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Auf der Suche nach dem »erweiterten Autor«

Kurztexte pragmatisch betrachtet

  • Jan-Steffen Mohr: Epigramm und Aphorismus im Verbund. Kompositionen aus kleinen Textformen im 17. und 18. Jahrhundert (Daniel Czepko, Angelus Silesius, Friedrich Schlegel, Novalis). (Mikrokosmos 78) Frankfurt/M. u.a.: Peter Lang 2007. 417 S. Broschiert. EUR (D) 71,70.
    ISBN: 978-3-631-57365-5.
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Mit seiner Monographie Epigramm und Aphorismus im Verbund unternimmt Jan-Steffen Mohr den gewagten Versuch, Ordnung in jene literarischen Gattungen zu bringen, die eigentlich von ihrer Unordnung leben. Nicht selten sind die »Kompositionen aus kleinen Textformen« gerade als Gegenmodelle zum Ideal einer systematischen Erschließung und Darstellung der Wahrheit konzipiert worden: Die facettenreiche Sammlung von Kurztexten soll die bunte Vielfalt der Welt veranschaulichen und diese eben nicht in der trüben Einheitlichkeit des logischen Argumentierens verschwimmen lassen. Entsprechend schwierig muss die Aufgabe sein, mit einem literaturwissenschaftlichen Instrumentarium Struktur und Inhalt solcher Sammlungen zu erfassen.

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Unter diesen Voraussetzungen kommt dem Ansatzpunkt der Untersuchung besondere Bedeutung zu. Die Textauswahl überrascht zunächst; stehen sich doch mit barocken Epigrammen und frühromantischen Fragmenten zwei Textformen gegenüber, die außer ihrer relativen Kürze nicht viel gemein zu haben scheinen. Zum einen widmet sich Mohr Daniel Czepkos Sexcenta Monodisticha Sapientum und Angelus Silesius’ Cherubinischem Wandersmann – also in der Mitte des 17. Jahrhunderts entstandenen Sammlungen von geistlichen Sinnsprüchen. Danach rücken Fragmente Friedrich Schlegels und Novalis’ in den Blickpunkt; allerdings nicht die populären Athenäumsfragmente, sondern kleinere Sammlungen wie Schlegels Ideen bzw. Novalis’ Glauben und Liebe und Blüthenstaub.

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Der pragmatische Ansatz

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Die Klammer, mit der Mohr dieses doch vergleichsweise heterogene Textcorpus umschließt, bringt er auf den Begriff der »Situation«. Diese definiert er als »Konfiguration von textexternen und textinternen Parametern, die die Lektüre konstituieren« (S. 37). Im Mittelpunkt steht also zunächst der imaginäre Leser, der die Lektüre unter bestimmten historischen Voraussetzungen vollziehe und dem Text mit einer entsprechenden Erwartungshaltung gegenübertrete. Umgekehrt orientiere sich jedoch auch der Autor bei der Abfassung seines Textes an einer solchen Erwartungshaltung des Lesers – Mohr spricht hier in Anlehnung an Luhmann von einer »Erwartungserwartung« (S. 37). Somit müsse eine Analyse gewisse »Voreinstellungen« (S. 38) in den Texten offenlegen, die der Autor an der damaligen sozialen Praxis des Lesens ausgerichtet habe.

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Es überrascht nicht, dass Mohr diesen Ansatz mit einem Rückgriff auf Thesen der Rezeptionsästhetik begründet, namentlich auf diejenigen Wolfgang Isers. Aus dessen Konzepten der »Leerstelle« und des »impliziten Lesers« (S. 44) – in Verbindung mit Harald Wentzlaff-Eggeberts »Texttypologie rezeptiver Kommunikationsmodi« (S. 48) – entwickelt Mohr das Modell eines dialogisch ausgerichteten Textes, der den Leser zu einer aktiven Teilnahme an der »Sinnkonstitution des Geschehens« 1 herausfordert.

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Wie Mohr selbst zugesteht, stellen »Barockgedichte« und »Kurzprosa der Goethezeit« zwei »historisch wie textlinguistisch weit voneinander entfernte Textformen« (S. 47) dar; so bleibt immer noch die Frage offen, in welcher Weise der rezeptionsästhetische Ansatz die Textauswahl konkret rechtfertigen könne. Gegen Ende des Einleitungskapitels erfolgt eine Begründung aus dem Selbstverständnis der jeweiligen Autoren: Der »dialogische Kommunikationsmodus« der frühromantischen Fragmentsammlungen offenbare sich in der theoretisch fundierten »programmatischen Rollenzuschreibung an den Leser als ›erweiterte[n] Autor‹« (S. 49); ebenso zeichne sich die barocke Epigrammatik »durch eine generelle Rezeptionsverwiesenheit« aus, die »auch in der poetologischen Selbstbeschreibung« (S. 50) hervortrete.

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Die Verifizierung dieser Thesen und damit auch die Rechtfertigung des gesamten Untersuchungsansatzes können nur die hierauf folgenden Textanalysen leisten, die den Kern der Monographie ausmachen. Mohr unterstellt, dass die Verfasser beider Teilcorpora ihre Sammlungen »als Kompositionen verstanden, nicht als bloße Versammlungen von autarken Einzelstücken, sondern als Gesamtentwürfe« (S. 37). Im ersten Hauptteil versucht er nun, in den barocken Sinngedichten Czepkos und Silesius’ eben solche Kompositionsprinzipien auszumachen, die auf den Rezipienten und dessen Lesegewohnheiten Bezug nehmen.

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Daniel Czepko: Sexcenta Monodisticha Sapientum

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Eine Schlüsselstellung nehmen in diesem Zusammenhang die jeweiligen Paratexte ein, in denen sich der Autor in direkter Weise an sein Publikum wenden kann: Die Monodisticha Czepkos etwa umfassen neben den Epigrammen selbst noch eine Widmung an Wilhelm IV. von Sachsen-Weimar, mehrere einleitende Gedichte sowie sechs Sonette, die jeweils einem Kapitel von hundert Sinnsprüchen voranstehen.

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Die als »Klingeln« bezeichneten Sonette bilden denn auch den ersten Untersuchungsschwerpunkt Mohrs. Hinsichtlich des rezeptionsästhetischen Ansatzes scheinen sie ergiebig, denn sie richten sich an den Leser und sprechen ihn nacheinander als »Lesenden«, »Forschenden«, »Durchdringenden«, »Befreyten«, »Innigen« und »Seeligen« an. Mohrs Textanalyse ist sorgfältig und perspektivenreich, und auch seiner Schlussthese, in der Abfolge der »Klingeln« stelle sich in Form eines Steigerungsmodells die »geistige Entwicklung eines Du in Annäherung an Gott« (S. 106) dar, kann durchaus unwidersprochen bleiben.

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Ins Stocken gerät die Untersuchung jedoch gerade an der entscheidenden Stelle, nämlich bei der Frage, inwiefern die analytisch gewonnenen Erkenntnisse über die Anordnung der »Klingeln« Aussagen über die Struktur des gesamten Werks ermöglichten. Mohr begnügt sich zunächst mit wenig sprechenden Einzelbeobachtungen, bis er schließlich doch offen zugestehen muss:

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Was in den »Klingeln« als programmatisch entwickelte Ideallinie einer gelingenden Gottannäherung in der andächtigen und reflektierenden Lektüre inszeniert wird, findet keine Entsprechung als konkrete Umsetzung in den einzelnen Epigrammen. (S. 111)
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Doch nicht nur das Verhältnis der Epigramme zu ihren jeweiligen Einleitungsgedichten, sondern auch das Verhältnis der Epigramme untereinander lässt sich nur mit Schwierigkeiten auf einen Begriff bringen. Thematische Kohärenzen sind in den Monodisticha natürlich feststellbar, aber insgesamt zu schwach ausgeprägt, um sich ein aussagekräftiges Bild der Textkomposition Czepkos machen zu können. Der Erkenntnisgewinn beschränkt sich letztlich auf die Feststellung, dass keine Erkenntnisse möglich sind – dies jedoch unterläuft Mohrs pragmatisch orientiertes Projekt, in den Epigrammsammlungen Anhaltspunkte einer gezielten Leserlenkung nachzuweisen.

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Angelus Silesius: Cherubinischer Wandersmann

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In abgemilderter Form lässt sich Ähnliches auch von Mohrs Auseinandersetzung mit dem Cherubinischen Wandersmann behaupten. Der Schwerpunkt seiner Betrachtung liegt auf dem Vergleich einer Epigrammserie Silesius’ mit dem kunsthistorischen Phänomen des Andachtsbildes. Die betreffende Passage (Cherubinischer Wandersmann, IV, 45–53) versetzt den Leser an die Kreuzigungsstätte Jesu und weist natürlich schon allein dadurch Parallelen zum besagten Bildtypus auf.

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Mohr begründet seine These umfassend und präzise, sodass man ihr nur schwer Beliebigkeit vorwerfen kann. Doch stellt sich immer noch die Frage, worin der Mehrwert an Erkenntnis besteht, wenn man in der besagten Epigrammserie die literarische Entsprechung des Andachtsbildes und nicht einfach eine narrativ geprägte Bearbeitung des Kreuzigungsthemas sieht. Hinzu kommt, dass sich die Auseinandersetzung Mohrs mit dem Cherubinischen Wandersmann weitgehend auf jene neun Kreuzigungsepigramme beschränkt und somit eine literaturwissenschaftliche Einordnung der aus 1675 Epigrammen bestehenden Sammlung in angemessener Weise kaum möglich ist.

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Das Modell des andächtigen Lesens erweitert Mohr gegen Ende des ersten Hauptteils um die Vorstellung eines »vagierenden, auch ruminierenden Lesens [...], das weniger die gelesenen Inhalte reflektiert (oder gar interpretiert), sondern als Katalysator für eine reine Andachtshaltung benutzt« (S. 209). Was hier entwickelt und zu Beginn des Kapitels mit »[e]pigrammatische[r] ruminatio« (S. 203) überschrieben wird, ist bezeichnend für den gesamten Gang der Untersuchung: Einerseits verfolgt Mohr konsequent seinen pragmatischen Ansatz weiter, stößt mit ihm andererseits aber immer wieder an die Grenzen der wissenschaftlichen Beschreibbarkeit von literarischen Phänomenen. Wer von einem andächtig in die Lektüre versinkenden Individuum ausgeht, gibt letztlich den Anspruch auf, über kaum fassbare »unterschwellig lenkende oder steuernde Faktoren« (S. 209) und über offensichtliche Themenanalogien hinaus verbindliche Aussagen über die Kompositionsweise eines Werks zu formulieren. Über vagierendes Lesen lässt sich im Grunde eben nur vage sprechen.

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Die Fragmentsammlungen der Frühromantiker

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Auch und vor allem bei der Beschäftigung mit den frühromantischen Fragmentsammlungen steht die Literaturwissenschaft vor dem Problem, sich durch das enge Spalier von System und Systemlosigkeit hindurchzulavieren. Mohr scheint sich bei der Textauswahl der möglichen Schwierigkeiten bewusst gewesen zu sein: Friedrich Schlegel wird durch seine inhaltlich wohl geschlossenste Fragmentsammlung repräsentiert, nämlich durch die Ideen. Auch in seiner Auseinandersetzung mit Novalis widmet sich Mohr mit Glauben und Liebe samt den zugehörigen Politischen Aphorismen einer Sammlung, die eine vergleichsweise klar benennbare übergeordnete Thematik besitzt. Abschließend zeigt er anhand der Blüthenstaub-Fragmente sowie von Nachlassnotaten Novalis’ die Bedeutung der redaktionellen Bearbeitung durch Friedrich Schlegel und Tieck auf.

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Da Mohrs Überlegungen nach eigener Aussage »nicht auf eine ›Gattung (frühromantisches) Fragment‹ ab[zielen], sondern auf einen Schreibmodus innerhalb der Gruppe von Texten, die in den Jahren 1797–1802 im Jenaer Kreis entstanden« (S. 226), tritt die historische Einordnung der Fragmentform in den Hintergrund. Der Einfluss der französischen Moralistik, namentlich des von den Frühromantikern geschätzten Aphoristikers Chamfort, bleibt nahezu unerwähnt; auch Lessing kommt nur am Rande vor, wenn Friedrich Schlegels hermeneutisch gefärbte »Lesemodelle« (S. 226) anhand seiner Vorrede zu Lessings Gedanken und Meinungen und der in den Abschluss des Lessing-Aufsatzes eingestreuten Eisenfeile-Fragmente konstruiert werden.

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Friedrich Schlegel: Ideen

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Genauere Analysen im Frühromantik-Teil beginnen erst mit der Betrachtung der Ideen. Ihre Untersuchung erweist sich schon allein deshalb als wertvoll, weil man mit präziser Textarbeit an einzelnen Fragmentsammlungen in der gegenwärtigen Forschungslandschaft noch Neuland betritt. Mohr gelingt es, die Ideen-Fragmente in weitgehend überzeugender Weise zueinander in Beziehung zu setzen und die Leitbegriffe der Religion, Poesie, Philosophie und Moral zu entwickeln. Aufgrund des spekulativen Charakters der Ideen läuft er jedoch Gefahr, sich zwischen bloßer Wiedergabe des Inhalts und noch spekulativeren Deutungsversuchen zu verlieren.

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Bezeichnend ist wiederum der relativierende Abschluss, der unter Rückgriff auf die frühromantischen Konzepte von »Paradoxie« und »Ironie« sowie mit – durchaus plausiblem – Verweis auf das ›Künstlerfragment‹ (Ideen 114) die Eigenständigkeit jedes einzelnen Standpunkts, die Ablehnung einer Zentralperspektive, aber auch den progressiven Bezug des Einzelnen zum Ganzen propagiert. Das Fazit wendet diesen Gedanken auf die Fragmentform selbst an und verbindet ihn mit dem leserorientierten Grundansatz:

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Der Text ›Ideen‹ stellt das geronnene Substrat einer noch nicht abgeschlossenen Gedankenbewegung dar, die sich im intendierten Rezeptionsakt erneut und je anders vollzieht. (S. 248)
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Novalis: Glauben und Liebe

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Auch mit dem hierauf folgenden Einschub über Ernst Platners Philosophische Aphorismen bleibt Mohr der rezeptionsästhetischen Grundausrichtung seiner Untersuchung treu. In den Mittelpunkt rückt nun die Frage, was der Leser des ausgehenden 18. Jahrhunderts von der aphoristischen Form erwartete, und Platners »System aus Kernsätzen« (S. 253) gibt eine Teilantwort darauf. In den ab 1776 veröffentlichten Philosophischen Aphorismen reiht der Leipziger Mediziner zahlreiche Lehrsätze aneinander, die in einem logischen Zusammenhang stehen und untereinander explizite Querverweise bilden.

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Da – wie Mohr zeigt – Platner im frühromantischen Kreis keine unbekannte Größe gewesen ist, könnten auch dort Einflüsse dieses systematischen Gebrauchs von Aphorismen vermutet werden. In Novalis’ Glauben und Liebe, besonders in dem zunächst zensierten letzten Teil (Politische Aphorismen), macht Mohr solche deutlichen Formen der Kohärenzbildung ausfindig. Hier stehen einzelne Fragmente sogar in grammatikalischem Zusammenhang, indem sie beispielsweise mit Demonstrativ- oder Personalpronomen auf vorhergehende Inhalte Bezug nehmen.

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Mohr hebt außerdem den aus den Fragmenten 58–68 bestehenden »Dialog« hervor, der durch mehrere eingeschobene »aber« zu erkennen sei und unter anderen Vorzeichen an den Dialog am Ende von Ernst Platners Philosophischen Aphorismen anschließe. Das ›Streitgespräch‹ zwischen den einzelnen Fragmenten in Glauben und Liebe vermittelt einen besonders nachhaltigen Eindruck davon, was sich Mohr unter seinem oft eingebrachten Konzept der »Leserlenkung« vorstellt – ein Beispiel, das man allerdings auch nicht überwerten darf, stellt doch das Schreiben in Dialogform seit der Antike eine elementare rhetorische Technik dar.

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Novalis: Blüthenstaub und Nachlassfragmente

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Der letzte Schwerpunkt der Untersuchung befasst sich unter dem Stichwort »Fragmente in Bearbeitung« (S. 295) mit Novalis’ Blüthenstaub- und Nachlassfragmenten. Dies ist das insgesamt wohl aufschlussreichste Kapitel, da sich Mohrs Ausrichtung am Rezipientenverhalten hier erstmals auf konkrete Personen bezieht, nämlich auf die beiden Leser und Bearbeiter Friedrich Schlegel und Ludwig Tieck.

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Zunächst wird gezeigt, wie der sprunghafte und tastende Schreibstil Novalis’ durch das Teilen, Zusammenfügen und Umstellen der Blüthenstaub-Fragmente durch Friedrich Schlegel an Stringenz gewinnt. Mohr steht – im Vergleich zu der von ihm zitierten Forschung (vgl. S. 296) – der Schlegel’schen Redaktion im Allgemeinen positiv gegenüber, vor allem da durch diese die Notate Novalis’ an Wirkungskraft gewännen. Dem lässt sich hinzufügen, dass auch aus Sicht der Frühromantiker der Gedanke des Umarbeitens nichts Anstößiges war; man denke daran, wie Friedrich Schlegel aus Gesprächen zu Tisch oder aus Briefpassagen einzelne Fragmente herauslösen wollte.

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Auch Tiecks Gliederung und Bearbeitung von Novalis’ Nachlassfragmenten stellt Mohr in überzeugender Weise dar. Besonders interessant ist der Nachweis, dass Tieck aus Novalis’ Aufzeichnungen im sogenannten Allgemeinen Brouillon pointierte Aphorismen bildet, indem er einzelne Notizen kürzt, aus ihrem ursprünglichen Zusammenhang löst und isoliert. Indem Tieck »relative sprachliche Konzision durch den Abbau von Referenz« (S. 360) erzeuge, nähere er durch diesen Akt der »Glättung« (S. 361) die Fragmente des Freundes den Sentenzen im Sinne der französischen Moralisten an.

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Fazit

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Gerade die abschließende Auseinandersetzung mit Novalis’ Nachlassfragmenten und ihrer Bearbeitung durch Schlegel und Tieck macht deutlich, dass Mohrs Monographie wichtige analytische Beiträge zu bisher noch unzureichend beachteten Themenfeldern leistet. Seine Interpretationen weisen ein hohes Maß an Text- und Sachkenntnis auf, die er auch in seinen einführenden Bemerkungen über den Forschungsstand zum Aphorismus, Epigramm und Fragment unter Beweis stellt. Der Schreibstil ist im Allgemeinen präzise und reflektiert, zeigt aber an manchen Stellen auch die Tendenz zu einer verklausulierenden Wissenschaftssprache.

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Der eigentliche Schwachpunkt der Arbeit liegt aber in der Gesamtinterpretation der – zumeist treffenden – Einzelbeobachtungen. Mohr macht wenige überzeugende Angebote, wie Epigramm und Aphorismus denn nun »im Verbund« zu lesen seien – meist bleibt der Nachweis von Kohärenzphänomenen auf einzelne Textpassagen beschränkt. Die mangelnde theoretische Fruchtbarkeit des rezeptionsästhetischen Ansatzes zeigt sich auch im Schlusskapitel, das eigentlich die Einzelerkenntnisse einer Synthese zuführen und damit die heterogene Textauswahl nachträglich legitimieren sollte: Es bleiben keine zehn Seiten für die zentrale Frage nach dem übergeordneten Zusammenhang, der die barocken Sinngedichte mit den frühromantischen Fragmenten verbindet – zu wenig, um eine befriedigende Antwort erwarten zu können.

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So bleibt der Eindruck einer bemühten Studie, die zum Kern des Problems noch nicht vorzustoßen vermag, aber viele wichtige Schritte in seine Richtung unternimmt. Vielleicht sind noch mehr wiederkäuende Leser nötig, um sich auf gut frühromantische Weise dem unsichtbaren Nukleus der Fragmente in stetigen Spiralbewegungen noch weiter anzunähern.

 
 

Anmerkungen

Wolfgang Iser: Die Appellstruktur der Texte. In: Rainer Warning (Hg.): Rezeptionsästhetik. Theorie und Praxis. München 1975, S. 228–252, hier S. 236. Vgl. Mohr S. 44.   zurück