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Unter falscher Flagge

  • Roland Galle / Helmut Pfeiffer (Hg.): Aufklärung. (Romanistisches Kolloquium XI) München: Wilhelm Fink 2006. 557 S. Gebunden. EUR (D) 68,00.
    ISBN: 978-3-7705-4298-7.
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1. Bandgliederung und Forschungskontext

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Eherne Titel schaffen große Erwartungshorizonte. Was man vorfindet, ist die Reproduktion eines Kolloquiums, das seine 17 Beiträge in fünf Abteilungen gliedert: »I Poetik und Kritik«, »II Ursprung und Gegenwart«, »III Inszenierungen«, »IV Imagination und Imaginäres«, »V Arbeit an der Aufklärung«. Italien ist mit zwei Beiträgen zu Gozzi bzw. Vico präsent. Spanien ist mit einer Studie zu einer Art moralischer Wochenschrift vertreten, Deutschland mit einem Beitrag zur Entwicklung der Kritik. Einer der Texte vergleicht Voltaires Philosophisches Wörterbuch mit Novalis’ Enzyklopädistik. Angesichts des universellen Titelversprechens vermisst man, auch argumentativ, England und Schottland. Eine gesamteuropäische Dimension hat der Band also nicht. Das Gros der Ausführungen gilt Frankreich (12 Beiträge). Rousseau und Diderot bilden mit vier bzw. drei Aufsätzen einen Schwerpunkt. »Französische Aufklärung« hätte dem Band als Titel gleichwohl nicht angestanden, dazu ist er sachlich zu eng, dies hätte auch Vergleiche mit dem für seine Zeit recht substantiellen, aus dem Umfeld der Akademie der Wissenschaften der DDR stammenden Reclamband 1 nach sich gezogen oder den Blick auf die französische Seite gerichtet. 2

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Die Kolloquienreihe, in die sich der Band einfügt, hat, wie zuvor in größerer Dimension die seit geraumer Zeit eingestellte Reihe Poetik und Hermeneutik, neben der Absicht der Problemlösung auch das Ziel der Domänen- und Schulenbildung. Konstanz, München und Berlin bildeten bisher die räumlich-institutionellen Ausgangskoordinaten zur je punktuellen Aggregierung von Themen, Schülern und Geistesverwandten zur lockeren Sozietät. Die erzeugte theoretisch-methodische Marke ist charakterisiert durch recht losen Kontakt zur materialen Geschichte, eine extrem gefilterte Brechung sozialer Strukturen, häufig auch durch hermeneutische Engführung aus Problemständen der Gegenwart heraus. Hinzu kommen eine recht ausgeprägte Resistenz gegenüber anderen Forschungsrichtungen sowie der Mut zur bibliographischen Lücke. Dieser Befund erfordert Nuancierung im Einzelnen und schließt innerhalb der genannten Koordinaten Denkqualität selbstverständlich nicht aus. Ein von einem ähnlichen forscherlichen Umfeld publizierter Band Frühaufklärung 3 findet im Vorwort der Herausgeber keine Erwähnung. Der undeutlich bleibende, artikellose Titel des Bandes von Galle und Pfeiffer, der zeitlich in der Spätaufklärung angesiedelt ist, soll derart, muss man annehmen, die Eindeutigkeit eines literaturhistorischen Versuchs vermeiden und die Nähe zur Philosophie andeuten. Bibliographien oder Register sucht man vergebens.

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Die Einleitung der Herausgeber – beide Schüler von Hans Robert Jauss, dem sie den Band ohne näheren Hinweis auf das seitherige Schicksal der Rezeptionsästhetik widmen – offeriert eine Sicht auf die Aufklärung, in der zunächst eine grundsätzliche Polarisierung zwischen Kant und Adorno sowie einem diesem beigestellten Foucault angenommen wird, welcher nur mit der Grundannahme einer »Differenz diskursiver Eigenlogiken« (S. 8) beizukommen sei. Hier ist Luhmann ins Spiel gebracht, aber nicht genannt. Es gehe, heißt es ferner, um eine »Form der Rekonstruktion von Aufklärung« anstelle einer »narrativen Totalisierung« (ebd.), so die üblich gewordene Bekenntnisformel zur Postmoderne, die sich explizit gegen Adorno und Foucault richtet. Kant erhält keine nähere Ausführung. Weitere semantische Splitter scheinen auf Habermas und eine Ästhetik der Autonomie der Kunst zu zielen. Die Behauptung vom »unabgegoltenen Potential« (ebd.) der Aufklärung wird mit der Spannung ihres Literaturbegriffs erläutert, der alte und neue Schichten enthalte. 4 Schließlich ist noch die Rede von einem kritischen Verhältnis der Aufklärung zu sich selbst, das sich in der Spätaufklärung finde, wofür der Band den Beweis antreten wolle. Nun ist auch die Selbstreflexivität der späten Aufklärung ein wohl eingeführter Problemstand. Unter den möglichen Perspektivierungen dieser Fragestellung seien aus den letzten 25 Jahren nur genannt Das Andere der Vernunft (1983) von Gernot und Hartmut Böhme, das von Hans-Jürgen Schings geführte DFG-Kolloquium Der ganze Mensch (1994), jüngst auch Arbeitsprogramm und Resultate einer vom Rezensenten geleiteten DFG-Forschergruppe »Selbstaufklärung der Aufklärung« (1998–2004) 5 .

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Die Herausgeber des vorliegenden Bandes vermeiden, ganz im Sinn der Klugheitslehre, jede forschungsgeschichtliche Kontextualisierung ihres Vorhabens und offerieren nach einigem Hin und Her schließlich kurzerhand das Spannungsfeld von Fiktion und Wissen als Schlüsselthema der Aufklärung bzw. als gemeinsames Merkmal der Beiträge: »Diskursive Rationalität und imaginäre Dynamik – in der ›literarischen‹ Praxis der Aufklärung kollabiert eine Unterscheidung, um die sich das Programm der Aufklärung bemüht« (S. 9). So die Formel zur Bestimmung der Epoche. 6

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Solche Anordnungen funktionieren indes nur, wenn man unterstellt, die Aufklärung habe jenseits einzelner weltanschaulicher Verlautbarungen je die Vernunft zum alleinigen Programm erhoben und die Forschung dies bisher unisono behauptet. Um das Fiktive einer solchen Konstruktion weiß der Kenner von Thomasius oder Christian Wolff ebenso wie der Leser Humes, Wielands oder Diderots. Ein anderes und weit plastischeres Bild entsteht, wenn man die Spannung von Wissen und Fiktion innerhalb einer als Anthropologieprogramm in actu verstandenen Aufklärung situiert. 7 In dieser Sicht tritt zu der seit Ende des 17. Jahrhundert in der Psychomedizin schon beobachtbaren Naturalisierung und Empirisierung des Menschen auch seine Historisierung. Diese führt zu einer als »anthropologische Wende« bezeichneten, nationalkulturell temporal gestaffelten wissenschaftlichen und epistemologischen Umschichtung. Sie vollzieht sich an der Schwelle zur Ausdifferenzierung und Institutionalisierung des Wissens in Disziplinen und bietet ein weites, noch längst nicht zur Gänze erschlossenes Untersuchungsmaterial. In dieser Übergangssituation einer noch ungeordneten Wissensaggregation gehören Untersuchungen zur Einbildungskraft, zu Traum und Schlaf ebenso selbstverständlich zum Gegenstand anthropologischer Reflexion wie sich etwa das Verhältnis von Wissen und Fiktion als erzählerische Versuchsanordnung im Bereich der Menschenkenntnis entfaltet, indem es Aporien der praktischen Philosophie in Bewegung inszeniert, protosoziologische Diagnosen aufbietet, aber auch in weniger komplexen Varianten den Versuch der Erzeugung einer ›bürgerlichen‹ Moral mit narrativen Mitteln stützt bzw. die Schwierigkeit der Menschenkenntnis narriert. 8 All dies ist auch für den konfliktuellen narrativen Dialog der Großen (Voltaire, Rousseau und Diderot) bereits hinreichend ausgeführt. Derart wird die Aufklärung reflexiv, in einen Kollaps der Vernunft gerät sie jedoch keineswegs. Einen solchen zu behaupten, wie es die Herausgeber suggerieren, wird man in ihrer Diktion »eine narrative Totalisierung« nennen. Ihr eklektisches Vorwort hat indes weniger die innere Logik von Gegenstandsbewegungen im Auge als die Zurechtrückung der Epoche im Geist der Vernunftkritik, wie es die zunächst unspezifizierte Semantik des ›Imaginären‹ andeutet. Zu deutlich sollte auch dies jedoch zunächst wohl nicht werden. Der Buchumschlag zeigt eine mit Feder und Papier bewehrte, den Inspiration heischenden Blick in die Höhe richtende Skulptur: eine Allegorie der Dichtung als Auftragsarbeit der Mme Pompadour zur Aufstellung im Vestibül des Chateau Bellevue (siehe das Internetangebot bei Mercateo in der Papierversion unter ›Kunst für Alle‹).

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2. Wissenschaftlicher Ertrag

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Poetik und Kritik

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Nun tragen nicht alle Texte gleichermaßen die Spur dieser reichlich blassen epistemischen Konstruktion, verspricht auch die Präsenz einer Reihe respektabler und erfahrener Beiträger, speziell der romanistischen Zunft, mehr Genauigkeit und Deutlichkeit. In der ersten Abteilung »Poetik und Kritik« bleibt wohltuend in der Nähe der Bewegung der behandelten Sache der einleitende Beitrag von Klaus W. Hempfer »Zum Verhältnis von ›Literatur‹ und ›Aufklärung‹« (S. 15–54). Für die These von einer empirisch-induktiven Wende der Aufklärung, mit der er sich zugleich explizit gegen die These von der »Konterdiskursivität« bzw. von der »Irritation der Wissenskonfigurationen durch die fiktionalen Inszenierungen« (S. 20) als von den Herausgebern behauptetes Spezifikum der Epoche wendet, nimmt er zum Gewährsmann Cassirer. Ein Gesichtspunkt, den seither Kondylis noch einmal nachdrücklich befestigt hat. Die epistemologische Konfiguration, so Hempfer, sei nicht mehr Voraussetzung, sondern Reflexionsgegenstand des literarischen Diskurses (S. 21). Bei der Analyse von Diderots Bijoux Indiscrets und deren Problematisierung des Empirismus, welche diese These erhellt, profiliert sich der Autor allerdings angesichts der Forschungslage unverständlicherweise mit Hinweisen auf Defizite der Forschung der 1950er/60er Jahre (Dieckmann, Belaval). Warum der Beitrag, der bis in die 1770er Jahre Diderots blickt, den Begriff Materialismus meidet, ist ebenfalls nicht recht erfindlich. 9 Schließlich bedauert man, dass der Literaturwissenschaftler das psychologische Drama einer erkalteten Liebe als Spielmaterial der Bijoux außer Acht lässt. Im unverbunden sich anschließenden zweiten Teil zu Voltaire ist verdienstvoll und erhellend die Heranziehung des diesem zugeschriebenen und kaum beachteten anonymen satirischen Lehrgedichts Les systèmes von 1772, weniger ergiebig, speziell im Vergleich zur Forschung zum 250. Jahrestag des Erdbebens, bleibt dagegen die etwas langatmige Nachzeichnung der rhetorischen Mittel des die Theodizee bereits vor Candide verabschiedenden Poème sur le désastre de Lisbonne.

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Symptomatisch für einen großen Teil der jüngeren Forschergeneration sind Denk- und Schreibart des Artikels »Die Aufklärung im Spiegelstadium ihrer Kritik« (S. 55–82) aus dem PC des Germanisten Steffen Martus. Er ist ganz im Gegensatz zum Beitrag von Hempfer überbibliographiert, lässt gleichwohl Jaumanns Critica, 10 ein Standardwerk, folgenlos in einer Fußnote. Es fehlt auch jeder Hinweis auf den substantiellen Artikel von Martin Fontius aus dem Wörterbuch Ästhetische Grundbegriffe, 11 der an ›Kritik‹ eine Grundbedingung und Grundhaltung der Aufklärung entfaltet. Umso nachteiliger erscheint die hier vorgebrachte Lesart von Kritik am Beispiel einer schmalen Belegauswahl im Geist postmoderner Übertheoretisierung. So entnimmt der Artikel einem satirisch gemeinten Reim des Titelblatts der Geheimnisse der deutschen Kunstrichter (1771) in unbekümmerter Extension ein dreifaches Programm für »Kritische Autorschaft«, dies meint ein Schreiben unter den Anforderungen von »Virtualität« und »Potentialität«, ferner für »Kritische Sichtbarkeit«, dies meint eine »konstruktivistische Anordnung von Kritik«, schließlich für die »Schrift der Kritik«, dies meint – ohne die Derridasche Emphase – die Abkehr von der mündlichen Kritik der Salons. Ebenso müssen einige wenige Zitate von Boileau, Gottsched und Bodmer herhalten für eine wesentlich systemtheoretisch inspirierte Reformulierung bekannter Problematiken wie die Trennung von Autor und Kritiker, die Professionalisierung der Kritik, die Entstehung der Genieästhetik und einer verstehenden Kritik im Ausgang aus der Dominanz der Rhetorik, der Zusammenhang von Öffentlichkeit und Markt. Der Theoriestrauß ist insgesamt gebunden aus Lacan, McLuhan, Elias, Habermas, Foucault, Luhmann, Judith Butler. Hier geht es meist um Performanznachweis und Anschlussfähigkeit. Dies geschieht nicht ohne Talent, bisweilen aber in ärgerlicher Übertreibung. So, wenn Lacans Deutungsüberdehnung eines aus artisanalem Geist stammenden Verses von Boileau (»cent fois sur le métier remettez votre ouvrage«) aus dem Art poétique (1674) affirmiert wird als Beleg für eine »Ichbildung durch Selbstspaltung« und der so geschaffene Anachronismus den Ausgangspunkt bilden soll für eine »Genialisierung der literarischen Kommunikation im 18. Jahrhundert« (S. 66), welche angesichts einer Strukturierung durch Öffentlichkeit zwingend erfolge. Die politische Tendenz des Artikels zielt auf die Minimierung der aufklärerischen Funktion von ›Kritik‹ in der Blickrichtung auf das sich anschließende »Zeitalter der Geschichte«.

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Nüchterner verfährt der im Horizont Hazards und Kosellecks geschriebene Beitrag von Jan-Henrik Witthaus »Zum Typ der Kritik in José Cadalsos Cartas Marruecas« (S. 83–116). Es handelt sich um pseudoorientalische Briefsatiren nach dem Muster der Lettres Persanes, die Witthaus den moralischen Wochenschriften annähert und in denen die Darstellung der Gesellschaft und Kultur Spaniens im Spiegel fiktiver, vielfältig arrangierter Reisebeobachtungen des Mitglieds einer marokkanischen Gesandtschaft im letzten Drittel des 18. Jahrhundert erfolgt. Hier stört eine gewisse Überexplikation. Jedenfalls hätte sich der Nachweis der Rückständigkeit Spaniens im Verhältnis zu Europa bzw. die »kritische Sichtung« des Eigenen und Fremden aus Sorge um die nationale Kultur in der Situation eines Krisenbewusstseins, so die These, weit knapper fassen lassen.

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Wenn es um Poetik und Kritik in der italienischen Aufklärung geht, erwartet man spontan etwa einen Beitrag zu Gravina oder Muratori. Der Band folgt einmal mehr seiner unausgesprochenen Spur und privilegiert einen Gegenaufklärer. In Friedrich Wolfzettels Beitrag »Märchen, Aufklärung und ›Antiaufklärung‹: zu den ›fiabe teatrali‹ Carlo Gozzis« (S. 117–145), wird umstandslos der Weg zur Romantik angegeben, auf dem Gozzi mit seinem Rekurs auf Barockästhetik gleichsam einen probaten Mittelsmann abgebe. Um das Verfahren etwas zu entschärfen, bedarf es mancher sprachlichen Verrenkung zur »dialektische[n]« Bewertung des »Phänomens ›Aufklärung‹« (S. 121) und der forschen These, »dass die Aufklärung als ideologischer Begriff [? H.Th.] ihre Selbstwiderlegung in ästhetischer Hinsicht impliziert« (ebd.). Am Ende erfahren wir dann das Erwartbare, dass Gozzi auf die Forderungen der Aufklärung nach Veränderung mit einem Duldungsschema gegenüber dem Schicksal antwortet (S. 139). Hierbei von »anthropologische[r]« statt »ideologisch[er]« »verstandesmäßige[r]« Aufklärung zu sprechen, wird man eine Überbeanspruchung des Aufklärungsbegriffs nennen dürfen.

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Ursprung und Gegenwart

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Diese zweite Abteilung bietet mit Winfried Wehles »Auf der Höhe einer abgründigen Vernunft. Giambattista Vicos Epos einer ›Neuen Wissenschaft‹« (S. 149–170), mit Karlheinz Stierles »Ursprung und Supplement in Rosseaus Discours sur les origines et les fondemens de l’inégalité parmi les hommes« (S. 171–198) und Reinhardt Brandts »Jean-Jacques Rousseau: Vom Gesellschaftsvertrag« (S. 199–219) drei Beispiele, an denen der Nachweis des Kollaps der Vernunft vor der Imagination vor einer besonderen Bewährungsprobe steht.

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Wehle liest Vicos Scienza nova im Prisma von Habermas und Löwith, vor allem aber der Dialektik der Aufklärung. Ferner deutet er Vicos Wechsel in der Denk- und Darstellungsweise im Spannungsfeld von Philosophie und Philologie bzw. Mens / Ratio und Phantasie als diskursstrategische Vorläuferschaft zu Foucault und Derrida. Man kann die Eigentümlichkeit der Scienca nova vielleicht einfacher auch aus dem widersprüchlichen Impuls zwischen Wissenschaft und Kulturkritik herleiten, der das Werk im Übergang von der Querelle des Anciens et des Modernes zur Fortschrittsidee charakterisiert und für den der an einer Laufbahn in der Rechtswissenschaft gehinderte Professor für Rhetorik besonders empfänglich gewesen sein mag. Wehle selbst unterstreicht diese geschichtsphilosophische Dimension in seinen klugen Ausführungen zum zivilisatorischen Wachstum in der Auf- und Abbewegung der corsi e ricorsi mit der Bemerkung von Vicos Vorstellung von einer »Spirale der Rationalisierung« (S. 167). Sie ermöglicht erst, dass der Gedanke der Kulturkritik Fuß fassen kann und entlässt aus sich, wie Wehle richtig sieht, bei fehlendem Vertrauen in den Fortschritt, notwendig auch den Ursprungsgedanken, der indes, anders als später bei Rousseau, nicht positiv besetzt ist, sondern an den Menschheitsanfang krude Animalität und Bedarf am Göttlichen (S. 169) stellt. Wehle begreift das Werk als Epos und sieht in Vicos Vision eine »Rückkehr in eine selbstverschuldete Unmündigkeit« (S. 170), im Vorgriff gleichsam auf Horkheimer / Adornos These von der »vollends aufgeklärten Erde«, die »im Zeichen triumphalen Unheils« »strahlt«. Jedenfalls bestätigt das beigebrachte Zitat eindringlich den religiösen Subtext in der Dialektik der Aufklärung.

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Karlheinz Stierles anspruchsreiche Darlegung zu Rousseaus zweitem Discours beginnt mit einer kleinen Phänomenologie von Ursprung und Ursprungserzählung sowie einer zu diesem Zweck aufbereiteten, von Derrida inspirierten Theorie des Supplements, die sich bei diesem auf Rousseaus Konzept der supplementären Schrift aus der Origine des Langues bezieht. Supplement wird für Stierle zur Chiffre für Kulturentstehung. Rousseaus zweiter Discours gilt ihm als Theorieerzählung des modernen Bewusstseins. Wer sich über Rousseaus Text und seine Quellen weniger emphatisiert informieren will, der greife zur wohlkommentierten zweisprachigen Ausgabe in der Reihe UTB bzw. zu Georg Bollenbecks präziser Darlegung, 12 in der auch Schiller einen komplexeren Platz hat als den des Epigonen. Folgt man, wie geboten, den hermeneutischen Absichten des Verfassers, so erkennt man in der Herausstellung des Supplementbegriffs und dessen hoher semantischer Frequenz das Ziel der Erzeugung einer philosophisch-poetischen Stimmung, die Rousseau wie seinem Interpreten zufallen soll und die sich über die Analyse des Gehalts spannt. In der Sache gilt die Aufmerksamkeit Stierles vornehmlich dem ›Plot‹ des Discours, d.h. dessen wesentlichen Elementen wie Cri de la nature, Sprache, Schrift, Fest, Eigentum. Nicht die Rede ist von der materiellen Faktur des Textes, d.h. von der großen Zahl seiner unlogischen Ab- und Herleitungen wie den unsauberen Übergängen und deren persuasiver Verdeckung, die ein problematisches Verhältnis von Sachkomplexität und ihrer rhetorischen Bewältigung ebenso indizieren wie sie den Text in ein weniger poetisches Licht tauchen. Vor dessen Deutung als Erzählung hätte eigentlich seine Analyse als Rede zu stehen. Auch bleiben andere Verwendungsarten des Begriffs ›Supplement‹, so Diderots Umbau der gelehrten Ergänzung zu einem eigenständigen kritischen Text im Supplément au voyage de Bougainville, außer Betracht. Im Vordergrund steht die Entstehung des Supplements aus dem Mangel als Beginn einer großen Erzählung. So wird aus einem Discours gleichsam ein vorgezogener Roman über die verlorene Poesie des Ursprungs, mit Strahlkraft in die Romantik und in die ästhetische Moderne. Der mit weiträumigen Bildungsreminiszenzen geführte Beweisgang sucht sich abschließend noch zu einer Rezeptionsskizze zu runden. Mit doppelter Zielführung. Die erste dient dem Nachweis des Benutzens und gleichzeitigen Verschweigens von Rousseaus Text. Dies erfolgt mit treffenden Belegen, übersehen ist Friedrich Engels, der den kulturkritischen Kern der Schrift genau erkennt und benennt. 13 Auch wäre der Proportionswahrung halber an die ungeheure Wirkung des ersten Discours als Gründungstext der Kulturkritik zu erinnern gewesen, die jene des zweiten verstellt, zumal dieser mit der Eigentumsfrage ein unbequemes Skandalon mitschleppt. Mit Konsequenz und zu recht widersprochen wird Derrida, der die Theorie des Supplements »auf Kosten Rousseaus« (S. 189) in seine Theorie der Dekonstruktion überführt, während Stierle sie zunächst in einer historischen Logik halten will. Warum, wird in der zweiten Zielführung deutlich, die eine gleichsam imaginäre Spur der Rezeption entfaltet, in deren Zentrum eine Theorie des nun »unendlichen Mangels« steht, welche der Verfasser bei Schelling, Mallarmé, Lacan, Sartre und Castoriadis aufscheinen sieht. Rousseaus zweiter Discours wird in dieser Sicht zum Gründungstext einer »Ontologie des Werdens« (S. 189) und verliert, nun erst, seine historische Gestalt. Voraussetzung für eine solche Sichtweise ist nicht zuletzt, dass Stierle unter den ›Handlungselementen‹ die Schlüsselsequenz von der inegalen Vergesellschaftung (Perfektion der Individuen bei gleichzeitigem Verfall der Gattung) übersieht, eine Sequenz, die Kant und Schiller sachlich verkehren werden. Es handelt sich um einen Mangel, den Stierle im Übrigen mit dem ganz überwiegenden Teil der Forschergemeinschaft teilt. Diese Sequenz erst – und nicht die Notierung des Eigentums für sich genommen – löst die Ursprungsnostalgie des ersten Discours definitiv ab und eröffnet jene sich verjüngende Spirale inegaler Vergesellschaftung, deren exponentiell gesteigerte Asymmetrien wir derzeit besichtigen können.

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Auf die Nichtmodernität der Faktur seines zu untersuchenden Textes, wie zugleich auf die Hybridität seines Schreibgestus, lässt sich ganz unaktualisierend ein der Beitrag des Philosophen Rainer Brandt zu Rousseaus Gesellschaftsvertrag, der den Contrat social aus der Perspektive der Rhetorik, seiner Paradoxien wie seiner politischen Sprengkraft zu behandeln beabsichtigt und dessen unsichere Balance »zwischen Rhetorik und Philosophie, zwischen Manifest und Traktat, zwischen Pamphlet und Gelehrsamkeit« (S. 199) unterstreicht. Brandt beschreibt die Charakteristika eines »ultimtativ[en]« (S. 200) und zugleich pedantischen Stils, hebt hervor, dass die »chaînes de fer« vermutlich die Zivilgesellschaft und nicht den Despotismus meinen, wohl auch die Korruption durch falsche Meinung (fers de l’opinion), und bestimmt die Funktion des Contrat zusammen mit jener des Émile als Entwürfe zur Freiheit. Letztere bleibt, so Brandt, bei Rousseau philosophisch unbestimmt und fällt mit dem Menschsein zusammen. Der Artikel besticht durch sein Stilgespür, seine Klarheit und Systematizität. Er definiert die jeweiligen Abgrenzungspunkte zu Hobbes und Locke, markiert die hauswirtschaftliche Enge dieser Freiheit, den inneren Zusammenhang von partikularen Interessen und Allgemeinwillen, die Notwendigkeit transparenter Lebenslagen, die Einschränkung von Zirkulation und Geldverkehr, das Fehlen des Gedankens des Privatrechts, die fehlende eigenständige Rolle der Judikative, die Kohäsionskraft der Zivilreligion. Dass die Rechtsproblematik in dieser Darlegung aus der Sicht Kants gedacht ist, wird zur Kenntnis gegeben. Dass der hierarchischen Ordnung in Platons Politeia im Gegensatz zu Rousseaus Gesellschaftsvertrag der Status »eine[r] höchst differenzierte[n] Gesellschaft zur Verwirklichung der Gerechtigkeit« (S. 218) bescheinigt wird, wird man sich aus einem systematisierenden Blick zu erklären haben. Zumal Brandt im Ausgang seinem Autor mit Sympathie entgegentritt und ihm als schablonenfreiem Pädagogen und Kritiker der Ungleichheit trotz der »philosophische[n] Fiktionen« (S. 219), die er entwerfe, hohe Wirkmacht einräumt und zugesteht.

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Inszenierungen

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Diese Abteilung verspricht mit Beiträgen zum Traum, zur Landschaft, zum Sprechakt und zur falschen Entschuldigung in ihren Sujets Gegenstandsnähe und Lebendigkeit. Patricia Oster zeichnet in »Überraschtes Denken – Der Traum in der französischen Spätaufklärung« (S. 223–246) am Beispiel der Bijoux Indiscrets, der Interprétation de la nature, der Salons von 1765 und 1767 und des Rêve de d’Alembert Diderots Trauminszenierungen nach, in der Absicht, so die schöne Formulierung, jenen Moment herausstellen, in dem »das Denken in die Unvorhersehbarkeit des Traums gezogen wird«. (S. 225). Dies geschieht mit interpretatorischem Spürsinn, bisweilen mangelt es jedoch an der gebotenen Werkkontextualisierung. So steht etwa der ausführlich und findig untersuchte Traum Mirzozas in der Funktion des Gegenstücks zum Traum Mangoguls, ist das Paar bei seiner Wette bekanntlich in einer nicht zu vernachlässigenden statistischen Kontroverse, wie es sich insgesamt philosophisch auf unterschiedlichen Positionen bewegt. Ebenso besitzt den von Oster dem Traum verglichenen »esprit de divination« aus der Interprétation de la nature auch der Diener in Jacques le Fataliste. Aus dem divinatorischen Vermögen, das dem »esprit de système« überlegen ist, gewinnt Jacques u.a. die Prophezeiung seiner künftigen Überlegenheit gegenüber dem Herrn. Er bezieht sie aus seinem biologischen Lebensrhythmus (Schluck aus der Flasche) gegenüber dem mechanischen des Herrn (Uhr). Hier geht es um Episteme, Handeln und Politik. Ähnlicher Kontextbedarf gilt für die ›déraison‹ des von Oster im Anschluss an Foucault erwähnten Neffen Rameaus, dessen Kopräsenz von (empirisch basiertem) Zynismus und bon sens erst vor dem material gesehen leeren Tugenddiskurs seines Dialogpartners sein Profil gewinnt. Solche Einwände ändern nichts an der richtigen Beobachtung von der Funktion des Traums als »Erweiterung des Spielraums des Denkbaren« (S. 231). In der Tat tragen die von Diderot inszenierten Träume deutlich die Signatur einer empiriegeleiteten Vernunft, sind sie so gesehen selbstverständlicher Teil der Aufklärung. Jedoch drängt Diderot, etwa in seinen Überlegungen zur Hysterie, ebenso zu einem, die Triebdynamik einbeziehenden anthropologischen Modell wie er auch immer wieder zu epistemischen Vabanque-Spielen neigt. Hier muss man jeweils genau hinschauen. Das tut Oster aufschlussreich in der Analyse der als Traum gestalteten Ekphrasis aus dem Salon von 1765 am Beispiel eines Gemäldes von Fragonard.

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Ebenfalls textnah bleibt der Beitrag von Maria Moog-Grünewald mit dem etwas umständlichen Titel »Die Landschaften Vernets. Oder über das Verhältnis von Naturschönem und Kunstschönem. Anmerkungen zu Diderots Kunstkritik« (S. 248–269). Sie beschreibt die Kunstkritik Diderots als philosophischen Text, der oft den Bildbezug scheinbar aufhebt und der doch konstitutiv bleibt und zeigt im Zusammenhang mit ihrem Thema auch den bekannten Sachverhalt der Transformation der Bildbeschreibung in die Narration eines Spaziergangs. Gegen die Verwechslung mit einem ästhetischen Naturalismus dient der Hinweis auf das Idealschöne und dessen prinzipielle Materialität, eine den Diderot-Leser immer wieder okkupierende Problematik.

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Diderot ist ein Meister der Fiktion von Authentizität und zugleich der Ausstellung ihrer Fiktivität. Der ohne große Theorielast auskommende, filigrane und hellsichtige Beitrag von Laurent Cantagrel »La parole et le moment. Diderot et la question de l’énonciation« (S. 271–313), thematisiert diese Problematik im Blick auf das Schreiben, das, so die These im 18. Jahrhundert, sich erstmals zwischen die Pole des Marktes und der Authentizität (des Ich, der Konversation unter Freunden) gestellt sehe. Diderot privilegiere den Dialog, die wechselnde Situation, das Tableau, er träume vom Ideal einer langue privée, sei fasziniert von der Hieroglyphe und doch interessiert an öffentlicher Wirkung. Hier liege auch der Grund für seine Nähe zum Theater. Der Verfasser entfaltet dies an den Entretiens sur le fils naturel und an De la poésie dramatique, wo sich eine grundsätzliche Spannung zwischen Privatheit und Öffentlichkeit andeute, die sich erst im Paradoxe sur le comédien in der Semantik des Schauspielers als »prédicateur laïc« (Diderot) andeutungsweise zu lösen scheine. Indes bleibe die Idealsituation einer Vereinigung von Salon und Bühne eine Chimäre. Öffentliches und Privates gehen als je Authentisches nicht zusammen. Jedes hat seine eigene Brechung, wie Cantagrel anschließend schön an der theatralisch geführten Novelle Mme de la Carlière entwickelt. Unzitiert bleibt Diderots verallgemeinernde Kurzformel für sein paradoxales Schreibanliegen aus Jacques le fataliste: »dire la chose comme elle est«.

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Nur aus Symptomgründen zu erwähnen ist der Beitrag »La fausse excuse. Sprache und Begierde bei Rousseau« (S. 315-352) von Aikaterini Karakassi, der bedauerlicherweise ohne schützenden Eingriff der Herausgeber blieb und in umständlicher Weitschweifigkeit und ausgiebigem Zitieren glaubt beweisen zu müssen, dass bei Rousseau die diskursive Bändigung der Lust nicht völlig gelinge, dies im übrigen auch für die Körperpolitik der Aufklärung insgesamt gelte, wozu in den Fußnoten einschlägige Literatur von Koschorke bis Gumbrecht aufgeboten wird, während im Textfluss manch wunderliche Orgie des Körperjargons statthat.

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Imagination und Imaginäres

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In Wolfgang Matzats »Vergessen und Erinnern in Rousseaus Nouvelle Héloïse« (S. 355–374), mit dem er seiner Diskursgeschichte der Leidenschaft (1990) ein Kapitel anfügen will, geht es wieder ernsthafter zu. Der Beitrag soll dem Nachweis dienen, dass, so die interessante These, der Text von Strukturiertheit durch den Raum in jene durch die Zeit übergehe, was den Roman der Romantik vorbereite. Wird man indes schon die beiden großen französischen Romane über die Zeit, die Éducation sentimentale und Prousts Recherche nicht der Romantik zuordnen, so scheint es ebenso problematisch, zwei aus dem normativen Gehalt des Rousseauschen Romans resultierende psychische Sekundäreffekte verselbständigen zu wollen. Im Triangel von Clarens sollen Saint-Preux und Julie ihre Liebe nicht etwa ›vergessen‹, diese soll vielmehr durch den Lebenszusammenhang des semiutopischen Ortes gegenstandslos werden. Das ist eine Anordnung ohne Freiheit und Identität. So schreibt Matzat zeitweilig auch mit einiger Konsequenz gegen seine eigene These an, nicht zuletzt durch richtige Beibringungen aus den beiden Discours und dem Contrat social. Überzeugen kann der Hinweis auf Wolmars Redeweise im Modus Condillacs, der den didaktisch-utopischen Charakter des Textes unterstreicht. Der Hinweis auf Lockes Auffassung von Erinnerung als Identitätsvoraussetzung trägt hingegen für Rousseau gerade nicht. Auch der Verweis auf die Tradition der Pastorale und des Goldenen Zeitalters spricht gegen die These vom modernen Erinnerungstext. Und schließlich war die Liebe des Paars nie als »gemeinschaftsstiftende[s] Ursprungsereignis« (S. 374) angelegt, wie der Verfasser mit theoretischem Bezug auf Maurice Halbwachs 14 und auf der Basis einiger Textspuren annehmen will. Was Rousseau geschickt als Selbsttäuschungsstrategien der Akteure inszeniert, nimmt Matzat für bare Münze. Die Liebe zwischen Saint-Preux und Julie stand jedoch und steht noch in Clarens strukturell für den Egoismus, der sich gegen die naturrechtliche Pflicht gegenüber den Eltern und die aus dieser Pflicht hervorgegangene Ehe mit Wolmar stellt. Deswegen handelt es sich in der Konstruktion von Clarens auch nicht um eine »liebenswerte Illusion« (S. 374) des 18. Jahrhunderts, vielmehr um die gezielte Diagnose des Scheiterns der Möglichkeit einer widerspruchsfreien Kohäsion in der Privatsphäre, für die das ›Haus‹ von Clarens steht. Um Intimsphäre geht es nicht. Auf diese, im Sinn der Kulturkritik tragische Konstellation des obsiegenden Egoismus werden der Contrat social und der »Roman d’éducation« des Émile in etwa gleichzeitig Antworten auf dem Reißbrett zu geben suchen. Matzat hingegen spricht vom Roman Rousseaus als »Supplement, das den Mangel der Aufklärung an kontinuitätsstiftenden historischen Traditionen beheben solle« (S. 371). Der Nachweis dieser, den Werkkontext zerreißenden These, welche sichtlich die ›Philosophie‹ des Kolloquiums stärken soll, mochte nicht gelingen. Dies belegen auch die den Beitrag durchziehenden Unsicherheitsfloskeln.

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»Schreibendes Imaginieren: Glücksphantasien des Briefromans. Richardson / Rousseau / Laclos« (S. 375–403) betitelt sich der Beitrag von Rainer Warning. Er hat zum Ziel, die »Komplementarität von diskursivem Wissen und narrativer Fiktion« (S. 378) aufzuzeigen. Diderot wird in diesem Zusammenhang zwar erwähnt, nicht jedoch Jacques le Fataliste als Stellvertretertext für einen geplanten Traktat in der Nachfolge von Senecas De vita beata. Kein Hinweis auch auf de Staëls Schriften zu Glück und Selbstmord wie ihre themennahen Romane und Theaterstücke. Der Textanalyse Warnings voraus geht eine ausufernde Kritik an Luhmanns Liebe als Passion via L’institution imaginaire de la société von Cornelius Castoriadis, 15 an der erkennbar wird, dass, trotz eines Hinweises auf Kant, hier in einer, die Ausgangsthese hinfällig machenden Verengung die Glücksthematik mit der Liebesthematik zusammenfallen soll. So ist auch im Folgenden vom diskursiven Wissen nicht mehr die Rede. Stattdessen versucht Warning, den Briefroman aus seinen pragmatischen Bedingungen herzuleiten (S. 382). Bei Richardson ist dies das Aufbau und Gestaltung entscheidend prägende conduct book. Clarissa dient als Negativfolie für das Glücksthema, der Nachweis brauchte nicht eigentlich geführt zu werden. Bei der Untersuchung der Nouvelle Héloïse sieht Warning den pragmatischen Ausgangspunkt in der klassischen Epistolarik und dem Verdecken der Schreibkunst im Horizont der Empfindsamkeit. Hier wird die Debatte mit Luhmann wieder aufgenommen und im Anschluss an Castoriadis die Infizierung des Symbolischen durch das Imaginäre behauptet, wodurch der Brief zum Akt der »Transgression« werde. Die wechselseitige Metaphorisierung von Sexual- und Schreibakt bei Laclos gilt Warning hierfür als evidentester Beleg. Die Beweisführung für eine »libidinöse Besetzung des Schreibens« (S. 390) am Beispiel Rousseaus muss Umwege gehen. Das Thema Glück bleibt hier am Rande der Ausführungen. Wo es nicht kurzerhand in Gott liegt, ist es »momenthaft« (S. 392). Statt ausführlicher Argumentation zur Sache spricht gleichsam als Supplement Derrida mit Castoriadis. Den Liaisons Dangereuses widmet Warning dann mehr Raum. Hier findet er auch zur gewohnten Gediegenheit zurück, stellt das »Schreiben« »in das Zeichen imaginärer Verhandlungen« (S. 394), sieht ein ständiges Aushandeln des Sinns von Schlüssellexemen, liest den Text als »Kampf um Glückserfahrung«, hier sind auch die dichten Belege recht stimmig. Gegen Luhmann mobilisiert Warning Kontingenz, mit Luhmann spricht er dann doch von einer tentativ romantischen Liebe zwischen Valmont und Tourvel. Warum die Alternanz von Euphorie und Dysphorie, so die Quintessenz des Beitrags, sich nur im Briefroman artikulieren könne, nicht aber im Traktat, wie behauptet, wird letztlich nicht plausibilisiert. Den bisherigen alternativen Bewertungen des Textes aus der Perspektive des Libertinismus oder des Tugenddiskurses will Warning durch die Annahme entgehen, beide Haltungen im Text rekurrierten auf die moralistische, im Jansenismus basierte Anthropologie des »amour propre«. Auf die schon von Tzvetan Todorov 16 früh gemachte narrationsanalytische Beobachtung, dass die Monopolisierung der Information am Ende des Romans bei der Vertreterin der Tugend liegt, worin Laclos’ Bewertung erkennbar werde, geht der Artikel in diesem Kontext nicht ein.

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Der dritte Beitrag dieser Abteilung von Rudolf Behrens »Naturwissen und sprachliche Artikulation. Diderots Rêve de d’Alembert als Experimentierraum für eine Theorie transpersonaler Imagination« (S. 405–440) ist einer der wenigen, die nachdrücklich die empirische bzw. naturwissenschaftliche Denkform der Aufklärung thematisieren. Er hat den Hintergrund einer vom Verfasser geleiteten DFG-Forschergruppe zur Einbildungskraft im 18. Jahrhundert und vermeidet die vielen der übrigen Beiträge eigene Tendenz zur Selbstabschottung. Ausführlich wird der für das Thema relevante wie neueste Forschungsstand referiert und erörtert, man vermisst lediglich das ältere, aber substanzreiche Vorwort zur Volksausgabe des Rêve in den Editions Sociales 17 von Jean Varloot, den Behrens für einen kurzen und schwächeren Artikel in der Reihe »Wege der Forschung« rügt. 18 Im Anliegen geht es dem subtil und genau argumentierenden Beitrag von Behrens um den Nachweis der diskursiven Affinität von Rede und Naturwissen sowie um den Nachweis der Wege und der Funktion des semantischen Überschusses in der literarischen Artikulation des Textes (S. 411). Der epistemische Gewährsmann ist zunächst Foucault. Die Dichte der zum Rêve aufgezeigten theoretischen Bezüge ist nicht erschöpfend darzustellen. Im Zentrum steht die These, dass die Form des Traums seinem Gegenstand von der sensitiven Materie nicht äußerlich sei. Grundsätzlich vorgeführt wird dies einerseits am Thema der Metamorphose (Pygmalion), ein probates und zugleich synthetisierendes Bild für Fragen der Naturentwicklung, auch ein Bild für die Übergänge in der Gesprächssituation zwischen d’Alembert, dem Arzt Bordeu und Mlle de Lespinasse, sowie andererseits am Bild der Resonanzen, das eine auf Differenz und Zentrifugalität gerichtete Dynamik freisetze und zugleich auf eine vitalistische Theorie der transpersonalen Einbildungskraft aus sei. Wichtig ist die Beobachtung, dass eine kategoriale Grenze zwischen diskursiver Logik (Bordeu) und Traum (d’Alembert) letztlich nicht erkennbar ist. Dies bestätigt Diderots grundsätzliche Vernunftleitung bei seiner keineswegs vorbehaltlosen Lösung von der Mathematik als Leitepisteme. Ein Grenzüberschreiter des repräsentationslogisch kodifizierten Wissens der klassischen Ära, wie Behrens es sieht, ist Diderot in gewissem Sinn schon, doch kann diese These nicht nur über »einen sprengenden Imaginationsbegriff« (S. 437) befestigt werden, wäre vielmehr stärker mit dem Paradigmenwechsel zum organologischen Denken insgesamt zu vermitteln, ggf. auch einer Konfrontation mit der von Diderot nicht selten gesuchten Nähe zu Rabelais auszusetzen. Die von Behrens markierte Vorläuferschaft Diderots zu Charles Victor de Bonstetten 19 und Novalis gibt interessante und erwägenswerte Ausblicke. Den Kontakt zu seinem Autor scheint der Beitrag nur da etwas zu verlieren, wo er zum Ende ohne innere Notwendigkeit den Anschluss an den Bandheiligen Castoriadis sucht und er den Schreibimpuls des Rêve in die Nähe eines »grundlose[n] Begehren[s]« (S. 439) rückt.

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Arbeit an der Aufklärung

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Die Schlussabteilung konzentriert in sich noch einmal die Bandabsicht. Zunächst geschieht dies in Roland Galles Artikel »Erschütterte und restituierte Ordnung. Zum Eindringen der Aufklärung in die Theorie der Tragödie und des Tragischen« (S. 443–488), dessen etwas merkwürdige Titelsemantik des ›Eindringens‹ die Aufklärung wie einen Fremdling betrachtet. Die Ausmündung des Beitrags zeigt in der Rede von einem unwandelbaren Inneren im Zeichen von Ödipus und Todestrieb (S. 487) eine psychoanalytisch-ontologische Sichtweise an. Der Beitrag versteht sich selbst als geschichtliche Skizze einer als zeitweilig begriffenen Auflösung des Tragischen durch den Prozess der Zivilisation (S. 444). Hierzu beginnt er mit einer umfangreichen, schnell springenden, auf Nietzsche fokussierten Ausführung zum 19. und 20. Jahrhundert. Magerer sachlicher Ertrag für die Aufklärungsforschung ist die Bereitstellung von einigen, z.T. zum Zitatstandard gehörenden Ausführungen, welche die Interiorisierung des Tragischen gegenüber der Antike, vom ›Schicksal‹ zu den ›Leidenschaften‹ beobachten (Staël, Chateaubriand), deren Bändigung durch Bienséance wiederum als Fortschritt gelesen wird (Voltaire) bzw. deren Wirken in einem harmonieorientierten Naturbegriff versöhnt werden kann (Marmontel). Wenig überzeugen können die Ausführungen zum bürgerlichen Trauerspiel, speziell zu Diderot, dessen soziale Dimension gänzlich außer Betracht bleibt. Kaum interessant sind die Ausführungen zum italienischen Kontext. Die Behauptung, dass die Theorieansätze der Aufklärung in der Funktion einer Vorgeschichte für die spätere Repristinierung des Tragischen (sc. bei Nietzsche und Freud) gelesen werden könnten, bleibt ohne Evidenz, steht aber kongruent zur Absicht. Auf die Idee, dass Rousseau es ist, der die Tragik der Moderne formuliert, wenn man davon sprechen will, kommt Galle nicht.

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Der Beitrag von Gerhard Neumann mit dem Titel »Französische Aufklärung und deutsche Romantik. Voltaires Dictionnaire philosophique und Hardenbergs Enzylopädistik« (S. 489–512) hat zum Fluchtpunkt Novalis. Hier geht es um Klassifikations- und Ordnungssysteme des Wissens. Die Encyclopédie, die in der Darstellung einen ebenso breiten Raum einnimmt wie Voltaires tragbares Wörterbuch, steht für Hierarchie, Wissensbaum und Wissenskarte, Voltaires Verfahren steht für anekdotische Kritik an Systemen, das von Novalis steht für eine nach Neumann gegen beide Klassifizierungsarten gerichtete Poetik des Wissens mit der Schlüsselsemantik von Sprung, Bruch und Spaltung und Denkformen der Deformation, Alteration und Variation, der Hybridisierung etc. Vorbild dieser organologischen Enzyklopädistik sei Goethes Wilhelm Meister. Erzählen wird zum Wissensmodell. Man spürt, dass der elegant schreibende Verfasser besser bei Goethe und Novalis zuhause ist als etwa bei Diderot, der die Denkform des Vorworts der Encylopédie bekanntlich bald verlässt. Auch sind Voltaire und Novalis letztlich nicht kommensurabel. Schließlich vermisst man insgesamt eine gewisse Rahmung des Themas. Die Bibel oder Homers Epen als Bücher des Wissens und ihr Statuswandel im 18. Jahrhunderts bleiben außer Betracht; ebenso Lichtenbergs Feuerwerke der Klassifikation; dann das sich eine ganze Bibliothek selbst erschreibende Schulmeisterlein Wutz bei Jean Paul; schließlich Flauberts Positivismus- und Aufklärungskritik in Bouvard et Pécuchet, dem satirischen Wörterbuch der Gemeinplätze. Die Vorliebe des Verfassers gilt Novalis, wie es seine Rede von dem »Blüthenstaub« als »schönste[m] Bild« (S. 512) für die vermeinte neue Wissensanordnung andeutet.

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Auch beim Schlussbeitrag von Helmut Pfeiffer »Gewalt und Negativität. Sade in der Moderne« (S. 490–513), der im Medium Sades den Spuren der Vernunftkritik von Foucault, Horkheimer / Adorno, Maurice Blanchot, Georges Bataille und Pierre Klossowski folgt, ist mehr von der Diagnose des Weltzustands des 20. Jahrhunderts zu erkennen als von der Aufklärung, die Sade in ihrem Glücksanspruch in libertiner Anmaßung outriert und in ihrem Vernunft- und Tugenddiskurs parodiert. So jedenfalls sieht es aus, wenn man den Autor funktional in den Ausgang der Epoche stellt. Wo Klossowski annimmt, dass die Serialität der sexuellen Gewaltakte nicht auf eine Autonomie des Ich, sondern auf seine Desintegration verweise, wäre gerade nach dem historischen und sozialen Substrat dieser Desintegration zu fragen, statt sie umstandslos als existentiellen Vorschein des Subjektstatus der ästhetischen Moderne zu deuten. Dies liegt jedoch nicht in Pfeiffers Interesse. Wohl konstatiert er in der einfühlenden Nachzeichnung die fehlende Distanz seiner Autoren zu ihrem, zunehmend in den Status eines ontologischen Befunds rückenden Gegenstand, er zieht aber daraus keine Konsequenzen. Weder durch Rekurs auf die Forschung im engeren Sinn, noch durch die Darlegung einer eigenen Position.

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3. Fazit

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Jeder Interpretationszugang versucht einen neuen Sinn zu stiften. Dieser Band ist in mehrfacher Hinsicht ein Dokument im Horizont der tradierten Topoi der Vernunft- und Wissenskritik. Insofern wäre ein Titel des Typs ›Die Grenzen der Vernunft in der Aufklärung‹ schlüssiger gewesen, angesichts der Anciennität dieses Paradigmas vermutlich jedoch weniger interessant am Markt. So segelt das Schiff gewissermaßen unter falscher Flagge. Den Kompass bildet das im Vorwort semantisch mehrfach benannte, aber dort in der Herkunft unausgewiesen bleibende, aus den 1970er Jahren stammende Konzept des ›Imaginären‹ von Cornelius Castoriadis, einer der im 20. Jahrhundert häufigen Auflehnungsversuche gegen gesteigerte Vergesellschaftung. Das Konzept steht bei Castoriadis in der Tradition der Entfremdungskritik, der Praxisphilosophie, der Psychoanalyse und des politischen Anarchismus. Hier nun wird es als Suchbegriff bzw. Befreiungsformel instrumentiert und als »unhintergehbare Transzendentalie« (S. 380) gegen die kodifizierende Macht der Symbolismen, speziell gegen die funktionale Kälte der Systemtheorie Luhmanns in Stellung gebracht, soll wohl auch dem dezentrierten Subjekt des 21. Jahrhundert verbleibendes Widerspruchspotential suggerieren. Rimbauds Bateau ivre ist jedoch keinesfalls ein Wegbegleiter. In der Summe werden ein historisierter Derrida, ein auf Episteme reduzierter Foucault und ein um die politische Dimension beschnittener Castoriadis zu Leihgebern einer gepflegten, akademisch matten Generalsemantik aus Mangel, Supplement und Imaginärem. Diese Semantik wird als vernunft- bzw. kulturkritische in die Aufklärung zurückgeschrieben. Die latente Intention ist der Rettungsversuch der mit der Literatur der Postmoderne stark beschädigten Autonomieästhetik durch ihre anachronistische Universalisierung. 20

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Auf der Ebene der Gegenstände im engeren Sinn interessiert deswegen vornehmlich der Aspekt der Vorläuferschaft zu Romantik und ästhetischer Moderne. Derart entsteht ein fragmentarischer und auch fragwürdiger Kanon, wie es in der Regel der Fall ist, wenn Intentionen sich vor Sachlogiken schieben. In der Konsequenz führt dies zu manch modischer Reformulierung, kompensatorischen Pathosformeln, bisweilen auch zu deutlichen Verzeichnungen des Textsinns. Das im Eingang zentral gestellte Wissen erscheint nur für drei Beiträge konstitutiv. Zwischen Fiktion und ›Imaginärem‹ wird nicht recht geschieden, ebenso nicht zwischen Imaginärem und Imagination. Man kann dies auch als Strategie verstehen. Wer lernen will, wie man semantische und institutionelle Hegemonie herstellt, wird jedenfalls aus diesem Band einigen Gewinn ziehen. Im Sachlich-Argumentativen zieht man einen solchen, wie gesehen, nur gelegentlich.

 
 

Anmerkungen

Winfried Schröder u.a. (Hg.): Französische Aufklärung. Leipzig: Reclam 1974.   zurück
Siehe u.a. Michel Delon / Pierre Malandain: Littérature française du XVIIIe siècle. Paris: Presses Univ. de France 1996.   zurück
Sebastian Neumeister (Hg.): Frühaufklärung. (Romanistisches Kolloquium VI) München: Fink 1994.   zurück
Vgl. zur begriffgeschichtlichen Entwicklung von ›Lettres‹, ›Belles-Lettres‹, ›Littérature‹ u.a. bereits Claude Cristin: Aux origines de l’histoire littéraire. Grenoble 1974.   zurück
Jörn Garber / Heinz Thoma (Hg.): Zwischen Empirisierung und Konstruktionsleistung: Anthropologie im 18. Jahrhundert. Tübingen: Niemeyer 2004, sowie der Abschlussbericht: http://www.izea.uni-halle.de/dfg/downloads/dfg-abschlussbericht.pdf.   zurück
Nicht genannt werden u.a. Martin Fontius / Werner Schneiders (Hg.): Die Philosophie und die Belles-Lettres. Berlin: Akademie-Verlag 1997; Gabriele Dürbeck: Einbildungskraft und Aufklärung. Perspektiven der Philosophie, Anthropologie und Ästhetik um 1750. Tübingen: Niemeyer 1998.   zurück
Vgl. neuerdings auch Manfred Beetz / Jörn Garber / Heinz Thoma (Hg.): Physis und Norm. Neue Perspektiven der Anthropologie im 18. Jahrhundert. Göttingen: Wallstein 2007.   zurück
Gunhild Berg: Erzählte Menschenkenntnis. Tübingen: Niemeyer 2006.   zurück
Ursula Winter: Der Materialismus bei Diderot. Genève: Droz 1972; neuerdings Paolo Quinti: La pensée critique de Diderot. Matérialisme, science et poésie à l’âge de l’Encyclopédie 1742–1782. Paris: Champion 2001.   zurück
10 
Herbert Jaumann: Critica: Untersuchungen zur Geschichte der Literaturkritik zwischen Quintilian und Thomasius. Leiden [u.a.]: Brill 1995.   zurück
11 
Martin Fontius: Kritisch/Kritik. In: Karlheinz Barck u.a. (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe, Bd. 3, Harmonie-Material. Stuttgart: Metzler 1991, S. 450–488.   zurück
12 
Jean-Jacques Rousseau: Diskurs über die Ungleichheit = Discours sur l'inégalité. Übers. u. kommentiert von Heinrich Meier. (UTB 725) Paderborn [u.a.]: Schöningh 1984. Georg Bollenbeck: Eine Geschichte der Kulturkritik von J. J. Rousseau zu Günter Anders. München: Beck 2007.   zurück
13 
Karl Marx / Friedrich Engels: Werke. Bd. 20. Berlin 1962, S. 129-131.   zurück
14 
Maurice Halbwachs: La mémoire collective. Paris: Presses Univ. de France 1950.   zurück
15 
Niklas Luhmann: Liebe als Passion. Frankfurt: Suhrkamp 1982. Cornelius Castoriadis: L'institution imaginaire de la société. Paris: Seuil 1975.   zurück
16 
Tzvetan Todorov: Les Catégories du récit littéraire. In: L’analyse structurale du récit, Communications 8 (1966), S. 131-157.    zurück
17 
Denis Diderot: Textes chosies, T. 3: Le rêve de D'Alembert: texte intégral ‚d’après la copie inéd. de Léningrad‘ prés. et ann. par Jean Varloot, Paris : Éd. sociales, 1971, S. VII-CXXXVIII.   zurück
18 
Jochen Schlobach (Hg.): Denis Diderot. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1992.   zurück
19 
Charles Victor de Bonstetten: Recherches sur la nature et les lois de l’imagination. Genève 1807.   zurück
20 
Vgl. in etwas anderer Kompositionsweise bereits Fritz Nies / Karlheinz Stierle (Hg.): Französische Klassik. München: Fink 1984.   zurück