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Aus den Arbeitszimmern von Realismus
und Moderne

Lothar Schneider untersucht Programmtexte und Literaturkritiken aus der zweiten Hälfte des
19. Jahrhunderts

  • Lothar L. Schneider: Realistische Literaturpolitik und naturalistische Kritik. Über die Situierung der Literatur in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und die Vorgeschichte der Moderne. (Studien zur deutschen Literatur 178) Tübingen: Max Niemeyer 2005. VI, 335 S. Kartoniert. EUR (D) 64,00.
    ISBN: 3-484-18178-8.
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Überblick: Das Scheitern des realistischen Literaturprogramms und der lange Abschied
vom Idealismus

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»Das poetische ›Ereignis‹ der Moderne ist«, so der Klappentext des Bandes, »tatsächlich Resultat eines langwierigen Prozesses kritischer und poetologischer Auseinandersetzungen, der die literarische Landschaft des deutschsprachigen Raumes von der Jahrhundertmitte bis zum Ausgang des 19. Jahrhunderts prägte.« Schneiders Studie nimmt die literatur- und kunstprogrammatischen Debatten in den Blick, die im Bereich zwischen Feuilleton und akademischer Literaturwissenschaft geführt werden und mit ihnen die vielfältigen Bezugnahmen, Abgrenzungen, Umwertungen und zuweilen nur subtilen Verschiebungen in ihren Argumentationshaushalten. Nachgezeichnet wird so eine komplexe und eben nicht gerad- oder einlinig verlaufende »Vorgeschichte der Moderne« (so der Untertitel), die von einem noch liberalistisch geprägten Funktionsverständnis von Literatur zur »Autotelie des ästhetischen Prozesses« (S. 285) führt. Ausgangspunkt der Beobachtungen sind Konzepte eines idealistischen Realismus, die sich noch immer an Theoremen und Denkfiguren idealistischer Philosophie und Ästhetik orientieren und mit ›Totalität‹, ›Wahrheit‹ und ›ästhetischer Erziehung‹ universal ausgerichtete Ansprüche an Werk, Rezeption und Kritik stellen.

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In drei Hauptkapiteln wird nachgezeichnet, wie – nach Schneider in einer Geschichte des Scheiterns – diese Ansprüche zurückgefahren, modifiziert, schließlich aufgegeben und ausgetauscht werden. Ein erster Teil (zu Texten von Haym, Freytag, Spielhagen) modelliert zunächst eben dieses liberale Konzept realistischer Literaturpolitik im Rückgriff auf zentrale Theoreme Hegelscher und Fichtescher Philosophie, mit denen Kunst und Literatur sowohl ein angemessener Realitätsbezug als auch die Bildung des Subjekts und gesellschaftskonstituierende Relevanz zugemutet wird. Der zweite Teil beschreibt mit Bezug vor allem auf Theater- und Literaturkritiken von Karl Frenzel, Paul Lindau und Wilhelm Scherer die »selbstbewusste Urbanität der Gründerzeitkritik« (Klappentext), die auf Umstrukturierungen des Literatursystems (als zunehmende Ausdifferenzierung, Vermassung und Ökonomisierung) mit einem grundlegenden Wandel des Kritikverständnisses reagiert und sich einerseits stärker publikumsorientiert ausrichtet, sich andererseits verwissenschaftlicht und dabei insgesamt andere Aufmerksamkeiten auf die ästhetischen Phänomene selbst entwickelt. Der dritte Teil schließlich kümmert sich um ein verzweigtes naturalistisches Diskussionsfeld (Gebrüder Hart, Vereinigung »Durch!«, Leo Berg, Hermann Conradi, Eugen Wolff, Einzugsbereich der Zeitschriften Die Gesellschaft und Freie Bühne), das auf beide Modelle reagiert und eine Erneuerung der idealrealistischen Ansprüche an die Literatur jenseits der inzwischen desavouierten idealistischen Implikationen und unter modifizierten systematischen Voraussetzungen versucht.

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Objektwahl und Untersuchungsperspektive

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Die Verdienste von Schneiders Studie, das sei gleich an dieser Stelle festgehalten, liegen vor allem im gewählten Objektbereich und in der Untersuchungsperspektive: Sie konzentriert sich fast durchweg auf Texte und Autoren, die von der Forschung bislang kaum oder jedenfalls nicht in dieser historisch-systematischen Weise zur Kenntnis genommen wurden. Damit schließt sie ohne Zweifel eine Forschungslücke. Von einer breiten Quellenbasis aus werden zudem die Diskussionszusammenhänge mit einer gewissermaßen mikroskopischen, auch subtile Argumentationsdetails berücksichtigenden Aufmerksamkeit verfolgt, die sich auf den »zähen Prozess kleiner Schritte« (S. 1) richtet, ohne die großen Linien des skizzierten Wandlungsprozesses aus den Augen zu verlieren. Das führt zu einer wünschenswerten historischen Präzision. Schneider kann zeigen, dass die ›Moderne‹ keine homogene Formation ist, sondern in die »Synchronie heterogener Strömungen« (S. 8) eingebettet bleibt und von überkommenem »terminologischen und begrifflichen Treibgut« (S. 215) zehrt, zu dem auch die ausgesprochen langlebigen Ansprüche und konzeptionellen Versatzstücke idealrealistischer Provenienz zählen.

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Schneider kann von hier aus plausible Korrekturen bisheriger Sichtweisen vornehmen, vor allem an der Fehleinschätzung bislang vernachlässigter Autoren, deren Schreibweisen und Literaturmodelle oft mit Bezug auf kanonische Autoren wie Keller oder Fontane abgewertet worden sind (exemplarisch im Falle Otto Brahm / Hans Mayer, Fußnote 295, S. 268). Solche normativen Einschätzungen erweisen sich mit der Positionierung dieser Texte innerhalb historischer Diskussionszusammenhänge nunmehr sehr deutlich als inadäquat. Korrigiert wird aber auch die übliche Hochschätzung von Schlüsseltexten der beginnenden ›Moderne‹: Gerade an den notorischen »Durch!« -Thesen wird gezeigt, dass mit dem Neologismus ›Moderne‹ an dieser Stelle noch nicht viel gewonnen ist, sondern dass hier noch immer partiell auf (idealrealistische) Theoreme zurückgegriffen wird, die an anderer Stelle bereits ad acta gelegt worden waren und dass zur konsequenten Modernisierung der Kunst noch einige konzeptionelle Schritte mehr zu gehen sind.

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Details der Argumentation

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Werkkonzepte

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Zu den Details: Der beschriebene Wandlungsprozess richtet sich auf drei eng miteinander verknüpfte, in den jeweiligen Relationierungen aber gleichfalls variable Aspekte literarischer Programmatik und Kritik: die (gehaltsästhetischen) Bestimmungen zur Organisation des Kunstwerks und zu dessen Position im Verhältnis zu ›Realität‹, die (wirkungsästhetischen) Bestimmungen seiner Funktionen für Subjekt und Gesellschaft und schließlich die Konzeptionen und Schreibweisen der Kritik selbst.

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Dass der programmatische Realismus sich von den metaphysischen, immerhin universale Relevanz versprechenden Legitimationen der Kunst, wie sie Schneider aus Hegel und Fichte extrahiert, nur schwer lösen kann und dabei in immer schärfere Konflikte mit den eigenen Forderungen nach Gegenwartsbezug oder Realitätshaltigkeit gerät, ist keine neue Erkenntnis. Schneider geht hier gleichwohl noch einmal ins (weniger bekannte) Detail: An Hayms »philosophische[m] Realismus« kann er zeigen, wie eben diese Realitätsorientierung Schritt für Schritt ein ›Außerhalb‹ von Hegels System zu denken erzwingt, wie das Erfassungsvokabular aber zugleich in »Valenz und Struktur [...] einer prinzipiell vorgängigen idealistischen Reflexionsphilosophie unterworfen« (S. 36) bleibt. Ausweich- und Lösungsmöglichkeiten liegen, so Schneider in den Kapiteln zu Freytag und Spielhagen, vor allem in der universalisierenden Befrachtung der Form des Romans, der – auch das eine Hegelsche Altlast – als die der Gegenwart epistemisch angemessene (vgl. S. 17) Gattung unangezweifelt bleibt. Bei allen Differenzen im Detail ist es bei Freytag und Spielhagen eine »souveräne«, aufs »Ganze« gerichtete Erzählhaltung, die in der »serenitas« des Überblicks (S. 67 u. S. 105) ordnungsstiftende Funktionen übernimmt und alte idealistische Werte weiterhin in der Debatte hält. Unter der Hand bleibt dieses gleichwohl neue Interesse an formalen Erzähllogiken allerdings und auch in praxi an inhaltliche Restriktionen gebunden, was Freytag den Vorwurf der Unzeitgemäßheit (so Brahm zum letzten Band der Ahnen 1891, S. 77) bzw. Unwissenschaftlichkeit (so Scherer, S. 57) einbringt.

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Mit einer bestimmten Form gründerzeitlicher Theater- und Literaturkritik lockern sich diese wechselseitigen Abhängigkeiten von Form und Inhalt. Schneider zeigt, wie sich damit auch das Gefüge verändert, in das ein Werk eingebettet wird, und wie neue formale und inhaltliche Bestimmungen möglich werden . Für Scherer etwa ist die – nach wie vor im Blick behaltene – Entsprechung Kunst / Realität nur über die »Sprengung der Geschlossenheit« (S. 109) des Werkes möglich. Das, was noch Spielhagen an T. S. Eliots Romanen extrem verunsicherte und ihn zu brachial artikulierter Abgrenzung zwang – die Fülle der Details, die fehlende Integration ins »Ganze«, einige der gewählten Realitätsbereiche – wird nun von Scherer als conditio sine qua non guter Literatur angesehen (Kapitel 2.5: »Wendepunkt: Die Eliot-Rezeption und Spielhagens Kritiker«). Legitimation erhalten solche Formen und solche Inhalte im Rahmen eines emphatischen Wahrheitsanspruchs – mit Bezug auf eine Lindausche Böcklin-Besprechung spricht Schneider treffend von der »Superkategorie Wahrheit« (S. 175). Scherer stützt sich dabei nicht mehr auf einen teleologisch-idealistischen, sondern auf einen »›naturalisierte[n]‹, quasi naturwissenschaftliche[n]« (S. 113) Begriff von Natur, Basis für einen »stiltypologisch naturalistisch« (S. 116) fundierten Realismus, der Zola in der Präzision der Darstellung – aber eben auch nicht weiter – gerne folgt. Ähnliches beobachtet Schneider an Lindau, der zudem und vor allem mit Bezug auf das Theater ein am Handwerk orientiertes Verständnis von Form entwickelt, das auf eine in sich konsistente Machart setzt, die prinzipiell an jedem Inhalt der Beurteilung wert ist (v. a. Kapitel 3.2: »Paul Lindau: Künstler, Kritiker und Kollegen«).

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Eine solch konsequente Freisetzung des Inhalts nimmt die naturalistische Programmatik in verschiedenen Denkbewegungen und auf verschiedenen Ebenen wieder zurück. So finden sich Stoffrestriktionen bei den Gebrüdern Hart in der Revision des der Kritik für wert befundenen Repertoires, in der »Verbannung der Salonkomödie und Bevorzugung ›nationaler Dramatik‹« (S. 202). Dabei wollen sie Gegenwart und Wissenschaft nicht nur als Darstellungsobjekt oder Formmodell in die Kunst integriert wissen, sondern mit beidem zugleich und in einer Art religiöser Einheitserfahrung die Differenzen der prosaischen Gegenwart ästhetisch aufheben. Diese »Interferenz formaler und inhaltlicher Momente« ist hier allerdings nicht mehr systemintern hergeleitet, sondern nur noch »postulatorisch« (S. 128) vorausgesetzt. Einzig die Freie Bühne scheint hier eine nüchternere, weil pragmatische Begründung der Angemessenheit naturalistischer Darstellungsverfahren an die eigene Gegenwart zu entwickeln (S. 267 ff.).

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Wirkungskonzepte

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Wie die Konzipierungen der Werkstruktur, so werden auch die Modelle ästhetischer Subjektivität (in Produktion und Rezeption) einer Entidealisierung unterworfen. Dabei verabschiedet man sich offenbar nur ungern und sehr zögerlich von den gemeinschaftsstiftenden Potenzen der Kunst, wie sie Schneider aus Hegels Gesellschafts- und Fichtes Nationenmodell abstrahiert. Denn schließlich fundiert genau dieser Schulterschluss zwischen Kunst und idealer Bürgergesellschaft und / oder dem »naturhaft-urgründige[n] Lebensprinzip der Nation« (S. 20) »jenes Selbst- und Sendungsbewusstsein, das für die Kulturträger des 19. Jahrhunderts charakteristisch bleiben wird« (S. 18). So nimmt Spielhagen in seiner Romantheorie zwar, wie von Schneider minutiös nachgezeichnet wird, subtile Umstrukturierungen in der Konzeption der Einbildungskraft vor: Gedächtnis und ›naturwissenschaftliche‹ Beobachtungsfähigkeiten werden zu Garanten eines angemesseneren, nicht mehr nur spekulativ eingebundenen Gegenwartsbezugs, gleichwohl bildet das ›individuelle Allgemeine‹, die paradoxe Versöhnungsformel idealistischer Ästhetik, weiterhin den konzeptionellen Rahmen. Das Subjekt des Werkes ist denn hier auch kein privat-empirisches, sondern noch immer ein allgemein verbindliches »Bild der Menschheit im emphatischen Sinne« (S. 95), das dann ebensolche Rezipienten generiert.

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Die Gründerzeitkritik lockert und modifiziert auch diesen Zusammenschluss, wohl auch motiviert durch das jetzt bevorzugte Beobachtungsobjekt, das Theater. Karl Frenzel akzeptiert etwa in einer Rezension Lindauscher Dramatik das Unterhaltungsbedürfnis des Publikums als legitimes Urteilskriterium mit dem Verweis auf inzwischen vollzogene Funktionsdifferenzierungen: Das Theater muss nicht mehr für liberale Projekte eingesetzt werden, wo es Pressefreiheit und eine parlamentarische Verfassung gibt (S. 140 ff.). Gleichwohl bleibt die Rezeption auch hier – und ganz ähnlich dann bei Lindau – überindividuell modelliert. Wenn auch nicht mehr an der idealistischen Sittlichkeit einer praktischen Vernunft orientiert, behält der ›Geschmack‹ seine soziale Dimension. Die völlige Trennung von Kunst und Gemeinschaftsethik ist hier also noch nicht vollzogen und das ästhetische Urteil weiterhin »vom kunstfremden Aspekt einer konventionalistischen Moral« (S. 173) bedingt. Aber die Bindung beider Bereiche wird »nicht mehr als konzeptionelle Einheit, sondern als soziales Decorum« (S. 172) begriffen. Genau im Nachvollzug solcher Doppelbewegungen – Ablösung hier, Festhalten dort – weist Schneider Lindaus ambivalente Zwischenposition nach.

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Gerät die moralische Beanspruchung der Kunst bei Autoren wie Brahm bereits in den Bereich der Lächerlichkeit und Heuchelei (S. 150), so nutzt man im naturalistischen Diskussionsfeld unter anderem Theoreme Nietzsches (Kap. 43: »Naturalismus und Nietzsche«), um die »Depotenzierung des Subjekts in der Milieutheorie mit dem Aristokratismus einer tragischen Weltanschauung zu überbieten« (S. 229). Auch hier bedürfen Produzenten und Rezipienten von Kunst einer Distanzierung vom Alltäglichen und Privat-Konkreten – die nun freilich nicht mehr im idealistischen, sondern im vitalistisch konditionierten Subjekt gesucht wird, wo als allgemein verbindliche Kraft das ›Leben‹ wartet.

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Kritik(er)konzepte

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Schneider zeichnet auch die argumentativen Abhängigkeiten nach, die zwischen den Konzeptionen von Werk und Rezeption und den Konzeptionen der Kunstkritik bestehen. Dabei erweisen sich, wie vor allem die Kapitel zur Gründerzeitkritik (Kap. 3.1: »Die Emanzipation des Publikums« und Kap. 3.2: »Paul Lindau: Künstler, Kritiker und Kollegen«) zeigen, die ästhetischen Debatten sehr markant nicht nur als Debatten ›um der Sache willen‹, sondern zugleich als Positionierungskämpfe um Definitionsmacht und Herrschaftsansprüche im literarischen Feld. Orientiert sich der Realismus noch deutlich an einem »zentralen Theorem idealistischer Kritik: [der] Antizipation des allgemeinen sittlichen Subjekts im Urteil des kompetenten, gebildeten Kritikers« (S. 153), so lehnen Kritiker vom Typus Lindau diese pädagogische Funktionalisierung der mehr und mehr Kritik ab.

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Das ist Konsequenz der oben skizzierten pragmatisierten Kunstauffassung, die Publikumsbedürfnisse, Kontextbedingungen und Geschmackswandel in ihre Kritiken einrechnet. Lindau verzichtet deshalb »auf den Anspruch, im Namen eines Kollektivs reden zu wollen« (S. 153) und sieht sich einem mündigen Publikum gegenüber, das er über Interessantes und Neues informiert. Das führt zu einer Funktionsverschiebung: Kritik wird zum »Werbeeffekt«, bei dem nicht mehr die Qualität eines Werkes, sondern allein dessen »Nennung oder Verschweigen« (S. 186) relevant wird. Komplementiert wird diese Versachlichung der Kritikerrolle von Verwissenschaftlichungstendenzen, wie sie Schneider an Wilhelm Scherer nachzeichnet. Auch hier wird scharfe Kritik an einer Vermischung ethischer und ästhetischer Argumente geübt, die kritische Arbeit auf das Werk jenseits von Autor und gesellschaftlichem Hintergrund konzentriert und eine Offenlegung des technischen Instrumentariums gefordert, so dass das Publikum die Kritikerurteile nachvollziehen und eigenständig einschätzen kann (S. 109 ff.).

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Im naturalistischen Diskussionszusammenhang zeigt nur das Umfeld der Freien Bühne eine ähnliche, gleichwohl verhältnismäßig gedämpfte Reduktion pädagogischer Ansprüche: Man versteht sich hier als »spezialisierte Institution interessierter Praktiker, Fachleute und Laien, denen es nicht um die Popularisierung und Nationalpädagogik geht, sondern um die Hebung des ästhetischen Niveaus« (S. 271). Ästhetische Erziehung ist gewissermaßen pragmatischer gedacht: Eine »behutsam leitende[r] Kritik« behält die »anarchische[n] Lust« des Publikums im Auge, sucht sie aber zu transferieren. Dominant ist aber die Reanimation der alten Praeceptorrolle, die das Publikum vor allem vor der »Korruption ästhetischer durch ökonomische Interessen retten will« (S. 151). Bei allen Differenzen im Einzelnen werden Marktbedingungen und Publikumsgeschmack als Faktoren der Kunstkritik ebenso energisch abgelehnt wie der Anspruch auf »Meinungsführerschaft« (S. 207) immer wieder erhoben wird – ob nun noch im Rahmen eines paternalistischen Bildungskonzeptes (wie bei den Gebrüdern Hart) oder im Rahmen eines gesteigerten Avantgardebewusstseins (zum Teil in den »Durch!« -Thesen und bei Conrad und Berg).

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Fazit

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Schneiders detaillierte Blicke auf Texte und Autoren, die in der Forschung bisher kaum oder nur am Rande eine Rolle gespielt haben, ist eine Art Kanonrevision. Denn die ausgewählten Texte werden nicht primär als Komplemente präsentiert, sondern eher als Korrekturen, die nun eine größere, bisher nicht angestrebte oder erreichte historische Nähe zum Objektbereich garantieren (vgl. dazu den Umgang mit der Forschung zur Gründerzeitkritik, S. 131–134). Nun steht auch ein solches, im Willen zu historischer Genauigkeit fundiertes Misstrauen gegenüber etablierten Meistererzählungen gleichfalls vor dem Problem der Auswahl: Ein Blick in die Jahresinhaltsverzeichnisse allein der von Schneider berücksichtigten Zeitschriften (die ja selbst wiederum nur eine Auswahl darstellen) genügt, um zu sehen, dass auch er rigide selektiert hat. Ein solcher Vorwurf ist freilich trivial, gleichwohl lassen sich mit ihm doch größere Vorsicht und methodische Präzision bei der Behauptung von Repräsentativität für die jeweils gewählten Untersuchungsgegenstände anmahnen.

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Denn Schneider legitimiert seine Text- und Autorenauswahl immer wieder mit diesem Anspruch: Haym ist ihm »exemplarisch und modellgebend für idealistisches Realismusverständnis« (S. 23) und »ein typisches Produkt, das die Normallage philosophischer Befindlichkeit der Zeit markiert« (S. 24), Spielhagen ist »Exponent des realistischen Denkstils und der realistischen Poetik« und »Bindglied zwischen Realismus und Naturalismus« (S. 79), Lindau ist eine »Figur der Gründerzeit« (S. 137) oder Scherer steht für den »avancierten Stand der Gründerzeitkritik« (S. 120). Für die Plausibilisierung dieser Repräsentativität greift Schneider auf diverse Begründungsmuster zurück, die nicht systematisch für alle Texte, sondern von Fall zu Fall auf unterschiedliche Weise zum Einsatz kommen: Informationen zum Literaturbetrieb, ›typische‹ biographische Details, explizite Bezugnahmen durch Zeitgenossen oder Nachfolger, ›Vorläufer‹- oder ›Schlüsselstellung‹ aus (Schneiders) nachträglicher Konzeption des Debattenverlaufs (vgl. exemplarisch die ausführliche Begründung der Wahl bei Haym, S. 23–27). Und diese Heterogenität der Begründungsmuster ist eine methodische Schwäche der Arbeit: Die Positionierung der analysierten Debatten im Literatursystem – notwendige Bedingung für die Behauptung ihrer Relevanz – erfolgt nicht stringent. Die bereits in der Einleitung offen gelegte Selbstbeschränkung auf den Bereich des »liberalen bürgerlichen Lagers« jenseits von populären Zeitschriften und »innerakademischen Kontroversen« (S. 10) genügt dafür jedenfalls nicht.

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Das Problem dürfte mit den von Schneider bevorzugten Beobachtungseinheiten verknüpft sein: Akteure des von ihm verfolgten Wandlungsprozesses sind die Autoren und ihre Texte. Schneider bleibt dabei beileibe nicht blind für den Literaturbetrieb, und er schreibt auch keine reine Debattengeschichte. Aber die entsprechenden Daten werden hauptsächlich über die Biographien der verhandelten Autoren eingespeist, und die Darstellung der Diskussionszusammenhänge orientiert sich weitgehend am Modell personal zurechenbarer Einflüsse und Bezugnahmen – auch dort, wo solche Beziehungen von den Autoren nicht explizit hergestellt werden. Schon das erste Kapitel zum Realismus benennt mit Hegel und Fichte – so »einleuchtend[er] wie selektiv[er]« 1 – besonders deutlich solche direkten Referenzen für die realistische Programmatik, und nicht zuletzt gruppiert sich mehr als die Hälfte der Kapitelüberschriften um die Namen einzelner Kritiker.

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Diese eher geistesgeschichtliche Orientierung zeigt sich aber auch und etwas verdeckter in der Praxis der Zitation: Eine ganze Reihe von Beiträgen wird nicht nach den Erstdrucken, sondern aus späteren Werk- oder Sammelausgaben belegt, in manchen Fällen interessiert der erste Erscheinungsort, in manchen Fällen nicht; die (medienspezifische) Differenz zwischen Buch- und Zeitschriftenpublikation wird dabei nirgends kommentiert. Offenbar spielt das mediale Umfeld der Debatten für Schneider bis auf wenige Ausnahmen in den Kapiteln zur Gründerzeitkritik keine große Rolle, obwohl er zum Beispiel mit der Deutschen Rundschau, den Kritischen Waffengängen, und bei der Gesellschaft und der Freien Bühne sogar mit je eigenen Kapiteln einen bestimmten Zeitschriftentypus beständig im Blick hat.

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Medien übernehmen aber zentrale Funktionen in der Strukturierung von gesellschaftlichen Systemen. Die Rundschau- und Kulturzeitschriften etwa, auf die Schneider sich hier hauptsächlich stützt, besetzen innerhalb der bereits funktional ausdifferenzierten Gesellschaft des Kaiserreichs einen gleichermaßen spezialisierten Überblicksposten: In Abgrenzung von den auf (bildende) Unterhaltung ausgerichteten Familienzeitschriften und Illustrierten und in Abgrenzung vom tagesaktuellen Feuilleton setzen sie in moderater Zeitgenossenschaft auf ein elitäres, universales, entprofessionalisiertes Bildungswissen mit nationalen Ambitionen. Das lange Nachleben idealistischer Theoreme, das Schneider nachgezeichnet hat, ist also auch Teil der Ausdifferenzierung bestimmter Zeitschriftentypen. Mit der Berücksichtigung eines solchen medialen a priori wären jedenfalls Beobachtungseinheiten gewonnen, für die Relevanz- oder Exemplarizitätsbehauptungen ›betriebsnaher‹ erhoben und überprüft werden könnten – eine Option, die Schneider mit der Wahl seiner Untersuchungsgegenstände nur implizit im Blick hat.

 
 

Anmerkungen

So die das Problem genau treffende Formulierung von Claus-Michael Ort, der den möglichen Debattenhorizont mit Verweisen auf Schiller denn auch entsprechend erweitert: Claus-Michael Ort: Lothar L. Schneider: Realistische Literaturpolitik und naturalistische Kritik. In: Jahrbuch der Raabe-Gesellschaft 48 (2007), S. 159–169, hier S. 161.   zurück