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Der Tanz im Mittelalter als theologischer Diskurs zwischen Höllenangst und Heilsgewißheit

  • Julia Zimmermann: Teufelsreigen - Engelstänze. Kontinuität und Wandel in mittelalterlichen Tanzdarstellungen. (Mikrokosmos 76) Frankfurt/M.: Peter Lang 2007. 455 S. 30 s/w Abb. EUR (D) 77,70.
    ISBN: 978-363-1-56405-9.
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Der Tanz im Mittelalter ist, wie schon die Bibliographie des vorliegenden Buches erkennen lässt, bis in jüngste Zeit immer wieder Untersuchungsgegenstand verschiedener Disziplinen, wie der Kunst- und Tanzgeschichte sowie der Musik- und Literaturwissenschaft gewesen. Umso erstaunlicher ist, dass bislang kaum der Versuch unternommen wurde, die bildlichen und literarischen Quellen für dieses Phänomen in Zusammenhang zu sehen und dabei der Lektüre der Texte als Texte – und nicht als bloße Informationslieferanten, was sie in der Regel nicht sind – breiten Raum zu geben. Dieses Desiderat möchte das Buch von Julia Zimmermann, das aus einer Dissertation 2003 an der Freien Universität Berlin hervorgegangen ist, erfüllen.

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Mittelalterliche theologische Diskurse über das Tanzen

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Thema der Arbeit ist »Tanz und Theologie im christlichen Abendland« (S. 13). Die der Studie zugrundeliegende methodologische Vorüberlegung formuliert die Autorin wie folgt:

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Um verständlich zu machen, welche herausragende Bedeutung die Kirche für die durchaus ambivalente, wenn nicht gar widersprüchlich anmutende Wahrnehmung und Wertung des Tanzes im Mittelalter hatte, soll […] die theologische Sichtweise auf diese Ausdrucks- und Bewegungsform von nachkonstantinischer Zeit bis ca. 1450 nachgezeichnet werden. (S. 14)
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Schon hier deutet sich an, dass es die erklärte Absicht der Verfasserin ist, gerade nicht (wie bislang meist in tanzgeschichtlichen Abhandlungen geschehen) aus den vorliegenden Dokumenten mittelalterliche Tanzpraktiken zu rekonstruieren, was die Autorin mit guten Gründen als unmöglich zurückweist. Vielmehr sollen diese Dokumente möglichst genau analysiert und auf die durch sie zum Ausdruck kommenden Wahrnehmungs- und Deutungsmuster hin befragt werden, um hierdurch das mittelalterliche Diskurssystem über den Tanz und das Tanzen zu erschließen.

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Dabei nimmt die Verfasserin aus pragmatischen Gründen, nämlich aus Gründen der sonst kaum zu bewältigenden Fülle des Materials, eine Einengung des Untersuchungsbereiches vornehmlich auf geistliche Literatur vor. Weiter begründet sie dieses Vorgehen auch inhaltlich damit, dass ein regelrechter Diskurs über das Tanzen im Mittelalter eigentlich nur hier, nicht aber in höfischen Epen oder im Minnesang, ausgebildet worden sei (vgl. S. 21). Zentral sei daher für ihre Untersuchung »die Frage nach Kontinuität und Wandel in den theologischen Reflexionen über das Tanzen« (S. 22). Es sei hierzu vermerkt, dass die Studie gleichwohl einen erhellenden Abschnitt zum »Kollektive[n] Tanz in der höfischen Dichtung« (Kapitel V.2.) gleichsam als Exkurs enthält, wobei die Autorin hier darauf hinweist, dass eine »eingehende literaturwissenschaftliche Untersuchung über die Darstellung des Tanzes in der höfischen Literatur […] nach wie vor ein Desiderat« sei (S. 155, Anmerkung 21). Dies wirkt auf den ersten Blick widersprüchlich, stellt die vorgelegte Abhandlung in ihrer thematischen Beschränkung aber insofern nicht in Frage, als zu vermuten bleibt, dass weiterführende Aussagen über den Stellenwert und die Funktionen von Tanz in höfischer Literatur ausführliche (strukturelle wie inhaltliche) Analysen einer großen Zahl Fallbeispiele erfordert hätten, wie sie in vorliegendem Zusammenhang tatsächlich nicht zu leisten gewesen wären.

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Die Arbeit gliedert sich in drei Teile: einen einführenden Teil, der u.a. terminologische Fragen zu klären unternimmt (mittelhochdeutsche Tanztermini und ihr sprachgeschichtlicher und sachlicher Hintergrund), sowie einen Teil, der den kollektiven (also gemeinschaftlich ausgeführten) Tänzen, und einen Teil, der den histrionischen (von Spielleuten solistisch vorgeführten) Tänzen gewidmet ist, was sich an einer von der Autorin selbst vorgeschlagenen Klassifikation mittelalterlicher Tänze orientiert. Innerhalb des zweiten und dritten Teils folgt jeweils auf eher übersichtsartig angelegte Abschnitte die Besprechung einzelner Fallbeispiele. Die Autorin sucht also einen Mittelweg einzuschlagen zwischen systematischer Erfassung und Auswertung von Quellenmaterial in Form einzelner Textstellen, der exemplarischen Interpretation ganzer Texte und der Konfrontation dieser Texte mit ikonographischem Material. Abgerundet wird die Arbeit dementsprechend durch einen umfangreichen Abbildungsteil mit ausführlichen Kommentaren und Literaturverweisen.

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Eine neue Klassifikation:
Gemeinschaftstänze und solistische Tänze

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Die von der Autorin bevorzugte Methode einer Interpretation der Texte um ihrer selbst willen führt zu einer neuen Zugriffsmöglichkeit auf das Phänomen Tanz im Mittelalter. Die Verfasserin vermag überzeugend darzulegen, dass eine lange zurückreichende (von Franz Magnus Böhme 1886 aufgestellte) und bis in Publikationen jüngsten Datums immer wieder repetierte These unhaltbar sei: Nämlich dass sich mittelalterliche Tänze in ›Hoftänze‹ (mittelhochdeutsch ›tanz‹) und ›Bauerntänze‹ (mittelhochdeutsch ›reie‹) einteilen ließen, und dass beide Gruppen nicht nur mit entsprechenden sozialen Zuordnungen (Tänze der Oberschicht versus Tänze der Unterschicht), sondern auch mit entsprechenden Bewegungsformen (›Schreiten‹ versus ›Springen‹) verbunden gewesen seien. Eine derartige ›duale‹ Klassifikation finde indes keine Grundlage in den literarischen Dokumenten; vielmehr sei eine andere Unterscheidung vorzunehmen plausibel, und zwar »zwischen kollektiv begangenen Tänzen (etwa einer Festgesellschaft im Rahmen eines höfischen Festes) und den histrionischen (d.h. von Spielleuten ausgeführten) Tänzen« (S. 19).

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Dies leuchtet zum einen deshalb ein, weil die Verfasserin ihre Beobachtungen terminologisch abzustützen vermag: Mittelhochdeutsch ›tanz / tanzen‹ meine ebenso wie das erst mit Neidhart (1. Hälfte 13. Jahrhundert) aufgekommene ›reie / reien‹ bis ins 14. Jahrhundert ausschließlich kollektive Tanzformen, wohingegen mittelhochdeutsch ›springen‹ in dieser Zeit der wichtigste Terminus »für den solistisch ausgeführten histrionischen Tanz« gewesen sei (S. 48). Zum anderen leuchtet eine derartige Unterscheidung auch deshalb ein, weil sie mit Beobachtungen beispielsweise der Musikwissenschaft zum mittelalterlichen Lied in Einklang steht: Im Rückgriff auf mittelalterliche Quellen und in Anlehnung an eine bereits von Heinrich Besseler vorgenommene Einteilung von Musikarten in ›Umgangsmusik‹ und ›Darbietungsmusik‹ kann nämlich die mittelalterliche Liedkunst u.a. auf Grundlage einer Einteilung in Lieder der Gemeinschaft, die von mehreren Personen (etwa bei Prozessionen oder zum Tanz) vorgetragen wurden, und solistische Lieder, die vor Zuhörern dargeboten wurden, beschrieben werden. 1 Allerdings gibt die bis ins Spätmittelalter so genaue Terminologie nach den Ausführungen der Verfasserin keinen Aufschluss darüber, was in der mittelhochdeutschen Lyrik Tanzformen waren und was nicht.

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Mittelalterliche Diskurse
zwischen Traditionsgebundenheit und neuen Ansätzen

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Zu den großen Verdiensten der vorliegenden Arbeit gehört, dass es der Verfasserin ungeachtet aller Traditionsgebundenheit der Dokumente (vgl. das Stichwort »Kontinuität« im Untertitel) immer wieder gelingt, Akzentverschiebungen, Umdeutungen und gar Ansätze zu neuen Auffassungen (also den »Wandel«) herauszuarbeiten. Ihre Untersuchungen sind bis ins Detail (ohne dass dabei je die übergeordneten Zusammenhänge aus dem Blick geraten würden) so reich an interessanten Einsichten, dass es kaum möglich scheint, allen Aspekten der Studie vollauf gerecht zu werden. Es sollen daher im Folgenden einzelne besonders markante Untersuchungsergebnisse und methodische Neuansätze kurz umrissen werden.

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Nach den Beobachtungen Zimmermanns mündete die von der frühchristlichen Kirche ausgehende Tradition der Verdammung des Tanzens als Teufelswerk, die zunächst der Abgrenzung von heidnischen Praktiken (insbesondere auch vom Judentum) gedient und später deutlich misogyne und hofkritische Züge angenommen habe, im Spätmittelalter in eine Flut von Polemiken gegen das Tanzen in Form von Predigten und Traktaten, die diese Betätigung etwa in Zusammenhang mit Todsünden brachten. Wenn es daneben ebenfalls seit frühchristlicher Zeit das spirituelle Gegenbild des Engelsreigens gab, das sich auf kosmologische Vorstellungen (Kreisbewegung der Gestirne) zurückführen lasse und schon früh im Sinne einer ›himmlischen Liturgie‹ verstanden worden sei, so wurde dieses Element nach Zimmermann im Mittelalter zum einen eschatologisch umgedeutet (als Verheißung der Teilnahme am himmlischen Reigen im Jenseits), zum anderen als Bestandteil einer »literarische[n] Inszenierung mystischen Erlebens« (S. 106). Daneben kann die Autorin in volkssprachigen Legendendichtungen noch eine andere Haltung gegenüber dem Tanzen nachweisen, die dieses nicht grundsätzlich als Teufelswerk verurteilt, sondern die Möglichkeit des Verzichts auf das Tanzen im Sinne einer asketischen Lebensführung eingeräumt habe, welche einer höfischen Weltzugewandtheit kontrastierend gegenüberstehe.

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Der Teil über »Histrionische Tänze« setzt erstmals auf breiter Basis das ikonographische Material zu literarischen Darstellungen in Beziehung und arbeitet heraus, dass trotz des offenkundig großen Repräsentationswertes der Präsenz von Spielleuten am Hof ausführliche Darstellungen ihrer Tänze in den Textquellen weitgehend fehlten, was wohl mit dem (im Vergleich mit Musizieren und Singen) als relativ gering erachteten Status dieser Betätigung in Zusammenhang stehe. Dennoch gelingt es der Autorin überzeugend nachzuweisen, dass zum histrionischen Tanz – über die bislang geläufige kunsthistorische Einteilung des Materials in die Grundtypen ›Handtanz‹ und ›akrobatischer Tanz‹ hinaus – noch weiteres wie Jonglieren, Messerwerfen etc. gehört habe.

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Bemerkenswert sind weiter die Ausführungen zur theologischen Ablehnung nicht nur des Tanzes, sondern auch der Spielleute (wie des Theaters allgemein): Zum einen zeigt Zimmermann, dass das Negativbild der Spielleute mit ihrer als übertrieben und lasziv hingestellten Gestik dazu gedient habe, eine christliche Haltung ›ex negativo‹ allererst zu definieren, die positiv so einfach nicht zu umschreiben gewesen wäre. Zum anderen führt sie aus, dass die gesellschaftliche Ächtung der Spielleute die Voraussetzung für die Vorstellung vom ›Spielmann Gottes‹ gewesen sei, wie sie seit dem 12. Jahrhundert aufgekommen zu sein scheine: Erst auf dieser Grundlage hätten sich Geistliche im Sinne einer Demutshaltung zum ›Spielmann‹ als dem Niedrigsten in der kirchlichen Gemeinschaft stilisieren können.

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Zwei kontrastive Deutungs- und Bewertungsmuster:
Salome und David

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Kapitel VII führt eindrücklich vor, wie aus dem neutestamentlichen Tanz der Salome, der in der Bibel überhaupt nicht beschrieben ist, im Mittelalter eine Projektionsfläche für unterschiedlich nuancierte und teils ineinander übergehende Deutungsmuster geworden sei: Die Salome-Geschichte sei in dieser Zeit detailgenau ausgeschmückt und mit inhaltlichen Stereotypen aufgeladen worden, die diese Frauenfigur zum Exempel des lasterhaften ›spilwîp‹, der einen Götzendienst versehenden Teufelsdienerin, der personifizierten ›luxuria‹ (die Männer erschienen durch sie als Opfer ihrer Triebhaftigkeit) und der entfesselten Mänade hätten werden lassen können.

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Kapitel VIII zeigt anhand der mittelalterlichen Rezeption eines anderen biblischen Tanzes, des alttestamentarischen Tanzes des Königs David vor der Bundeslade, dass die Frage nach dem realen historischen Hintergrund mittelalterlicher Tanzpraktiken nicht weit führte, denn in diesem Fall handelt es sich nach Zimmermann ebenfalls um einen histrionischen Tanz, der aber anders als der der Salome durchaus positiv bewertet worden sei: Das gleiche Phänomen sei im Mittelalter in seiner metaphysischen Dimension unter Umständen ganz unterschiedlich gedeutet worden. Und so habe der Tanz Davids als sakrale Handlung verstanden werden können und dementsprechend als Beispiel für tugendhaftes Verhalten, Gottesverehrung in Demut, typologisch als Präfiguration des Leidens Christi und sublimiert als ›Tanz im Geiste‹ und Vorgriff auf die Auferstehung.

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Zusammenfassung

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Die Arbeit entfaltet, ohne dass sie ihr Thema umfassend zu behandeln trachtete, ein beeindruckendes Panorama mittelalterlicher Tanzdarstellungen, das an methodischer Reflektiertheit, analytischer Schärfe und interpretatorischem Vermögen kaum etwas zu wünschen übrig lässt. Ausführlich wird aus den ausgewerteten Quellentexten zitiert, so dass diese selbst zum Sprechen gebracht werden; der intendierte Rezipientenkreis dieser Quellentexte wird nach Möglichkeit berücksichtigt, und die einzelnen Belege zum Tanzdiskurs werden in einen größeren Kontext gestellt, der ihre Relevanz und Signifikanz zu beurteilen erst erlaubt. So kann Zimmermann etwa zeigen, dass bei der Überlieferung einzelner Exempla das Tanzmotiv im Lauf des Mittelalters zunehmend an Bedeutung gewonnen habe (vgl. S. 118 mit Anmerkung 70). Bleibt eigentlich nur zu wünschen, dass die Verfasserin auf diese Studie eine Abhandlung zum Tanz in der höfischen Literatur des Mittelalters folgen lassen möge.

 
 

Anmerkungen

Vgl. Andreas Haug: Musikalische Lyrik im Mittelalter. In: Hermann Danuser (Hg.): Musikalische Lyrik. (Handbuch der musikalischen Gattungen 8/1) Laaber: Laaber-Verlag 2004. S. 59–129.   zurück