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Diskurse vom Zeigen

Vielfältige Perspektiven aus Marbach

  • Heike Gfrereis / Marcel Lepper (Hg.): Deixis. Vom Denken mit dem Zeigefinger. (Marbacher Schriften 1) Göttingen: Wallstein 2007. 211 S. 46 s/w Abb. Broschiert. EUR (D) 19,90.
    ISBN: 978-3-8353-0203-7.
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Wie kommt der fortlaufende Diskurs oder die zeigende Bewegung zur Anwesenheit ihres Gegenstands? Wie kommt der Gegenstand zur ihn aufzeigenden Rede oder Geste? Und wie gelangt das einzelne Exponat, das Kunstwerk, der Text oder das Bild zum Verweisungszusammenhang, der sie umgibt?

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Diesen sehr weit gefassten Bereich verschiedener Fragen zur Deixis decken hier Beiträger aus der Philosophie, der Kunstgeschichte, der allgemeinen Literatur- und Medienwissenschaft und der Germanistik ab, während Linguistik und andere Philologien nicht vertreten sind. Der Sammelband entstand anlässlich der gleichnamigen Jahrestagung am Deutschen Literaturarchiv Marbach im November 2006, mit der das Programm des Archivs erstmals unter einem solchen Jahresthema stand, und eröffnet zugleich eine neue Reihe ›Marbacher Schriften‹.

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Die bunte Zusammenstellung von elf Beiträgen sehr unterschiedlicher Länge, Reichweite, Disziplin und Methode widmet sich verschiedenen Modellen des schillernden Begriffs ›Deixis‹. Dabei changiert die Zuordnung von Zeiger und Gezeigtem zwischen Text, Bild und Gegenstand. ›Sagen‹ erscheint mal als das Andere des Zeigens, mal als seine Spielart; und immer wieder wird die Differenz zwischen Index und Indikat zugleich zur Mediengrenze, wobei allerdings ebenso Bilder auf Texte wie Texte auf Bilder, Prozesse auf Objekte wie Objekte auf Prozesse verweisen können. In ihrer Gesamtheit erforschen diese Perspektiven damit Deixis als eine komplexe und keineswegs konsensuale Struktur, der das primäre Interesse gilt und deren aufeinander bezogene Knotenpunkte unterschiedlich und sekundär gefüllt werden.

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Bilder zeigen

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Der Band beginnt mit einem Paukenschlag: Hubert Locher stellt überaus ausführliche und weit reichende Überlegungen zur Geschichte der visuellen und verbalen Deixis im Museum an. Locher versteht Zeigen hier u.a. als Kommentieren und Erläutern des Gezeigten und versieht Deixis mit einer logischen Abfolge, die vom Gezeigten zum Verweis führt: Diese Form der Deixis fügt nicht das Objekt dem Zeigen, sondern dem Objekt etwas Weiteres hinzu, etwa seine Geschichte oder seine (Be)deutung. Zeigend treten dabei vor allem kommentierende Texte und Kontexte auf, während das Gezeigte als »Monstranzen« (S. 13) vor allem visuelle Qualitäten hat, wobei jeweils auch eine Konkurrenz zwischen Schrift und Bild um Aufmerksamkeit und Deutungshoheit beobachtet wird. Locher interessiert sich für eine »historische Grammatik des Ausstellens« und »eine Rhetorik des musealen Zeigens« (S. 12), deren Geschichte erst noch zu schreiben wäre. Erste Grundüberlegungen und ein historischer Überblick über wesentliche Stationen der Neuzeit werden jedoch bereits in diesem Beitrag umfangreich und einleuchtend präsentiert und ergeben einen Einblick in das riesige Erkenntnispotential der vorgestellten Frage.

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Von den Tableaus des 15. und 16. Jahrhunderts, die mit Albertis Begriff von der historia des Gemäldes »in besonderer Weise auf verbale Reaktionen hin angelegt« sind (S. 16) und damit auf die Rezeption der antiken Ekphrasisliteratur verweisen, über die dort schon thematisierte Reflektion des zeigenden und erläuternden Gesprächs vor dem Exponat, geht die skizzierte Linie zu Sammlungen von studioli mit eigenem subjektiven Aussageinteresse über Kunstsammlungen des 16. Jahrhunderts und die von ihnen hervorgebrachte Kunstliteratur und schließlich zur Ausstellung als Dienstleistung und als Vermittlung statt als Demonstration von Reichtum und Bildung im 18. Jahrhundert über. Die genaue, wenn auch knappe Beschreibung der jeweiligen Ordnungsprinzipien macht die Galeriebeschreibung als Schilderung eines Erlebnisses in ihrer Wichtigkeit für die Aneignungsdiskurse des frühen Bürgertums durchsichtig. Sowohl die kunsthistorischen Ausstellungen als auch die im 20. Jahrhundert propagierte Konzentration auf das Exponat ›an sich‹ sind damit nur spezifische neue Bedeutungen das Ausgestellten, die statt zur Fügung in offen subjektive Diskurse in den »Dienst jenes vorgegebenen Texts der Weltgeschichte der Kunst« (S. 33) oder in den Diskurs des Urhebers einer Ausstellung aufgenommen werden. Wie Ekphrasis und Kunstliteratur begleitet sie als dritte museale Schriftgattung der Katalog, dessen Gattungsgeschichte nach Locher weiterhin Desiderat ist.

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Wie Bilder ihrerseits zeigen, dem geht Steffen Siegel mit einer Analyse der ›Ostentatio‹ als »Prozess[] intentionalen Selbstverweises« (S. 42) in einer spezifischen Hinsicht nach: In Auseinandersetzung mit epistemologischen Theorien der Relation Betrachter – Bild – Gegenstand zwischen Wolfgang Kemp, Georges Didi-Huberman und James Elkins entwickelt er diesen Begriff von »rekursive[n] Akte[n] des Zeigens [...] als Formen visueller Selbstentfaltung« (ebd.) an konzentrierten Bildanalysen der Namengebenden ostentatio vulnerum, der Ausstellung der Wunden Christi, sowie anatomischer Körper- und porträtierender Personenbilder. Wo die Selbstfunktionalisierung des auf sich zeigenden Gegenstands in die der Person übergeht, werde

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ein Moment körperlicher Präsenz gewonnen, das [...] allein mit den Mitteln des Bildes imaginiert werden kann und damit einer medialen Inszenierung vorbehalten bleibt (S. 60).
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Was zeigt und wie zeigt man Literatur?

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Bleiben die damit angesprochenen Fragen für die philosophischen und reflektierenden Beiträge des Bandes von unmittelbarem Interesse, setzen die drei kürzeren Beiträge zum Zeigen der Literatur jeweils anders ein. Heike Gfrereis thematisiert als Leiterin des Museums im Marbacher Literaturarchiv nicht nur die Möglichkeit, sondern auch die Berechtigung der Ausstellung von und zu Literatur, die dort längst – erfolgreiche – Praxis ist. Nicht nur die Papiere und den Gegenstand der Literatur, vielleicht sogar sie selbst könne man ausstellen, und sei es nur oder auch, »damit man sieht, dass man sie nicht auf einen Blick, mit einem Wort, einem Sinn verstehen kann« (S. 88). Christian Baudisch verfolgt einen stark biographistischen Ansatz, wenn er Stefan Georges Gestus und Selbstinszenierung in verschiedenen Spuren nachzeichnet und deutlich Stellung bezieht, indem er eine von Breuers einflussreicher Analyse und manchen Kommentatoren bestrittene »Ironie« konstatiert, die übrigens in jeder Form »selbst [...] grundsätzlich etwas Deiktisches« habe (S. 92).

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Uwe Wirth schließlich untersucht mit Charles Sanders Peirce’ semiotischen Begriffen den Wechsel zwischen ›genuiner‹ und ›degenerierter Indexikalität‹ in Herausgeberschaften: Ist die Funktion des Herausgebers über ein zweites Netz von Indizes zu erklären, die ein erstes Netz von Spuren, den Text, begleiten, so lässt sich die Herausgeberfiktion am Don Quijote innovativ auf den Punkt bringen, indem genuine, also auf Kausalität gründende, von degenerierten, also intentional begründeten Zeigern unterschieden werden: Die cervantessche Ironie besteht dann gerade in der gleichzeitigen Präsentation eines inszenierten genuinen Index als eines absichtsvoll degenerierten Index – und wird damit zum genuinen Index des mit der Herausgeberfiktion in Gang gesetzten Rahmungsprozesses. Ein Modell, das sich dann auch an Wielands Don Sylvia und Hoffmanns Murr bewährt.

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Philosophien des Zeigens

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In einer kurzen Argumentation, die schwierige Zusammenhänge in beeindruckender Klarheit darstellt, vertritt Dorothee Kimmich die These, dass die Erfahrung, wonach in Literatur oder im Film Dinge ›sich selbst‹ zeigen, einer epoché (nach Carlo Ginzburg) der Erkenntnis vor dem Ding entspreche, und als ästhetischer Kommentar zur phänomenologischen ›Rückkehr zu den Sachen‹ gelesen werden könne. Symmetrisch dazu inszeniert die Literatur den innehaltenden Beobachter wiederum als dinglich, etwa wenn Prousts Marcel sich als ›Photoplatte‹ versteht.

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Überaus anspruchsvoll und dicht gestaltet sich die Lektüre von Werner Oechslins Beitrag, der laut einer einleitenden Fußnote bereits im Vortrag teilweise »eher verwirrt« hat (S. 62). Das mag daran liegen, dass mindestens zwei verschiedene und differenziert dargestellte Differenzen in einer gemeinsamen Lösung aufgehen: Das Problem der vermeintlich »automatischen Kombination des Optischen und Haptischen« (S. 70), also der kognitiven Verbindung von Geschautem und Begriffenem, wird als Produkt einer »Bildung der Anschauung« (S. 76, nach Pestalozzi und Herbart) verstanden. Die Vermittlung zwischen diesen beiden Komplementären gelingt demnach aber logisch zugleich mit der zwischen sinnlichem Handeln und allgemeiner Erkenntnis (mit Kant und vor allem Hegel), da letztere die verschiedenen sinnlichen Dimensionen betrifft. Der zunächst rätselhafte Zusammenhang zwischen Griff und Blick wird als zugreifbares und anschauliches Mittel der Erkenntnis eines dabei erst gefügten Ganzen schließlich Antwort auf die damit aufgeworfenen weiterreichenden Fragen.

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Bequemes Zeigen?

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Auge und Hand verbindet auch Horst Wenzel, indem er Sagen und Zeigen konsequent auf die Unterscheidung Text und Bild bezieht, diese damit hinterfragt und sich gegen »die systematische Abgrenzung von Text- und Bildwissenschaften« wendet (S. 110). Im Anschluss an Bühlers Vorstellung von der Imagination, die vermitteltes bzw. abwesendes Zeigen möglich macht, weist er dieses »rhetorisch[e]« Zeigen (S. 115) als hoch bewusst gesetztes Motiv in mittelalterlichen Handschriften und ihren Bildern, in portalartigen Initialen, in marginalen Zeighänden in Manuskripten und ebenso in frühen gedruckten Flugblättern und schließlich im digitalen Medium differenziert nach.

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Obwohl Lessings Name nirgends fällt, erhebt spätestens in der Gegenüberstellung dieses Plädoyers für eine Übersetzbarkeit von Bild und Text mit Gottfried Boehms Insistieren auf einem nur für Bilder reservierten besonderen Bereich des Zeigens die Laokoon-Diskussion ihr Haupt. In Bildern, so Boehms genau durchgeführte und reiche Argumentation, wird etwas und wird sich gezeigt. Erklärbar sei dies durch die ›Hintergründigkeit‹ des Zeigens, die sich im Kontrast der Geste zum Bewegungsstrom des Körpers aufdecken lässt: Letzterer ist eine Potentialität, die erst in der Geste, in ihr aber über ihre Spezifik hinaus beobachtbar wird. Dieser Verweis sei jedoch von dem der Sprache grundsätzlich verschieden, die Hintergründigkeit sei »einer sprachlichen Prädizierung nicht, dem Zeigen aber sehr wohl zugänglich« (S. 151). Das liege an der Simultaneität der Realität des Hintergrunds und des gezeigten Zeigens, in der »Anschauung« werde dieses »verkörpert« (S. 152). Zum Körper im Raum, der sich vom sprachlichen Zeichen in der weiterlaufenden Zeit abhebt, woraus Lessing die unterschiedliche ›Bequemlichkeit‹ sprachlicher und bildender Zeichen für verschiedene Inhalte folgerte, ist es da nur noch ein kurzer Schritt. Und so ist es für die anschließende Bildanalyse entscheidend, dass

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[d]er offen stehende Mund, der fragende Blick, die wüsten
Haarsträhnen [...] auf der Spitze eines Augenblicks [balancieren],
der sich des Bildes simultan bemächtigt, (S. 153)
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wie auch Lessings Raumbilder auf die Prägnanz der sorgsam ausgewählten Augenblicke bauen.

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Dies setzt voraus, dass das ›etwas-zeigen‹, das aus dem ›sich-zeigen‹ hervortritt, allein auf die Substanz des Zeigers bezogen sein kann; es ist dann kein Drittes mehr, auf das der Körper mit einer Geste verweist. Die von Boehm als Beispiel ausgewählte Vecchia von Giorgione erfüllt dies allein schon, da die Alte auf sich selbst zeigt. Ähnlich beginnt Marcel Leppers kritische Auseinandersetzung mit Bühlers imaginierter Orientierung im vermittelten Zeigen genau dann, »[w]enn der Finger ins Leere zeigt« (S. 170) und damit kein Gezeigtes jenseits des Zeigens dessen Probleme löst. In einer stringenten Opposition zwischen realistischer Zeichentheorie, die gelungenes Verweisen annimmt, und nominalistischer Rhetorik soll die geisteswissenschaftliche Überlegenheit der letzteren Position gezeigt werden. Werde die szientifische Tendenz der Zeichentheorie durch die Fortschritte der Experimentalwissenschaft rasch obsolet, drohe die Rhetorik demgegenüber allerdings in eine Metaphysik der Sprache zurückzufallen.

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Gerade den Bezug auf jenen anderen Gegenstand, von dem beim Zeigen Abstand genommen wird, nimmt der abschließende Beitrag von Günter Figal in den Blick. Wenn sich auch für ihn das »Zeigen [...] allein darin« erfüllt, »dass etwas sich zeigt« (S. 198), so scheint er sich damit nur oberflächlich auf denselben Sachverhalt zu beziehen wie vor ihm Boehm und Lepper: Tatsächlich sind es zwei unterschiedliche Differenzen der Deixis, die jeweils besprochen werden, und die zusammengenommen eher für eine triadische Struktur der Deixis sprechen würden, in der ein Zeigen sich zwar vor dem Hintergrund des zeigenden Körpers selbst aufzeigt, dabei aber auf noch etwas, ein noch anderes, hinzeigt. Nicht nur dies wird in Figals phänomenologisch orientierter Konstruktion der Struktur des Zeigens deutlich, sondern auch die weitere Differenz zwischen dem Zeigen, das sich auf den Abstand zum Gegenstand verlässt, und dem Greifen, das diesen Abstand voraussetzt, aber nicht aufrechterhalten will: »Weil es so ist, kommt es beim Zeigen auch nicht auf die handgreifliche Realität von etwas an.« (S. 197) Damit wird das sich Zeigende fast zum Synonym für das ›Phänomen‹ bei Husserl und dann vor allem bei Heidegger, und Figal entlockt den unterschiedlichen Schwerpunkten zwischen dem Zeige- und Heideggers Licht- und Erscheinensvokabular sehr weitgehende phänomenologische Einsichten.

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Fazit

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Zahlreiche schön wiedergegebene Illustrationen unterstützen die verschiedenen Argumentationen; nur dass ausgerechnet die Photographien von Rudolf Augsteins Heidegger-Interview nicht wiedergegeben werden konnten, an denen Gottfried Boehm gerade eine Kraft des Zeigens beweisen will, die sprachlich nicht kompensiert werden könne, ist schade.

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Die von den Herausgebern schon im kurzen Vorwort herausgehobene Mehrstelligkeit der Deixis, in der ein Zeiger etwas (anderes) und zugleich sich als Zeiger zeigt, erscheint in allen Beiträgen komplexer, als dass sie sich in den geläufigen Denkmodellen der Selbstreflexion oder der Herausstellung einer Zeichenmaterialität bewältigen ließe. Das Problem der Deixis ist damit angeraut und wird erfolgreich anstößig gemacht. Der Band versammelt aber nicht nur etliche zentrale und anschlussfähige Beiträge zur Diskussion um Wesen, Funktion und Struktur der Deixis in ihren unterschiedlichen Bedeutungen und Erscheinungsformen; es gelingt ihm vor allem, die komplexe und vielfältige Diskussion zwischen den Standpunkten und Konzeptionen durch viele gegenseitige Wiederaufnahmen und Absetzungen deutlich und spannend nachvollziehbar zu machen. Die unbedingt fortzusetzende Debatte betrifft dabei über den verschieden interpretierbaren Term sowie seinen wandlungsfähigen und vielleicht nicht einheitlichen Begriff hinaus zahlreiche assoziierte, drängende und weit reichende Fragen der Medienwissenschaften.