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Der Streiter Lessing

  • Pawel Zarychta: »Spott und Tadel«. Lessings rhetorische Strategien im antiquarischen Streit. (Europäische Aufklärung in Literatur und Sprache 18) Frankfurt/M. u.a.: Peter Lang 2007. 205 S. Kartoniert. EUR (D) 39,00.
    ISBN: 978-3-631-56918-4.
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Obgleich die vorliegende Krakauer Dissertation einen unverkennbar analytischen Charakter besitzt, indem sie die Machart von Briefen offen legt, ist sie nicht bloße Verfahrensstudie, sondern ihr Verfasser, Paweł Zarychta, bezieht, wenn er den Kritiker Gotthold Ephraim Lessing (1729–1781) als gewieften Rhetoriker ausweist, literaturgeschichtlich Position. Denn Lessing zum Rhetoriker zu erklären, bedeutet zunächst auch einen Widerspruch zu Lessings antirhetorischem Selbstverständnis, dem die Germanistik gelegentlich aufsitzt. Lessing, der wiederholt an der tragédie classique deren Rhetorik herausgearbeitet hat, um diese dann als Argument gegen die französische Gattung zu einzusetzen, wird hier selbst auf seine von ihm verwendeten rhetorischen Verfahren hin ›zergliedert‹. Ein genau abgegrenzter Gegenstand, nämlich die im so genannten antiquarischen Streit mit Christian Adolph Klotz (1738–1771) entstandenen Briefe, helfen das Problem als eines zu verstehen, das in einem bestimmten Genre, beziehungsweise modern ausgedrückt, einer spezifischen ›Textsorte‹ sich artikuliert. Der Schwerpunkt liegt auf den Briefen, antiquarischen Inhalts (1768–1769), nur am Rande widmet sich der Verfasser den ebenfalls im Streit mit Klotz entstandenen Schriften Über die Ahnenbilder der alten Römer und Wie die Alten den Tod gebildet. Zarychta versteht seine Analyse historisch-hermeneutisch, also nicht bloß formal-technisch im Aufzählen rhetorischer Dispositionsschemata und Figuren. Eine historisch-hermeneutische Analyse der Rhetorik geht davon aus, dass rhetorische Strategien zu allen Zeiten das Handeln der Menschen bestimmen. Die Aufgabe des Philologen aber ist, die historisch konkrete Gestalt der jeweiligen rhetorisch konzipierten Textverarbeitung aufzuzeigen.

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Ob der von Zarychta gegebene Überblick (S. 21–33) zur Rhetorikgeschichte des 18. Jahrhunderts tatsächlich die Arbeit begründen muss, sei dahingestellt. Dienlich und informativ ist er auf jeden Fall, weil er betont, dass vom ›Tod der Rhetorik‹ im Zeitalter der Aufklärung nicht die Rede sein kann und gleichzeitig wichtige Veränderungen und Differenzierungen der Rhetorik mit Blick auf sich ändernde soziale Bedürfnisse demonstriert. Mittlerweile dürfte Einigkeit darüber bestehen, dass noch im 18. Jahrhundert die Rhetorik als Disziplin und als Diskursgegenstand von großer Bedeutung gewesen war. Viel zu wenig allerdings sind bislang die bildungsgeschichtlichen Implikationen der Rhetorik untersucht worden. An diesem Punkt hätte man von Zarychta nicht nur den Hinweis erwartet, dass Lessing in Schule und Universität rhetorisch gedrillt wurde, sondern Belege wie jenen, dass Lessing in Leipzig bei Abraham Gotthelf Kästner (1719–1800) das Kolloquium über die Disputierkunst besuchte (S. 75).

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Der Gegner Klotz

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Die Einführung in Thema und Gegner, in die Absichten sowie in das Umfeld des Streites, kurz in seine geschichtliche Konstellation, ist dafür umso notwendiger, weil sie die eingangs erwähnte Methode einer historisch-hermeneutischen Analyse rhetorischer Strategien sinnfällig macht. Was war geschehen? Warum duellierte sich Lessing mit dem jüngeren Christian Adolph Klotz mehr als zwei Jahre lang? Der ehrgeizige Klotz, den Zeitgenossen des Nepotismus verdächtigten, wurde von der germanistischen Literaturgeschichtsschreibung eindeutig als moralisch und wissenschaftlich unterlegen geschildert. Die Sympathien erhielt hingegen Lessing. Zarychta bemüht sich darum, ein objektives Bild dieses früh Verstorbenen zu zeichnen, der in den schönen Wissenschaften sowie in der klassischen Philologie und Altertumskunde schnell zu Ruhm gelangt war. Zunächst studierte er Jura in Leipzig, wo er sich mit zwei auf Latein verfassten Satiren den Groll einiger Gelehrter zuzog, 1762 erhielt er eine außerordentliche Professur in Göttingen; seine eigentliche Karriere aber begann in Halle 1765, als er daselbst zum Professor der Philosophie ernannt worden war. Klotz war ein Grenzgänger zwischen Gelehrsamkeit und Publizistik, und seine verstärkte publizistisch-polemische Tätigkeit zeichnete sich schnell ab. Er knüpfte ein beachtliches intellektuelles Netzwerk und vergrößerte stetig seinen Einfluss, so dass er Ende der sechziger Jahre »ein kleines journalistisches Imperium« (S. 39) aufgebaut hatte. Gegenüber Friedrich Nicolai (1733–1811), für den er zunächst als Rezensent tätig war, bestand bald eine unerbittliche Rivalität, zu deren Zustandekommen nicht wenig Klotz’ Deutsche Bibliothek der schönen Wissenschaften beigetragen hatte, die ein gewichtiges Konkurrenzunternehmen zu Nicolais Allgemeiner deutscher Bibliothek darstellte. Mit Nicolai, der nicht minder polemisch und parteiisch operierte, war daher für den angriffslustigen Klotz der Feind aufgebaut, dessen er zur eigenen Profilierung bedurfte. Die publizistische Lagerbildung zwischen Berlin und Halle ist für die Vorgeschichte des Streites nicht unbedeutend, denn Lessing, der anfänglich einen freundlichen Ton gegenüber Klotz angeschlagen hatte, änderte schlagartig seine Sichtweise. Über den Einfluss seines Freundes Nicolai, den er 1768 in Leipzig auf der Ostermesse aufsuchte, um Pläne für die Zeit nach dem Hamburger Engagement zu besprechen, lassen sich allerdings nur Vermutungen anstellen. Fest steht, dass er unter Lessings Freunden derjenige war, der sich am wenigsten besorgt über den schmählichen Ton der Briefe, antiquarischen Inhalts äußerte, sondern im Gegenteil Lessing weiter dazu anstachelte, diese fortzusetzen (S. 180). Nicht von ungefähr sind die Briefe, antiquarischen Inhalts an einen Verleger adressiert, der synekdochisch für das deutsche Publikum steht. Ob, wie Zarychta mutmaßt, Lessing in Klotz eine Art »Verkörperung« (S. 56) jener gesellschaftlichen Misere sah, in der er sich, der brotlose Schriftsteller, selbst befand und die ihn reizte, ist nicht zu belegen. Dafür spräche, dass Lessing mit Erhalt der von Johann Arnold Ebert (1723–1795) vermittelten Bibliothekarsstelle in Wolfenbüttel die Streitigkeiten abrupt beendete.

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Das Genre der Polemik
und die Form des Briefes

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Gegner einschüchtern und Deutungshoheit erlangen sind Ziele, die das polemische Unterfangen unweigerlich der Sophisterei verdächtig machen. Die eigentliche Aufgabe der Rhetorik, der Wahrheit zu dienen und für sie die besseren Argumente aufzusuchen, rückt in den Hintergrund. Dieser mit dem Genre der Polemik verbundenen Gefahr war sich Lessing bewusst, und in seiner Vorrede antizipiert er auch diesbezügliche Vorwürfe. Zarychta entlarvt eine solche ›Antizipation‹ als das, was sie ist: eine rhetorische Strategie zur Legitimation der eigenen Position. Wenn Lessing das polemische Genre mittels der Briefform realisiert, greift er auf ein Verfahren zurück, das in der deutschen Literatur seine Anfänge in der Reformationszeit gehabt hatte, in der Aufklärungszeit aber nicht mehr nur im theologischen Disput, sondern zudem auf dem Feld der Wissenschaften und schönen Künste eingesetzt wurde. Lessing selbst hatte sich auf dem Gebiet der literaturkritischen Polemik in Form des Briefes einen Namen gemacht, indem er den Ruhm Johann Christoph Gottscheds (1700–1766) mit Briefen, die neueste Literatur betreffend auf immer vernichtete. Aus heutiger Sicht drängt sich die Frage auf, ob es überhaupt sinnvoll ist, jene zahlreichen literarischen Debatten der Aufklärungszeit, die im polemischen Genre geführt wurden, dem Inhalt nach fortzuschreiben und zu kommentieren. Die Polemik, darin ist sie der Satire ähnlich, stellt sich als ein Genre dar, das vor allem Gegenstand der Pragmatik ist. Das literarische Wort der Aufklärer ist ein Wort im Dienste einer Handlung, unterliegt einem persuasiven Zweck, der selten nur jene Wahrheit war, mit der die Akteure ihr Schreiben legitimierten.

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Den eigentlichen Kern der Arbeit bilden die rhetorischen Analysen jener 57 Briefe, antiquarischen Inhalts, für die sich Lessing – der sich seit der Laokoon-Studie (1766) als Autor auf dem Gebiet des klassischen Altertums hervorgetan hatte und über sie in (zunächst) freundlichen Kontakt mit Klotz gekommen war – in die gelehrte Literatur zur Antike einarbeitete. Die Analysen dieser Briefe, die über die Hälfte der Arbeit ausmachen (S. 59–168), bedienen sich der Terminologie, die in der griechischen und lateinischen Rhetorik über die Jahrhunderte herausgebildet worden war und sich noch heute ob ihrer Differenziertheit gegenüber linguistischen Metasprachen behaupten kann. Zudem spiegelt diese Begrifflichkeit, wie sie von Heinrich Lausberg systematisiert wurde, das rhetorische Wissen des 18. Jahrhunderts wider. Die stupende Detailgenauigkeit, mit der Zarychta den Verlauf sämtlicher Briefe beschreibt, mag im Ganzen vielleicht die Konzentration jedes interessierten Lesers stark in Anspruch nehmen, jedoch können nunmehr die Briefe unmöglich ausschließlich vom sachlichen Standpunkt aus gelesen werden. Außerdem gelingt es dem Verfasser, wenn er die Briefe rhetorisch decodiert, eine Unzahl von rhetorischen Figuren anhand von Lessings Prosa zu veranschaulichen. Ein Sachregister hätte hier den Vorteil gehabt, Anknüpfungspunkte für weitere Studien über Lessings Rhetorik zu bieten. Zarychtas philologische Beobachtungen demonstrieren das unschöne Wesen einer persönlichen Polemik, wie sie Lessing in den Briefen, antiquarischen Inhalts geführt hat: Die Sache rückt in den Hintergrund, eigentliches Ziel ist die Demontage des Gegners.

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Fazit

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Analysen wie die Zarychtas legen die Grundlage für eine historisch-pragmatische Interpretation der deutschsprachigen Aufklärungsliteratur. Lessing als Kritiker wird verständlicher, wenn man ihn gleichfalls als Streiter, als großen Polemiker begreift, der nicht bloß mit dem Wort focht, sondern mit diesem auch die Gegner strafte: flagello, heißt es nicht zufällig in einer Selbstbeschreibung. Die Studie wirft die Frage auf, ob nicht Lessings Streitlust, die ihn in siegreiche Duelle verstrickte und zu gnadenlosen Abstrafungen geführt hat, das kritische Potenzial der von ihr gezeitigten Schriften überdeckt. Albert Meiers Ausgabe von Lessings Literaturtheoretischen und ästhetischen Schriften für den Reclam-Verlag (Universalbibliothek 18383), die darum bemüht ist, die polemische Spreu vom sachlich relevanten Weizen zu trennen, zeigt, welche Schwierigkeiten es bereitet, Lessing als Poetiker oder Kritiker in Gänze zu präsentieren. Dass in dieser Ausgabe die Briefe, antiquarischen Inhalts nicht berücksichtigt werden konnten, liegt zweifelsfrei an jener unsachlichen Polemik über weite Strecken. Die Argumentation dieser Briefe ist ein schwer entwirrbares Gewebe aus Fäden, die für die Sache stehen und solchen, die reine Streitlust markieren. Zarychtas philologisches Verdienst ist es, hier Entwirrung geschaffen zu haben.