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TechnoKratie

Mit Luhmann über Goetz auf Bernhards Wittgenstein

  • Johannes Windrich: TechnoTheater. Dramaturgie und Philosophie bei Rainald Goetz und Thomas Bernhard. München: Wilhelm Fink 2007. 476 S. Broschiert. EUR (D) 58,00.
    ISBN: 978-3-7705-4469-1.
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Namen

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AUSLÖSCHUNG ist die RECHERCHE der Gegenwart. Meine fiktive Doktorarbeit, die ich vor einigen Jahren verschiedenen Dozenten der Berliner FU als mein Arbeitsprojekt darzulegen hatte, um mich re-immatrikulieren zu dürfen, sollte davon handeln: Mit Luhmann über Bernhard auf Adornos Proust. Konstruktion der Gegenwart. PRAXIS. 1
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Dieses aus dem Internettagebuch Abfall für alle von Rainald Goetz stammende Zitat nimmt die Systemtheorie zum Ausgangspunkt für wahrlich umfassende Literaturstudien. In diesem Sinne könnte es der realen Arbeit von Johannes Windrich, auch ihrerseits an der Berliner FU entstanden, beinahe als eine Art Motto dienen. Zwar beschäftigt sich diese mit der ›Konstruktion der Gegenwart‹ eher indirekt, doch verpflichtet sie ebenfalls Luhmann als Oberhaupt eines höchst ungewöhnlichen Vierergespanns, in welchem der erwähnte Rainald Goetz – neben Thomas Bernhard und Ludwig Wittgenstein – nunmehr allerdings selbst zum vielleicht wichtigsten Mitglied avanciert.

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Windrich versucht unter der Ägide Luhmanns aber nicht nur Verbindungslinien zwischen Bernhard, Wittgenstein und Goetz offen zu legen. Luhmann (mindestens) gleichberechtigt zur Seite tritt nämlich – Techno. Denn Techno, dies ist die wohl wichtigste Überzeugung des Autors, lässt sich adäquat nur über den Kommunikationsbegriff der Systemtheorie beschreiben. Techno habe eine Musik des »Bedeutungstransportes« durch eine Musik der »Kommunikation« (S. 12 u. ö.) ersetzt. Nach gedanklichen und ästhetischen Korrelaten einer solchen fahndet Windrich denn auch überwiegend im Werk der genannten Autoren.

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Luhmanns Systemtheorie spielt dabei die ganze Studie hindurch also eine Art Doppelrolle. Zum einen partizipiert sie gewissermaßen an den (auch) für Techno charakteristischen Verabschiedungen von Subjektivität, Identifikation, Kritik etc. Zum anderen stellt sie den privilegierten Analysemodus just solcher Verabschiedungs- und Überwindungsprozeduren dar. Auch wenn Windrich die strukturelle Affinität zwischen Techno und Systemtheorie letztlich Rainald Goetz verdanken mag, 2 bleibt seine Analyse hier keineswegs stehen. Vielmehr spürt er eine Technoästhetik weit über die etablierten Gattungs- und Clubgrenzen hinaus auf, befreit dieselbe vom Odium einer harmlosen Freizeitbeschäftigung und lokalisiert gleichsam strukturelle Vorläufer von Techno bereits in Texten der Hoch- und Spätmoderne.

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Bernhard und Wittgenstein gelangen dabei zwar zunächst einmal über emphatische Aussagen von Goetz zum Werk des ersteren in Windrichs Blickfeld. Allerdings betreibt der Autor auch hier keineswegs Einflussforschung. Sein Augenmerk gilt vielmehr impliziten Affinitäten, die zur Ausarbeitung einer »technoiden Darstellung« (S. 266 u. ö.) von Interesse sind.

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Jenseits der Kritik:
Bernhard, Goetz

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Das Offenlegen spektakulärer Parallelen zwischen Goetz, Wittgenstein, Luhmann, Bernhard und Techno will sorgfältig und geduldig vorbereitet sein. Also wendet sich Windrich zunächst ausgiebig Bernhard und Goetz (S. 19–102) zu und hält nach Gemeinsamkeiten in ihren jeweiligen Werken Ausschau. Solche findet er insbesondere in der Darstellung und Reflexion der ›Wahrheit‹.

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Bei Bernhard fokussiert Windrich eine Werkschicht, die man früher generell ›Sprachkritik‹ nannte. Auch er zweifelt nicht daran, dass Bernhards Werke in immer neuen Anläufen der Sprache die Potenz absprechen, die Wirklichkeit abzubilden. Allerdings tun sie dies seines Erachtens keineswegs in traditionell sprachphilosophischer Form und Tradition. Die behauptete Differenz zwischen Sprache und Wirklichkeit generiere bei Bernhard vielmehr ein Schreibverfahren, das als »Alternative zur Identifikation von Sprache und Welt« (S. 44) begriffen und folglich im Rahmen einer prinzipiell »dynamischen Repräsentation« (S. 45) gesehen werden müsse. Es gehe dabei weder um »Kritik« noch um die »Darstellung von Undarstellbarkeit« (S. 51). Bernhard verabschiede also nicht vollständig die Kategorie der Wahrheit, vielmehr kopple er deren schrittweise Offenbarung an seine eigene literarische und rhetorische Praxis.

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Goetz stellt Windrich hier insofern vor größere Probleme, als dessen Werk gewiss nicht jene Homogenität auszeichnet, die man grundsätzlich (wenn freilich auch in ganz unterschiedlichen Begründungszusammenhängen) dem Bernhardschen attestiert. Daher trifft es sich gut, dass seine Abkehr von der ›Negativität‹ des Frühwerks von Goetz selbst mit der Entdeckung sowohl der Systemtheorie als auch des Techno in Verbindung gebracht wird. Windrich folgt Goetz‘ eigenen Erklärungsversuchen und zeichnet in seinem Werk regelrechte Paradigmenwechsel in der Darstellung insbesondere der Kategorien Körper, Politik und Subjekt nach. Die Systemtheorie erkennt der Autor dabei als Mittel, das es Goetz vornehmlich erlaubt habe, »der Enge subjektphilosophischer Denkmuster zu entrinnen« (S. 66) und etwa mit der Ästhetischen Theorie Adornos ein für allemal zu brechen. Ähnlich wie im Falle Bernhards habe Goetz schließlich zu einem »volitiven Wahrheitsbegriff« (S. 95) gefunden, der ebenfalls nicht losgelöst von der eigenen Schreibweise – etwa über die »Struktur des fortlaufenden Widerspruchs« (ebd.) – betrachtet werden dürfe. Windrich zufolge zeichnen »Offenheit« (S. 96) und das »Konzept eines dynamischen Denkens« (ebd.) die Arbeiten Goetz‘ (wie auch Bernhards) denn auch gleichermaßen aus.

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Im Club

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Auf diese Ausführungen lässt der Autor einen langen Exkurs zu Techno folgen (S. 103–163). Er beginnt mit einem prägnanten Überblick über Pop und Poptheorie, zeigt Verbindungslinien, aber auch gravierende Unterschiede zwischen Pop und Techno, insbesondere in der Bewertung der »Dissidenz« (vgl. etwa S. 117), welcher Techno bekanntlich skeptisch beziehungsweise indifferent gegenüber steht. Nach einer knappen Skizze der wichtigsten historischen Entwicklungslinien gelangt Windrich – Goetz immer im Blick – zu zusehends systematischeren Bestimmungsversuchen. Als besonders wichtig erweisen sich dabei sowohl das Verhältnis zwischen den Tänzern, welches er als ein Oszillieren zwischen Nähe und Distanz (vgl. etwa S. 130 f.) kategorisiert als auch jenes zwischen DJ und Tänzermasse, das als ungewohnt dynamisch und interaktiv betrachtet wird. Idealerweise soll es keine subjektiven Zuschreibungen auf der Handlungsebene mehr zulassen: »Die optimale Party ist dann erreicht, wenn die Urheberschaft der Veränderungen weder dem einen noch dem anderen Pol zugeordnet werden kann« (S. 137).

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Figuren von Oszillation und Interaktion macht Windrich dabei in allen wesentlichen Bereichen des Techno aus. Hieraus folgt nun vor allem, dass Techno keine »lineare« (S. 137 u. ö.) Musik darstellt, die einen »vorgegebenen Zusammenhang reproduziert« (ebd.). Techno entstehe vielmehr spontan aus dem »Zusammenwirken« (ebd.) von DJ und Tänzermasse und wird von Windrich als »räumliche Musik« (S. 144 u. ö.) begriffen; diesen »Eindruck ins Dreidimensionale« (S. 157) weist er im Übrigen penibel auch an einzelnen Tracks (von Basic Channel, Jeff Mills und Central) nach. Für Techno charakteristisch ist dem Autor zufolge jedenfalls eine »grundlegende Dialogizität, die Öffnung des Einzelnen für die Vielen und den Körper – Kommunikation« (S. 159).

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Sprache:
Wittgenstein, Bernhard

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Nach diesen größtenteils apologetischen Kommentaren zum Techno wendet sich Windrich zunächst der Sprachphilosophie Wittgensteins zu, insbesondere um anhand der Philosophischen Untersuchungen eine »gedankliche Praxis« (S. 166) zu beleuchten, die manifeste Verbindungslinien zum Bernhardschen Schreiben offenbare (S. 165–206). Der Autor folgt dabei jenem Teil der Forschung, der zwischen dem frühen Wittgenstein des Tractatus und dem späteren der Philosophischen Untersuchungen einen radikalen Bruch geltend macht und vor allem letzteren als zentralen Bezugspunkt Bernhardscher Schreibverfahren betrachtet. Dabei ist es stringent, teils aber sicher auch waghalsig, dass der Autor sein Wittgenstein-Kapitel dezent auf die vorherigen Ausführungen abstimmt und es klar auf Phänomene wie Dialogizität und Kommunikation zulaufen lässt:

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Die Sprache beruht auf kulturellen Übereinkünften, nicht aber auf intern verfügbaren Urelementen, die ein Verstehen und Erfahren unabhängig von aller intersubjektiven Kommunizierbarkeit gewährleisten könnten. (S. 171)
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Im rhetorischen Verfahren Bernhards erblickt Windrich ein Äquivalent dieser antimetaphysischen Philosophie. Die tiefe Affinität zwischen Wittgenstein und Bernhard bestehe dabei in der Abwehr jeder »fixierten Repräsentation« (S. 205), die bei Bernhard aber freilich allein über eine Analyse der Schreibweise eingefangen werden könne.

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Kommunikation und Kunst:
Luhmann, Goetz

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Luhmanns Konzeption von Kommunikation und Kunst sowie deren Rezeption durch Rainald Goetz geht das folgende Kapitel nach (S. 207–265). Den Luhmannschen Kommunikationsbegriff erläutert der Autor geduldig, dezent, ja letzten Endes sogar nur implizit vor dem Hintergrund seiner Wittgenstein-Analyse. Zumindest legt seine Paraphrase der Beziehung von der Differenz zwischen ›Information‹ und ›Mitteilung‹ und dem Sprach- oder Zeichengebrauch (vgl. S. 227) einen solchen Zusammenhang nahe, wenn er darauf insistiert, dass die »Mitteilung« Luhmann zufolge (auch) die »Bedeutung« (ebd.) des Wortes konstituiert. 3

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Das Verhältnis der Kommunikationspartner in der Systemtheorie bestimmt der Autor in einem zweiten Schritt dann ähnlich wie jenes der Techno-Tänzer:

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Alter würde demnach insofern zur Annahme seiner Kommunikation motivieren, als es die rezeptive Haltung Egos in die eigene Bedeutungsstiftung integriert. [...] Luhmann faßt die Beziehung von Information und Mitteilung generell als ein Verweisungsverhältnis [...]. Demnach beruht Kommunikation in gewissem Sinn auf einer Oszillation zwischen Bezeichnen und Bezeichnet-Werden. (S. 237)
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Windrich beschäftigt sich nun aber keineswegs nur mit (teils unterschwelligen) Feinheiten des Luhmannschen Kommunikationsbegriffs – diesem Teil seiner Ausführungen legt er größtenteils Die Gesellschaft der Gesellschaft zugrunde –, er fahndet auch nach Vergleichspunkten der erwähnten Oszillation(en) in Luhmanns Kunstverständnis. Solche erblickt er sowohl im Verhältnis zwischen Beobachtungen erster und zweiter Ordnung (vgl. S. 246 ff.) als auch (und damit einhergehend) in jenem zwischen Produktion und Rezeption von Kunst. Vor allem dadurch, dass die Produktion von Kunst als ein Beobachten begriffen werde und der gesamte Prozess sich letztlich dadurch auszeichne, dass der eine Kommunikationsteilnehmer die Wahrnehmung des anderen wahrnehme und folglich die Perspektive des anderen übernehmen müsse, um zur eigenen zu gelangen (vgl. S. 251), unterlaufe Luhmann jede traditionelle Unterscheidung zwischen aktiv und passiv und entsprechend lasse sich die Beziehung zwischen Produzent und Rezipient als eine »symbiotisch-komplementäre[]«(ebd.) fassen.

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Goetz‘ Verständnis von Techno wird Windrich zufolge wesentlich – wenn auch nicht explizit – von diesen Luhmannschen Parametern gesteuert. Relevant sind dabei auch noch die (zunächst systemtheoretischen) Begriffe des ›blinden Flecks‹ und der ›Latenz‹ (vgl. S. 218, 258, 264) – im weitesten Sinne also die Trennung der Beobachtung vom »Selbstwissen« (S. 218) des Beobachters:

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Techno-Musik läßt sich [...] gleichsam als Kommunikation mit einer besonderen Rolle der Latenz begreifen, als ein Wechselspiel, in dem ständig der ›blinde Fleck‹ des einen Pols aufgespürt und mit einem neuerlichen Vorschuß von zur Beobachtung freigegebener Körperlichkeit beantwortet wird. Der Latenzbegriff ist deshalb so wichtig, weil er den Punkt des Umschlagens markiert. Er leistet die theoretische Begründung dessen, was den Dialog zwischen DJ und Tänzern sowie zwischen linearen und räumlichen Komponenten in Gang hält [...]. (S. 264)
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»Technoide Darstellung«

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Unter dem Begriff der »technoiden Darstellung« versucht Windrich ein »Funktionsmodell« (S. 266) zu erarbeiten, das die Wittgenstein-Rezeption Bernhards und die Luhmann-Rezeption Goetz‘ unter dem Banner des Techno zusammenführt und verknüpft (S. 266–294). Dabei unterschlägt der Verfasser nicht, dass es zwischen den vier Autoren (und dem Beat des Techno) teils gravierende Unterschiede gibt, doch sucht er unablässig nach formalisierbaren Affinitäten. Nach knappen Abgrenzungsversuchen in Richtung Adornos und Derridas stößt Windrich zu der folgenden Definition des Technoiden vor:

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Die Darstellungsweise eines Kunstwerks ist dann als ›technoid‹ zu bezeichnen, wenn es alle linearen, vom Bewußtsein erfaßbaren Aspekte im gleichberechtigten Austausch mit einer bildlich-sensuellen Parallelwelt hält; die sich dadurch entfaltende offene Struktur kann weder auf die Einzelperspektive des Subjekts noch auf die Evokation differenter Wahrnehmungen und Spracherfahrungen reduziert werden, denn all diejenigen Momente, die für die individuelle Distanznahme relevant sein könnten, lösen sich im nächsten Atemzug wieder in eine grenzüberschreitende Energie auf. (S. 292)
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Theater

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Dieses Konzept des ›Technoiden‹ weist der Autor im Theater sowohl Bernhards als auch Goetz‘ nach (S. 295–417). Dass das Theater besonders geeignet ist, eine ›technoide‹ Darstellung zu exemplifizieren, leuchtet unmittelbar ein. Schließlich befinden sich Zuschauer und Schauspieler hier in der Tat in einer Art Kommunikationsmodell und auch die erwähnte »bildlich-sensuelle Parallelwelt« ist neben der Sprache auf der Bühne generell gegeben. Diesen Momenten versucht Windrich nun allerdings nicht im klassischen Sinne theaterwissenschaftlich beizukommen, vielmehr hält er in den Texten Ausschau nach Elementen, welche Kommunikation und Aufführungspraxis strukturieren und reflektieren.

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Der Autor untersucht dabei im Falle Bernhards nicht einzelne Theaterstücke, sondern betrachtet dessen Theater vielmehr als eine Einheit, die den Blick auf die verschiedenen Strukturmomente des ›Technoiden‹ freigibt. So behandelt er etwa ausgiebig das Blindheitsmotiv und die Theatermetaphorik in ihrem jeweiligen Verhältnis zur Sprache. Vor allem aber gilt sein Interesse dem Bernhardschen Konzept des »intelligenten Schauspielers« (S. 315 ff. und S. 332 ff.). Dieser dem Theaterstück Ritter, Dene, Voss entnommene Ausdruck 4 verweist Windrich zufolge grundsätzlich auf ein Konzept »dynamische[r] Repräsentation« (S. 317), schließlich werde der Schauspieler auf diese Art von vornherein nicht (nur) als Reproduzent einer festgelegten Rolle gesehen. Dass sich hierfür eine detaillierte Untersuchung gerade jenes Textes anbietet, der nach realen Schauspielern – Ilse Ritter, Kirsten Dene und Gert Voss – benannt ist, die (auch) sich selbst spielen, liegt auf der Hand. Dieses Kommunikationsmodell, das Windrich durchaus in verschiedenen Ausprägungen untersucht, und die dramaturgische oder besser gesagt: die theatralische Umsetzung der Bernhardschen Sprachauffassung unter dem wiederholten Rekurs auf Wittgenstein bilden den Kern seiner Ausführungen zu Bernhards Dramatik (S. 295–340).

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Mit Katarakt, der Festung-Trilogie und Jeff Koons beschäftigt sich das anschließende Kapitel zum Theater von Goetz (S. 341–417). Wachte im Bernhard-Kapitel in erster Linie Wittgenstein über die Dynamik der Repräsentation, so übernimmt eine vergleichbare Rolle schon auf terminologischer Ebene im Kapitel zu Goetz wiederum in erster Linie Luhmann. Dies ändert aber nichts daran, dass der ausgearbeitete Begriff des ›Technoiden‹ durchaus beide Kapitel zusammenhält und Windrich sich auch bei Goetz vor allem mit Interaktionsverhältnissen in der Kommunikation zwischen Schauspieler und Publikum und dem Wechselspiel von Sprache und Sinnlich-Visuellem befasst.

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Ein besonderes Gewicht kommt dabei erneut dem Phänomen der ›Latenz‹ zu, das dem Autor zufolge im Falle von Goetz eine Art Verbindung zwischen den beiden erwähnten Bereichen (Kommunikation – Sprache/Visualität) herstellt, da Goetz die Differenz zwischen Bild und Schrift gleichsam in den »Spalt zwischen dem Beobachteten und dem Unbeobachteten« (S. 363) »importiere« (ebd.). Anders als bei Bernhard respektiert Windrich in seiner Goetz-Analyse verstärkt die Werkidentität der einzelnen Dramen. Dies führt teils zu faszinierenden Einsichten auch in die Bauweise der Stücke – von Tektonik kann man letztlich nicht sprechen – insbesondere dann, wenn der Autor Formmomente systemtheoretisch wendet und etwa Außenakte als Re-Entrys liest etc. (vgl. S. 386).

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In einem letzten Kapitel ordnet Windrich nach einer knappen Zusammenfassung seiner Ergebnisse das ›technoide‹ Theater knapp literarhistorisch ein, indem er sich primär auf die Diskussionen um ein konventionelle Dramenmomente wie Handlung, Figuren, Dialog etc. auflösendes ›postdramatisches‹ Theater bezieht (S. 418–434). Er konzediert, dass Goetz einem solchen zwar näher steht als Bernhard, macht aber geltend, dass dies keineswegs dazu verleiten dürfe, Bernhard eine ›technoide Darstellung‹ abzusprechen, da diese ja durchaus repräsentationslogisch und nicht theaterspezifisch konzipiert worden sei.

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Fazit

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Die vorliegende Studie erhebt – dies sollte die ausgiebige Paraphrase ihrer Kernthesen hinlänglich deutlich gemacht haben – einen enormen Anspruch. Dieser wird meines Erachtens nicht zuletzt deshalb voll und ganz erfüllt, weil der Autor das Handwerk der literaturwissenschaftlichen Plausibilitätserzeugung glänzend beherrscht, er ein oft geradezu atemberaubendes Gespür im Aufdecken unerwarteter Denkfiguren und Affinitäten zwischen einander auf den ersten Blick oft fern stehenden Autoren an den Tag legt und der gesamte Text in einem wohltuend unaufgeregten Stil verfasst worden ist.

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Wie alle wichtigen Bücher macht sich auch dieses in erster Linie dort angreifbar, wo es selbst wohl sein Verdienst und seine eigentliche Leistung erblicken würde: in seinem hohen Abstraktionsniveau. Dass nämlich Verbindungen zwischen Techno, Wittgenstein, Bernhard, Luhmann und Goetz allein auf einer extrem formalistischen Ebene zu haben sind und sie sich auf einer solchen sowohl nach innen als auch nach außen einer gewissen Beliebigkeit aussetzen, ist evident – ist aber auch gerade deshalb evident, weil die Arbeit ausgezeichnet gemacht ist.

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Dies grundsätzlich zu kritisieren, ginge an den Intentionen des Verfassers also von vornherein vorbei. Indem Windrich für sich in erster Linie jenen literaturwissenschaftlichen Applikationstyp der Systemtheorie in Anspruch nimmt, der »an Luhmanns Bestimmungen zum Verhältnis von Bewußtsein und Kommunikation anknüpft« (S. 16), 5 ist seine Studie zwangsläufig weniger zugänglich und anschlussfähig als etwa Arbeiten zur historischen Semantik. Auch kulturwissenschaftlichen Analysen steht sie fern. Zwar wären solche zum Komplex ›Techno und Literatur‹ sicher denkbar und ein kulturwissenschaftliches Interesse an der Systemtheorie – sowohl was deren tendenzielle Abhängigkeit von kulturhistorischen Paradigmen als auch ihre eventuelle Fruchtbarkeit für die kulturwissenschaftliche Theoriebildung betrifft 6 – ist ja verschiedentlich bereits formuliert worden, doch gilt Windrichs Augenmerk letztlich ausschließlich der ›technoiden‹ Funktionsweise von Kommunikation.

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Befremdlich scheint mir allerdings, dass der Autor diese emphatisch auflädt. Die ganze Studie hindurch erscheint »Kommunikation« nicht lediglich als Funktions-, sondern durchaus auch als Wertungsbegriff. Dort, wo sich Windrich mit Luhmann gegen Schulbildungen wie die Kritische Theorie oder die Dekonstruktion verwahrt, mag dies zwar insofern gerechtfertigt sein, als leicht einzusehen ist, dass erstere zu subjekttheoretisch und letztere zu seinsphilosophisch operiert, um bedeutende Einsichten ins ›Technoide‹ liefern zu können.

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Die Terminologie jedoch, die er auffährt, um die Überlegenheit des ›Technoiden‹ und letztlich auch der Systemtheorie gegenüber anderen theoretischen Modellen wie anderen ästhetischen Darstellungsoptionen zu fundieren, verharrt meines Erachtens streckenweise in weitaus fraglicheren Parametern als jenen, die sie überwinden soll. »Dynamik« (S. 45 u. ö.), »Symbiose« (S. 251), »Offenheit« (S. 96 u. ö.), »Dialogizität« (S. 159 u. ö.): Es mag ungerecht sein, diese Ungetüme hier – zudem etwas ungenau – aus dem Kontext zu zitieren, doch ist augenfällig, dass sie genauso gut den Mottenkisten von Flower Power und Jürgen Habermas entstammen könnten. Ob dies partikulare und letzten Endes kosmetische Versehen des Autors sind, oder ob es unmöglich ist, das ›technoide‹ Kommunikationsmodell (meta-)sprachlich zu fassen, oder ob das ›Technoide‹ mitunter vielleicht doch wesentlich gemütlicheren Vorstellungen von Kommunikation und Subjektivität verhaftet bleibt als Windrich innerhalb seines ›harten‹ systemtheoretischen Ansatzes zeigen will, mag jeder Leser für sich entscheiden.

 
 

Anmerkungen

Rainald Goetz: Abfall für alle. Roman eines Jahres. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1999, S. 201.   zurück
Zum Vergleich zu diesem Komplex neben Windrich jetzt auch die sehr einlässliche Studie von Thorsten Rudolph: irre/wirr: Goetz. Vom ästhetischen Terror zur systemischen Utopie. München: Fink 2008.   zurück
Man erinnere sich nur an den vielleicht am meisten zitierten Satz der Philosophischen Untersuchungen: »Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache.« Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus. Tagebücher 1914–1916. Philosophische Untersuchungen. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1984, S. 262.   zurück
In einer dem Drama nachgestellten Notiz heißt es: »Ritter, Dene, Voss, intelligente Schauspieler. Während der Arbeit, die ich zwei Jahre nach dieser Notiz abgeschlossen habe, waren meine Gedanken hauptsächlich auf meinen Freund Paul und auf dessen Onkel Ludwig Wittgenstein konzentriert gewesen.« Thomas Bernhard: Ritter, Dene, Voss. In: ders.: Stücke 4. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1988. S. 117–227, hier S. 227.   zurück
Windrich erläutert seinen Ansatz mithilfe der vielfach beachteten Typologisierung de Bergs. Vgl. Henk de Berg: Kunst kommt von der Kunst. Die Luhmann-Rezeption in der Literatur- und Kunstwissenschaft. In: ders.: Johannes Schmidt (Hg.): Rezeption und Reflexion. Zur Resonanz der Systemtheorie Niklas Luhmanns außerhalb der Soziologie. Frankfurt/M. 2000, S. 175–221.   zurück
Vgl. v. a. die Sammelbände: Albrecht Koschorke/ Cornelia Vismann (Hg.): Widerstände der Systemtheorie. Kulturtheoretische Analysen zum Werk von Niklas Luhmann. Berlin: Akademie Verlag 1999; sowie Günter Burkart/ Gunter Runkel (Hg.): Luhmann und die Kulturtheorie. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2004.    zurück