Brigitte Braun

Die wechselvolle Geschichte des
polnischen Films




  • Marek Haltof: Polish National Cinema. Oxford, New York: Berghahn Books 2002. 318 S. 49 Abb. Gebunden. USD 69,95.
    ISBN: 1-57181-275-X.


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Mit seiner Überblicksdarstellung zum polnischen Film von den Anfängen bis zum Jahr 2000 möchte Marek Haltof, Assistant Professor für Film am English Department der Northern Michigan University, die Lücke schließen, die sich bisher interessierten Lesern, die nicht der polnischen Sprache mächtig sind, stellte. Kein leichtes Unterfangen, bedenkt man, dass die Anfänge des polnischen Films in eine Zeit fallen, in der Polen schon lange nicht mehr auf der Landkarte existierte, dass zwei Weltkriege, Emigration und Genozid, kommunistische Herrschaft und Kriegsrecht berücksichtigt werden müssen. Hinzu kommt, dass aufgrund der wechselvollen Geschichte des Landes viele Filme gerade der 1910er und 1920er Jahre sich nicht erhalten haben. Ein nationales Filmarchiv wurde erst 1957 gegründet – nach zwei Weltkriegen und dem Ende des Stalinismus.

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Die Verarbeitung der eigenen
Geschichte und Gegenwart im Film –
Polens Kino von den Anfängen bis heute

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Haltof schreibt nicht einfach nur eine Geschichte der wichtigsten polnischen Filme, er versucht vielmehr, diese in die politischen, sozialen und gesellschaftlichen Entwicklungen Polens zu integrieren und so das spezifisch Polnische auch für Laien, die nicht mit der Geschichte des Landes vertraut sind, nachvollziehbar und begreifbar zu machen. Neben den Filmen selbst, ihren inhaltlichen und ästhetischen Aspekten, berücksichtigt Haltof in seiner Darstellung auch filmwirtschaftliche und filmtheoretische Entwicklungen des nationalen polnischen Kinos. Er verweist auf die Anzahl der Kinos, die zum Beispiel deutlich macht, dass Polen zumindest bis zum Zweiten Weltkrieg in der Pro-Kopf-Versorgung der Bevölkerung mit Kinos eines der europäischen Schlusslichter bildete, erwähnt Verleih- und Produktionsstrukturen und das das polnische Kino oft prägende Verhältnis des Staates zum Film. Nicht zuletzt befasst Haltof sich mit dem Publikumserfolg des polnischen Films in Polen selbst sowie mit dem westlichen Blick auf das polnische Kino, der meist selektiv nur das Politische in den Inhalten suchte.

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Haltof gliedert sein Buch in acht chronologische und drei thematische Kapitel (Repräsentation des Stalinismus im polnischen Kino; Nationales Gedächtnis, der Holocaust und das Bild der Juden in polnischen Nachkriegsfilmen; polnische Filme mit einem amerikanischen Akzent).

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Die acht chronologischen Kapitel beginnt er jeweils mit einer historischen Einführung, in der er die politischen Rahmenbedingungen für das Filmschaffen absteckt. Erst dann wendet er sich den verschiedenen Gattungen des Films und den in der jeweiligen Periode bestimmenden Gruppierungen von Filmemachern zu.

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Grundlage seiner Arbeit ist die für die meisten westlichen Leser nicht rezipierbare polnische Filmgeschichtsschreibung, die Haltof auch in ihren Kontroversen vorbildlich zusammenfasst. Mit dieser Geschichtsschreibung übernimmt er jedoch auch ihre Lücken, was sich beispielsweise in der nur kursorischen Erwähnung der Komplexe Dokumentarfilm, Filmemacherinnen und jiddisches Kino zeigt.

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Nationale Identitätsstiftung im Film:
Historische Literaturvorlagen
als Garanten für den Kassenerfolg

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Wie ein roter Faden ziehen sich die Thematisierung der eigenen nationalen Geschichte sowie die Adaption von Werken des nationalen Literaturkanons und der nationalen Kunst bis heute durch den polnischen Film. Gerade die Literaturadaptionen großer polnischer Schriftsteller, die teilweise ein romantisiertes Bild der polnischen Geschichte vor allem des 18. und 20. Jahrhunderts präsentieren, erfreuen sich bis heute ungeteilter Popularität beim Publikum, garantierten und garantieren einen enormen Erfolg an den Kinokassen, wie jüngst wieder die Verfilmungen von Adam Mickiewicz’ Pan Tadeusz (1999, Adrzej Wajda) und Henryk Sienkiewicz’ Mit Feuer und Schwert (1999, Jerzy Hoffman) beweisen. Viele polnische Filmemacher, so Haltof, sahen sich zumindest bis 1990 praktisch in der Pflicht, nicht nur Unterhalter zu sein, sondern auch Erzieher und Aufklärer. Die vorherrschende Auffassung von der eigenen Geschichte, die dabei in den Filmen widergespiegelt wird, beschreibt Haltof dabei als jeweils abhängig von den gerade bestehenden politischen Gegebenheiten.

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Das Genre des »patriotischen Films« reicht bis 1908 zurück, als mit Pruska kultura (Regisseur unbekannt) erstmals die eigene Geschichte, das Leiden der Polen unter der Germanisierung im preußischen Teilungsgebiet, thematisiert wurde. Nach dem Ersten Weltkrieg förderte der neu erstandene polnische Staat vor allem anti-russische historische Filme: Die Rolle der polnischen Legionen um Pilsudski im Freiheitskampf sollte dem Volk vor Augen geführt werden, der polnisch-russische Krieg wurde ins Zentrum gerückt. Mit der Machtübernahme Pilsudskis 1926 begann eine weitere Ära der »historischen Rekonstruktion« (S. 11), die die Rolle Pilsudskis und seiner Legionen überhöhte und Kontinuitäten zum Januaraufstand 1863 und der Revolte 1905 gegen Russland konstruierte. Daneben florierten melodramatische Stoffe vor historischem Hintergrund.

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Auch in den dreißiger Jahren blieben diese Themen auf der Leinwand präsent, die Filmemacher bedienten sich zunehmend der Malerei und der Literatur als Vorlagen für die heroische und mythologisierte Darstellung der polnischen Geschichte des 18. und 19. Jahrhunderts. Während in der staatenlosen Zeit Polens neben Kirche und Sprache Literatur und Kunst wesentlich zur nationalen Identitätsstiftung beigetragen hatten, kam somit in den 1920er und 1930er Jahren als wesentlicher Faktor der Film hinzu, der in den Köpfen der Menschen bestimmte nationale Bilder verankerte. Kultiviert wurde vor allem der romantische Blick auf die eigene Geschichte, der bis heute weiterwirkt: Der heldische und vom Schicksal auferlegte, aber objektiv zumeist sinnlose Tod polnischer Männer für die polnische Sache sowie opferbereite Frauen, die ihre Männer in den sicheren Tod ziehen lassen.

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Eine der bis heute wirkungsvollsten und meistgesehenen patriotischen Erbauungsgeschichten ist der Film Die Kreuzritter (1960, Aleksander Ford nach dem Roman von Henryk Sienkiewicz), der den polnischen Sieg gegen den Deutschherrenorden in der Schlacht von Grunwald (1410) glorifiziert. Haltof nennt in der gebotenen Kürze einer Überblickdarstellung die Bedeutung des Films für das polnische Kino dieser Zeit (S. 97 f.): In der Destalinisierungsphase erfüllte dieser Film die Funktion eines »nationalen Gegenmittels«, der die Bilder der heroischen nationalen Vergangenheit (550 Jahre nach der Schlacht von Grunwald) bestärkte und aufgrund seines internationalen Erfolges die positive Entwicklung des polnischen Films unterstrich.

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Der Zweite Weltkrieg
im polnischen Film

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Nach 1945 wurde nach einer kurzen Blütephase des sozialistischen Films mit sozialistischen Helden nach dem Vorbild der Sowjetunion die Zeit der Okkupation ein beherrschendes Thema im polnischen Film. Das negative Russlandbild der Zwischenkriegszeit musste aufgrund der neuen politischen Realität revidiert werden. Themen wie der Hitler-Stalin-Pakt 1939 sowie die Rolle der sowjetischen Armee beim Warschauer Aufstand 1994 wurden deshalb tabuisiert. Die polnische Geschichtsschreibung und der polnische Film schrieben die Märtyrerrolle des polnischen Volkes fort, versuchten jedoch auch, nicht nur den Heroismus des Widerstandes, sondern auch die alltäglichen Konflikte und Nöte zu zeigen. Haltof zählt hier die verschiedenen Herangehensweisen an die eigene Geschichte nur auf, ohne tiefer gehend zu differenzieren.

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Die 1990er Jahre:
Die eigene Geschichte
aus neuer und alter Perspektive

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Mit der Demokratisierung und dem Wegfall des totalitären Staates wurde zum einen der Weg für eine neue Betrachtung der eigenen Geschichte frei, zum anderen aber verschwand auch der politische Gegner, der bis dato Filmemacher und Publikum geeint hatte und nun einige Filmemacher ihrer Themen beraubte. Zudem begann eine neue Ära für die Filmwirtschaft: Die zentralisierte und nationalisierte Filmindustrie, bisher abhängig vom Geld und Wohlwollen des Staates, wurde privatisiert. Zunächst kamen vor allem in den 1980er Jahren verbotene Filme in die Kinos, wie zum Beispiel Agnieszka Hollands Eine alleinstehende Frau (1981) oder Krzysztof Kieslowskis Der Zufall möglicherweise (1981), zwei Filme, die scharfsichtig die desolate psychische und soziale Situation der sozialistischen Gesellschaft ihrer Zeit aufzeigten. Das polnische Kino brauchte Zeit, um sich zu reorganisieren. Die wirtschaftliche Depression der Nachwendezeit erfasste auch die Filmwirtschaft: Die Zahl der Kinos sank rapide, die Zahl der Kinobesuche pro Einwohner und Jahr betrug 1993 nur noch 0,35 (im Vergleich zu 2,5 in Deutschland). Haltof beschreibt auch die Amerikanisierung des Kinomarktes, die es Anfang der 1990er Jahre umgekehrt fast unmöglich machte, russische oder andere osteuropäische Filme zu sehen.

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Das neue polnische Kino war nun frei von politischen und sozialen Verpflichtungen, die Filmemacher mussten sich neu definieren, es genügte nicht mehr, nur gegen das politische System Stellung zu beziehen, um von der Kritik als ernstzunehmender Künstler anerkannt zu werden. Haltofs richtiges Fazit nach zehn Jahren freiem polnischen Kino lautet: Die Zukunft gehört den jungen, von der Geschichte unbelasteten Filmemachern und – wie schon in der Vergangenheit – den Literaturverfilmungen, wie Pan Tadeusz und Mit Feuer und Schwert 1999 gezeigt haben.

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Eine Lücke – Jiddische Filme
als Teil polnischer Filmgeschichte?

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Die ersten beiden Kapitel behandeln den polnischen Film bis zur Einführung des Tonfilms und den polnischen Film der dreißiger Jahre. Haltof bemerkt zwar sowohl für die Stummfilmzeit als auch für den Tonfilm der 1930er Jahre den nicht unerheblichen Anteil jiddischer Produktionen in Polen, kann sich aber nicht wirklich entscheiden, ob der jiddische Film – für Osteuropa und die amerikanische Diaspora produziert und teilweise aus den USA mitfinanziert – wirklich als Teil des polnischen Kinos zu betrachten ist oder nicht. Dabei werden in seinen Ausführungen die Bedeutung polnisch-jüdischer Produzenten, Verleiher und Regisseure für das polnische Kino wie auch die Beliebtheit jiddischer Produktionen beim polnischen Publikum ganz klar herausgestellt. In der polnischen Forschung, auf die sich Haltof in großen Teilen stützt, wurde das Thema jedoch bisher ausgeblendet. Gerade im Hinblick auf die interessierte amerikanische Leserschaft verwundert diese Lücke.

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Fazit

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Marek Haltof zitiert viel aus der polnischen und angelsächsischen Forschung; es wäre deshalb wünschenswert gewesen, seine Darstellung zum polnischen Kino mit einem Forschungsüberblick verbunden zu sehen. Es ist schließlich weniger interessant zu erfahren, dass er mit seinem Buch eine Lücke für die englischsprachigen Leser schließen will, als darüber informiert zu werden, welche Aspekte des polnischen Kinos die Forschung besonders interessiert haben. Glücklicherweise hat er jedoch seiner Darstellung eine ausführliche Bibliographie und eine chronologische Filmographie der wichtigsten Filme (polnische und englische Titel) angehängt.

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Zudem hat er einen sehr gut lesbaren und doch fundierten und vielschichtigen Überblick über das polnische Kino von seinen Anfängen bis heute geschrieben. Seine Stärken und Interessen liegen dabei eindeutig auf dem polnischen Film nach 1945. Hier präsentiert er detailliert die verschiedenen Schulen, ihre Vertreter und Filme, bleibt aber seinem Ansatz, eine Art Sozialgeschichte des polnischen Kinos zu schreiben, treu. Die drei thematischen Kapitel am Ende des Buches befassen sich zudem verstärkt mit Filmen nach 1989, zum einen mit der schon fast obligatorischen Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte des Stalinismus und der Juden, zwei bis dato eher tabuisierten Themen, und zum anderen mit der Kommerzialisierung und Amerikanisierung des polnischen Films. Es bleibt zu hoffen, dass Haltof seine Absicht erreicht, mit diesem Buch möglichst viele Filminteressierte außerhalb Polens mit den Grundzügen des polnischen Kinos vertraut zu machen.


Brigitte Braun, M.A.
Universität Trier
FB II - Medienwissenschaft
Universitätsring 15
DE - 54286 Trier

Ins Netz gestellt am 19.01.2005

IASLonline ISSN 1612-0442

Diese Rezension wurde betreut von unserem Fachreferenten Dr. Uli Jung. Sie finden den Text auch angezeigt im Portal Lirez – Literaturwissenschaftliche Rezensionen.

Redaktionell betreut wurde diese Rezension von Julia Ebeling.

Empfohlene Zitierweise:

Brigitte Braun: Die wechselvolle Geschichte des polnischen Films. (Rezension über: Marek Haltof: Polish National Cinema. Oxford, New York: Berghahn Books 2002.)
In: IASLonline [19.01.2005]
URL: <http://www.iaslonline.de/index.php?vorgang_id=280>
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