-Waller widmet sich einer Thematik, die noch weitgehend unerforscht ist. Es geht um die Entstehung der Disziplin »Kulturwissenschaften« in Deutschland. Auf die Frage, warum dieses Forschungsdesiderat besteht, gibt es eine kurze und eine etwas längere Antwort. Die kurze Antwort hebt an mit dem Nachweis, dass in der nachidealistischen Zeit der deutschen Geistesgeschichte keine großen Systementwürfe geschrieben wurden und vor allem die Philosophie ihre dominierende Rolle ausgespielt hat. Dies kann man als »revolutionären Bruch im Denken des 19. Jahrhunderts« (Löwith) begreifen oder aber man schaut auf die neu entstehenden Ordnungsstrukturen des Wissens im Neu-Aristotelismus oder Neukantianismus der Zeit nach 1840 (Köhnke). Sieht man sich den Prozess der Ausdifferenzierung der Wissenschaften und die einzelnen Übergänge zwischen den neu entstehenden Wissenschaften genau an, dann erscheint es schon erstaunlich, dass diesem Zeitraum nicht mehr Aufmerksamkeit gewidmet wurde. Vielleicht ist es ja noch ein Rest an Selbstherrlichkeit akademischer Philosophie, dass wir den Blick vor ihrem vermeintlichen Niedergang senken und nicht ihren tatsächlichen Übergang in die neu entstehenden Disziplinen, unter ihnen die Kulturwissenschaften, sehen wollen.

[2] 

Die etwas längere Antwort auf die Frage, warum wir uns in der Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte seltener mit der Zeit nach 1840 beschäftigen, finden wir in der Studie von Céline Trautmann-Waller. Ihr Protagonist Heymann Steinthal (1823–1899) durchschreitet diesen Zeitraum mitsamt seinen Wissensdisziplinen. Zwar beginnt er mit dem Studium der Philologie und Philosophie, aber er erweitert diese Disziplinen sehr bald in Richtung Sprachwissenschaft als der neuen Leitdisziplin um die Jahrhundertmitte, vertieft sich in die historische und vergleichende Sprachwissenschaft und entdeckt die Psychologie Herbarts später, um seine Einsichten in die 1859 gegründete Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft einfließen zu lassen, in deren Umfeld das Konzept einer »Culturwissenschaft« Gestalt annimmt.

[3] 

Ein Parcours durch die Disziplinen des Wissens

[4] 

Steinthals Parcours durch die Wissensdisziplinen steht geradezu paradigmatisch für die Unübersichtlichkeit einer Epoche, die sich ihre disziplinäre Ordnung erst wieder schaffen muss. Nach der Vorherrschaft von Theologie, Philosophie und Newtonscher Mathematik ringen im 19. Jahrhundert die neuen Wissenschaften von der menschlichen Psyche und Geschichte, von der Evolution des Menschen inmitten der Natur, von den Sprachen und Religionen der Völker und viele andere um die Vorherrschaft. Es ist das große Verdienst der Studie Aux origines d’une science allemande de la culture von Céline Trautmann-Waller, dass sie dieses große Panorama eröffnet, in der Beschreibung eines Lebens und einer akademischen Laufbahn verdichtet und in einer solchermaßen dichten Beschreibung viele Einzelheiten präsentiert, von denen der Rezensent nur einige aufgreifen kann.

[5] 

Auf einen ersten Blick ist die Studie in sechs Kapitel untergliedert. Es beginnt mit einer Beschreibung des Studiums der Philosophie an der Berliner Universität in den 1840er Jahren und den Anfängen der akademischen Laufbahn von Heymann Steinthal (Kap. 1). Es führt weiter über eine Reise nach Paris in den Jahren 1852 bis 1856, in denen Steinthal in Berührung mit der Sprachwissenschaft Frankreichs und der Sociéte éthnologique in Paris kommt (Kap. 2). Nach einem Überblick über die wissenschaftlichen Gesellschaften zur Medizin, Anthropologie und Völkerkunde in Berlin (Kap. 3) folgt ein sehr instruktiver Abschnitt zur Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft (ZfVS/ 1859–1890), die in der Zusammenarbeit mit dem Freund und kongenialen Partner Moritz Lazarus entsteht (Kap. 4). Abgerundet wird die Studie dadurch, dass zum einen die entstehende Disziplin der Kulturwissenschaft in den Kontext der Streitigkeiten des späten 19. Jahrhunderts über Volk, Nation und Rasse gestellt (Kap. 5) und auf seine Wirkung über die Soziologie Georg Simmels hinaus in anderen Disziplinen und unter anderen Bezeichnungen untersucht wird (Kap. 6).

[6] 

Angesichts der Fülle des Materials, die eine so umfassende Studie bietet, ist zu hoffen, dass sie zu weiteren Forschung Anregung bieten wird. Diese Forschungen könnten die Genese der Sprachwissenschaft im Schatten Hegels und Humboldts, die Frage nach dem Einfluss der Psychologie Herbarts auf die Völkerpsychologie, die Beziehung von Völkerkunde und Sprachgeschichte, den Einfluss der Lehre Darwins auf die Sprach- und Kulturwissenschaft und den spezifisch »jüdischen« Aspekt in der Sprachtheorie des 19. Jahrhunderts beleuchten. Sie würden allesamt in der vorliegenden Studie Aux origines d’une science allemande de la culture wichtige Grundlagen oder Anhaltspunkte finden.

[7] 

Die Zeitschrift für Völkerpsychologie
und Sprachwissenschaft
(ZfVS)

[8] 

Nicht nur nach arithmetischem Mittel ist das vierte Kapitel, das die Entstehungsgeschichte der ZfVS von Steinthal und Lazarus beschreibt, das Herzstück der vorliegenden Studie. Der Rezensent erlaubt sich, an dieser Stelle ins Detail zu gehen (und die anderen Aspekte zu vernachlässigen), aber sieht sich in seinem Vorgehen durchaus gerechtfertigt. Denn die ZfVS ist nicht bloß eine Episode im Leben des Gelehrten Heymann Steinthal, sondern sie steht vielmehr im Fokus seiner wissenschaftlichen Bemühungen. Von Beginn ihres Erscheinens an sollte sie, so die »synthetischen Grundgedanken« von Lazarus und die »Einleitenden Gedanken über Völkerpsychologie« von Lazarus / Steinthal, ein Sammelbecken der neu entstandenen Disziplinen wie auch ein Auffangbecken der klassischen Disziplinen sein. Unter ihrem Dach sollten Psychologie, Philologie und Philosophie, aber auch Völkerkunde, Anthropologie, Kulturgeschichte und Sprachwissenschaft vereint werden. Interdisziplinarität, ein heute oftmals verwässertes Konzept, wurde hier der Sache nach ins wissenschaftliche Leben gerufen und ernst genommen.

[9] 

Im Zentrum der jahrelangen Arbeit an der Integration verschiedener Wissensdisziplinen und ihrer unterschiedenen Methoden stand die Analyse des Konzepts »Volksgeist«. Steinthal und Lazarus waren auf der Suche nach den Elementen, die eine Gesellschaft im Innersten zusammenhält. Bevor die moderne Soziologie um 1900 entstand, war man weitgehend auf Hegelsche Terminologie angewiesen. Hierzu gehört unvermeidlich das Konzept »Volksgeist«, dessen Vorgeschichte über Hegel bis zu Herder reicht und in die politische Romantik des 19. Jahrhunderts wirkt. Die Herausgeber der ZfVS wussten, was sie taten, als sie das Konzept »Volksgeist« zum Forschungsgegenstand erhoben. Das zeigt sich dort, wo sie vehement gegen seine Substantialisierung, vor allem im Namen biologischer Forschung vorgehen. So ist ein Ergebnis ihrer interdisziplinären Arbeit eine interne Pluralisierung der Strukturen des »Volksgeistes«, der ja als in vielerlei Hinsicht – sprachlich, religiös, sittlich usw. – geformt zu denken ist. Jede Kultur, so die Pointe dieser Arbeit am Begriff und dem ihm zugrunde liegenden Material, beruht auf einer mehrdimensionalen Entwicklung, die alle Einflüsse integriert, um sich zu einer Einheit in Vielheit auszubilden (S. 165 ff.). Hätten die Herausgeber der ZfVS gewusst, welche weitere Karriere der »Volksgeist« im 20. Jahrhundert noch machen wird, sie hätten ihn ohne systematischen Schaden durch das Konzept »Geist einer Bevölkerung« ersetzen können und wären dem Entstehungskontext kulturwissenschaftlicher Analysen bei Montesquieu und Vico durchaus näher gerückt.

[10] 

Testfall »Volksgeist« und Monotheismus

[11] 

Der Testfall einer solchermaßen pluralisierenden Kulturgeschichte ist die Frage nach dem Verhältnis von mythischer Vorgeschichte aller Völker und dem – ursprünglich nur bei einem Volk entstehenden – Monotheismus. Ist die Geburt des Monotheismus eine Bewegung, die aus der Synthese verschiedener Elemente eines mythischen Weltbildes entsteht, oder ist sie ein exklusives semitisches Alleinstellungsmerkmal (S. 204 ff.)? Steinthal entscheidet sich für die erste Option, viele andere wählen die zweite Option. Es liegt auf der Hand, welche Sprengkraft in der zweiten Option steckt – abgesehen davon, dass diese Alternative bereits eine Soziologisierung ihres Gegenstandes und eine Kritik der Offenbarungstheologie voraussetzt. Die zweite Option fixiert gleichsam das Selbstverständnis des hebräischen Volkes, sie kann in Verkehrung als ein anti-semitischer Affekt in der Religionswissenschaft wiederkehren und sie präjudiziert den Vergleich mit den zwei anderen monotheistischen Religionen. Das ist eine Debatte, in welche die Religionsforschung von ihren Anfängen in der Religionsgeschichte bei Eduard Zeller bis zur Julius Wellhausen, in der Religionssoziologie Max Webers, in der Religionsphilosophie bei Hermann Cohen und seinen Schülern und in der Religionspsychologie von Friedrich Nietzsche bis zu Sigmund Freud (Mann Moses) eingebunden war. Sie ist darüber auch noch nicht hinaus gekommen, wie Jan Assmanns Studie über die Mosaische Unterscheidung und die hieran anknüpfende Diskussion zeigt. Von Heymann Steinthal lässt sich zu diesem Thema einiges lernen.

[12] 

»Objektiver Geist« und Kultur.

[13] 

Während im Begriff des »Volksgeistes« die kulturellen Charakteristika eines Volkes begriffen werden, steht das Konzept »objektiver Geist« für eine allgemeine Struktur kultureller Formen – Sprache, Religion, Sittlichkeit usw. – bei allen Völkern. Trotz aller Hegel-Kritik bleiben Lazarus und Steinthal dieser Denkfigur verpflichtet.

[14] 
La notion d’esprit objectif tend alors à designer de manière très générale l’ensemble des accomplissements culturels réalisés par l’esprit humain et se situe d’une certaine manière dans cette acception entre les philosophies de l’esprit et les philosophies de la culture. (S. 211)
[15] 

Dieser Zusammenhang müsste im Einzelnen ausbuchstabiert werden. Tatsächlich ist das Konzept des objektiven Geistes wirkungsgeschichtlich die Brücke zwischen der Hegelschen Geschichtsphilosophie, der Völkerpsychologie von Lazarus und Steinthal, der Soziologie Simmels wie auch der Geschichtstheorie Diltheys und der Symboltheorie Cassirers. Die Berufung auf dieses Konzept ist immer der Ausdruck eines Vorbehalts gegenüber der materialistischen Kulturtheorie. Aber hinter dieser oberflächlichen Gemeinsamkeit geben alle Genannten unterschiedliche Antworten auf die Frage, wer oder was den »objektiven Geist« als das Ensemble kultureller Formen bewegt und bildet. Wenn es schon nicht die Idee im Hegelschen Sinn als Substanz geschichtlicher Bewegung ist, was bleibt dann?

[16] 

Die Kulturwissenschaften und ihr ethisches Programm

[17] 

Auf die Fragen, die wir mit Hegel nicht mehr beantworten können, gibt auch Humboldt keine Antwort, aber zumindest Fingerzeige. Céline Trautmann-Waller zeigt in ihrer detailreichen und wohl strukturierten Studie, was die Auseinandersetzung mit den Schriften Wilhelm von Humboldts zeitlebens für Heymann Steinthal bedeutet hat. Auf den Schultern des Sprachforschers Humboldt stehend schien es ihm möglich, kulturelle Vielfalt als Ausdruck eines allgemein Menschlichen zu betrachten. Aufgabe der Völkerpsychologie als Kulturwissenschaft ist es, die einzelnen, im jeweiligen »Volksgeist« gebannten, Elemente sprachlicher Kommunikation, religiösen Erlebens, sittlichen Handelns usw. auf ein Allgemeines, den »objektiven Geist« zurückzuführen und in der Spannung zwischen Einzelnem und Allgemeinem eine kulturelle Entwicklung abzulesen, die dem Humboldtschen Humanitätsideal verpflichtet ist. Selbstverständlich geht es hier um »Bildung« in einem umfassenden Sinne, d. h. um Selbstbildung und um Bildung kultureller Identität. Dieser »idée allemande de Bildung« in einem ganz emphatischen Sinn ist Steinthals Werk und Wirken verpflichtet. »Erudit juif allemand, Steinthal s’est construit ici un idéal permettant, du moins en théorie, autant sa propre intégration à la nation allemande qu’une identification avec l’humanité toute entière.« (S. 301) Mit dieser Herkunftsgeschichte ist für die Kulturwissenschaften, auch heute noch, eine philosophische Ethik verbunden. Die Erinnerung an diesen Zusammenhang und viele weitere geschichtliche Details verdanken wir der lesenswerten Studie von Céline Trautmann-Waller.