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Schätze eines Unterschätzten

Schillers theoretische Schriften aus gegenwärtiger Sicht

  • Georg Bollenbeck / Lothar Ehrlich (Hg.): Friedrich Schiller. Der unterschätzte Theoretiker. Köln, Weimar: Böhlau 2007. 241 S. Gebunden. EUR (D) 19,90.
    ISBN: 978-3-412-11906-5.
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Wenn von Schiller die Rede ist, liegt die Assoziation markanter Erinnerungsorte nicht fern. Wird dabei an Marbach und Weimar gedacht, lassen sich noch im Jahr 2007 unvermutete Verbindungen entdecken. Jan Bürger etwa konstatiert im Vorwort des von ihm herausgegebenen Marbacher Tagungsbandes Friedrich Schiller. Dichter, Denker, Vor- und Gegenbild: »unter Theoretikern droht der Dramatiker Schiller derzeit aus dem Bewusstsein zu geraten«. 1 Ihre programmatische Antwort findet diese Feststellung bereits im Titel des Weimarer Tagungsbandes Friedrich Schiller. Der unterschätzte Theoretiker, den Georg Bollenbeck und Lothar Ehrlich gemeinsam herausgegeben haben. Schon das Vorwort verheißt das Ziel der Beiträge: Man will gegen die schon von Schiller kritisierte »›Schlaffheit‹ auch der Intellektuellen engagiert« (S. 8) angehen.

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Strukturell lassen sich innerhalb des Tagungsbandes fünf inhaltliche Schwerpunkte erkennen. Zwar ist keine thematische Gliederung der Beiträge vorgegeben, doch werden vor allem die Geschichtsphilosophie Schillers, seine Bezugnahmen auf die zeitgenössische Philosophie, seine vermuteten wie unvermuteten theoretischen Positionen sowie die Rezeption seiner theoretischen Schriften behandelt.

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Der geschichtsphilosophierende Theoretiker

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In seinem einleitenden Beitrag untersucht Georg Bollenbeck den fundamentalen Umschlag in Schillers Denken, den Wandel vom Zukunftsoptimismus, von dem die Antrittsvorlesung getragen ist, zur radikalen Gesellschaftskritik, die in den ästhetischen Schriften unter Rekurs auf Rousseau formuliert wird. Bollenbecks Anliegen ist es dabei, Rousseau und Schiller als Begründer einer modernen Kulturkritik zu erweisen. Das erfordert zunächst eine Bestimmung des »notorisch unterbestimmten und offenbar unvermeidbaren Begriff[s]«:

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Kulturkritik wird hier als ein Reflexionsmodus der Moderne verstanden, der gegenüber den Fortschrittsgewissheiten der Moderne auf die Kosten und Zumutungen der Moderne verweist, indem er eine wertende Differenz zwischen einem Ideal als normativem Punkt […] und den schlechten Verhältnissen und Verhaltensweisen in der Gegenwart herausstellt. (S. 13)
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Mit dieser abstrahierten Definition entgeht Bollenbeck dem Vorwurf, dass Schiller nicht erst mit den Briefen Über die ästhetische Erziehung des Menschen zum Kulturkritiker geworden sei. Schließlich hatte Schiller schon in seinen frühen theatertheoretischen Schriften die Kultur des französischen Klassizismus entschieden bekämpft. Wird Kulturkritik jedoch – wie im Zitat kenntlich – mit einem eminent philosophischen Anspruch aufgeladen, ist sie nicht mehr allein auf Literaturkritik zu reduzieren, sondern vorrangig als Zivilisationskritik zu begreifen. In dieser Hinsicht nähert sich Bollenbecks Bestimmung Schillers Konzept des Naiven und Sentimentalischen. Darin wird aufgrund der sentimentalischen Erkenntnis einer qualitativen Differenz von disharmonischer Gegenwart und harmonischer Vergangenheit die unterstellte naive Einheit des einstigen Zustands zum zukünftigen Ideal der Menschheitsentwicklung stilisiert. Auch hier ist das sowohl retrospektiv als auch prospektiv verortete Ideal der Bezugspunkt für die Beurteilung der Gegenwart.

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Die Engführung der Werkbiographien Rousseaus und Schillers lässt im Falle Rousseaus den »Eindruck« entstehen, »er präsentiere sich von Beginn an in der literarischen Öffentlichkeit als Kulturkritiker« (S. 15). Indem Bollenbeck demgegenüber auf Schillers in der Antrittsvorlesung artikulierte Vorstellung von der Universalgeschichte als Heilsgeschichte verweist, kann er die größtmögliche Opposition zu Rousseau konstruieren. Doch Bollenbeck weiß um den vereinseitigenden Schematismus dieser Argumentation: Nicht nur die von einer skeptischen Grundhaltung getragenen Briefe über Don Karlos, sondern auch Schillers mit der Antrittsvorlesung verfolgtes »Resonanzkalkül«, »die Schatulle des Herzogs [zu] öffnen und die Herzen des akademischen Publikums [zu] gewinnen« (S. 23), verdeutlichen, dass sich Schillers geschichtsphilosophisches Denken um 1789 nicht plan mit den optimistischen Fortschrittshoffnungen der Antrittsvorlesungen identifizieren lässt.

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Bekanntlich ist es die historische Erfahrung gewaltsamer Ausschreitungen während der Französischen Revolution, die Schillers Geschichtsbild in der Folge eindunkelt. Signifikant werde das, so Bollenbeck, am Begriff ›Revolution‹ sichtbar: Stand sie vor den Umwälzungen in Frankreich für die Möglichkeit einer progressiven Entwicklung der Menschheit, »gerät sie nun als brutale Tat einer ›verderbten Generation‹ zum Beweis dafür, daß die Menschen überhaupt noch nicht reif für politische Veränderungen sind.« (S. 20) Doch die theoretischen Überlegungen münden in kein radikal pessimistisches Geschichtsbild. Vielmehr entwerfen die Briefe Über die ästhetische Erziehung des Menschen ein Bildungsprogramm, das die erhoffte politische Veränderung über den Umweg der versittlichenden Kunstrezeption erreichen will. Dass dies gelingen kann, wird von Bollenbeck jedoch kurzerhand bestritten: Schiller »traut seiner Gesellschaft nichts zu. Statt dessen überstrapaziert er das Versöhnungs- und Befreiungspotential der Kunst.« (S. 14)

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Dass der ideengeschichtliche Entwicklungsweg aber dennoch über das Ästhetische führe, wenn er vom Metaphysischen und Moralischen zum Ökonomischen verlaufe, ist eine These Carl Schmitts, die Heinz Dieter Kittsteiner in seinem Beitrag diskutiert. Dabei geht Kittsteiner auf Schillers theoretische Überlegungen eher am Rande ein – etwa um zu hinterfragen, welchen ontologischen Geltungsanspruch das Konzept der ästhetischen Erziehung besitzt. Denn wenn sich der ›Staat des schönen Scheins‹, wie Schiller selbst aussagt, bereits in »wenigen auserlesenen Zirkeln« (S. 47) verwirklicht, ist dann nicht der dezidiert elitäre Charakter seiner Kunsterziehung ausgestellt? Oder ist der ästhetische Zustand »doch auf eine Zeitachse aufgetragen und soll sich über die ganze Gesellschaft ausdehnen?« (ebd.) Da Kittsteiner daran gelegen ist, die These Schmitts zu bestätigen, bleiben Lösungsangebote für diesen Widerspruch aus. Stattdessen wird der Fokus auf Karl Marx und auf das Modell einer »Gesellschaft der Waren« (S. 57) gelenkt, die aus der Perspektive heutigen geschichtlichen Wissens Schillers ästhetischer Utopie prinzipiell überlegen scheint.

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Der interagierende Theoretiker

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In einem zweiten Bereich werden Schillers Bezugnahmen auf zeitgenössische Philosophen untersucht. Zum einen beschäftigt sich Marion Heinz mit parallelen Entwürfen von Anthropologie und Geschichtsphilosophie bei Reinhold und Schiller, zum anderen analysiert der indische Kulturwissenschaftler Balasundaram Subramanian, inwieweit sich Einflüsse der Philosophie Edmund Burkes im Werk Schillers nachweisen lassen.

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Wenn Reinhold am 14. Juni 1789 Kant mitteilt, »Schiller mein Freund und […] der besten itzt lebenden Köpfe einer horcht ihren Lehren durch meinen Mund« (S. 28), legt das, wie Marion Heinz ausführt, bereits die Vermutung nahe, dass Schiller über Reinhold einen ›transformierten Kant‹ kennengelernt habe. Dabei geht es insbesondere um die in Reinholds Briefen über die Kantische Philosophie sichtbar werdende Zuspitzung von Kants Philosophie auf die Lehre vom höchsten Gut, nach deren Bedeutung für Schillers Briefe Über die ästhetische Erziehung des Menschen gefragt wird.

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Zunächst liefert Heinz einen konzisen Aufriss von Reinholds Geschichtsphilosophie: Tragendes Element sei hierbei der menschliche Geist, der sich jedoch nicht von vornherein zu sinnvoll selbstbestimmtem Handeln gebrauchen lasse. Denn seine »apriorischen Strukturen« (S. 30) könnten erst im Verlauf der Geschichte erkannt werden, so dass erst die Wahrnehmung auch seiner Irrtümer zu reflektiertem, autonomen Verhalten befähige.

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Den Gipfelpunkt in dieser Entwicklung des menschlichen Geistes markiert die Kantische Philosophie; die durch sie geleistete Selbsterkenntnis der menschlichen Vernunft zentriert für Reinhold in der Lehre vom höchsten Gut und ihren Implikationen, den Postulaten von Gott und der Unsterblichkeit der Seele. (S. 30)
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Von diesen Höhepunkten Kantischer Lehrstücke aus sei nun der gesamte geschichtliche Progress systematisch zu erfassen, wobei Reinhold an dem Erweis gelegen ist, dass mittels dieser Lehrstücke die menschliche Vernunft »zu den unverdorbenen, aber noch undeutlichen Überzeugungen auf der Stufe ihrer Kindheit auf höherer Ebene zurückkehrt« (S. 31). Dieses Schema deutet schon direkt auf das teleologische Ziel von Schillers Geschichtsphilosophie und damit implizit auf sein – bereits angesprochenes – Konzept vom Naiven und Sentimentalischen voraus. Auch hier geht es um die Reinstallation des ursprünglich naiven Zustandes im Geltungsraum der übergeordneten Ebene sentimentalischen Bewusstseins (S. 35). 2

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Nach Reinhold könne sich die Basiserfahrung einstiger Harmonie dank der Lehre vom höchsten Gut wieder einstellen. Dazu schreibt er in seinem Versuch einer neuen Theorie des menschlichen Vorstellungsvermögens:

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So wie Sinnlichkeit und Vernunft in ihrer unzertrennlichen Vereinigung die Natur des menschlichen Gemüthes […] ausmachen: so machen der Trieb nach Glückseligkeit und der Trieb nach Sittlichkeit in ihrer unzertrennlichen Vereinigung den ganzen Trieb des menschlichen Gemüthes […] aus. (S. 31)
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Konsequent lässt sich hier eine Verbindung zu Schillers Bestimmung der menschlichen Natur ziehen. Während der Stoff- und Formtrieb gleichfalls die doppelte Bezogenheit des Menschen auf sinnliche und sittliche Seinsbereiche aufzeigen, ermöglicht der harmonisierende Spieltrieb den Ausgleich der gegensätzlichen Disposition. Dass dies aber über den Weg der Kunsterfahrung geschieht, unterscheidet Schiller von Reinhold. Denn für letzteren ist es vielmehr die Philosophie, wie Heinz abschließend kenntlich macht, die die »Realisierung des gelungenen Menschseins in dieser Welt« (S. 36) herbeiführt.

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Der problematisierende Theoretiker

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Zweifellos ist es trivial, dass Schiller überall dort, wo er sich theoretisch äußert, Sachverhalte problematisiert. Gleichwohl führen einige Beiträge des Tagungsbandes dieses Problematisieren auf verschiedene Weise vor: Zum einen werden Reflexionsmomente angesprochen, die sich konsequent aus der Anlage der theoretischen Schriften oder aus dem ideengeschichtlichen Kontext ergeben, zum anderen werden Überlegungen Schillers vorgestellt, die ihn von einer nahezu neuen theoretischen Seite zeigen. Unter die erste Kategorie lassen sich tendenziell die Beiträge von Wolfgang Riedel, Carsten Zelle und Jörg Robert einordnen. Während Zelle den Darstellungsbegriff Schillers untersucht und darlegt, inwiefern hier der Enargia-Begriff des Erhabenheitsdiskurses fortwirkt, der noch Schillers Dramenpoetik des Pathetischerhabenen grundiert, widmet sich Robert im Zentrum der Frage, inwiefern die Kallias-Briefe die »poetologischen Impulse der Schillerschen Reflexion freilegen« (S. 161). 3

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Riedel, der sich in seinem Beitrag abermals auf Schillers theoretische Spätschrift Über das Erhabene bezieht, 4 apostrophiert Schiller zunächst als einen »Denker der Grenze« (S. 60). Angesprochen ist damit die Frage, inwiefern sich Schillers Freiheitsphilosophie konkret mit jener existentiellen zwischen Leben und Tod verlaufenden Grenze vermitteln lässt. Im Rahmen der Freiheitsphilosophie ist dabei vorausgesetzt, dass freiheitliches Handeln als Unabhängigkeit gegenüber den »Determinationen der Physis« bzw. als Vermögen begriffen wird, »Natur negieren zu können« (S. 61).

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Entscheidenden Gehalt gewinnt diese Fähigkeit zur sittlichen Autonomie dort, wo der menschliche Wille gegen den Selbsterhaltungstrieb ankämpft. Riedel zeigt, dass Schiller in diesem Zusammenhang nahezu konstant den Begriff ›Aufopferung‹ verwendet, 5 was die »heroische Kontur des Konzepts« (S. 62) deutlich hervortreten lässt. Obgleich es durchaus richtig ist, dieses Ethos auf das anthropologische Merkmal der Seelenstärke zurückzuführen – Riedel gibt hier Verweise auf Abel, Abbt und Zückert sowie auf die Tugendlehre
Ciceros –, wäre zu fragen, ob in dieses Konzept einer Ethik des Heroischen nicht noch weitere zeitgenössische Überlegungen Eingang finden wie etwa Christian Cay Lorenz Hirschfelds Betrachtung über die heroischen Tugenden (1770).

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Das Überraschende der Spätschrift Über das Erhabene liegt nun darin, dass sich Schillers Einstellung gegenüber dem Phänomen des Todes gewandelt hat. Denn dem dort formulierten Fall, dass ein Individuum ohnmächtig der Todesgefahr ausgeliefert sei, kann dieses zwar noch theoretisch mit dem Versuch begegnen, die Gefahr »dem Begriff nach [zu] vernichten« (S. 66). Gleichwohl fordert diese Einstellung aber auch, wie Schiller sagt, die »Resignation in die Notwendigkeit« (ebd.) der naturgegebenen Todesfolge. Wie Riedel herausstellt, ist damit die bisherige Gedankenbewegung umgekehrt: Der Tod wird plötzlich zu einem Ereignis, das die »Bejahung der Heteronomie« (ebd.) erzwingt, an dem sich nicht mehr die Autonomie des todesverachtenden Helden beweist. Konsequent scheint daher auch der Begriff der Aufopferung in der Spätschrift zu fehlen.

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Indem Riedel zudem darauf aufmerksam macht, dass Schiller in Über das Erhabene gleichfalls die »geschichtsphilosophische Zielperspektive« (S. 68) kappt, die noch die Antrittsvorlesung enthusiastisch behauptet hatte, scheint das angeführte Modell der Selbstopferung, das nun seiner teleologischen Begründung beraubt ist, obsolet geworden. Provokativ wird diese These auf das Dramenwerk bezogen:

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Wo sind in Schillers dramatischem Werk um 1800 die ›erhabenen‹ Helden? Die Schillerforschung hat sie lange gesucht, und nicht gefunden. Es gibt auch nichts zu finden. (S. 69)
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Dass es diese Helden aber durchaus gibt, kann hier nicht in extenso entfaltet werden. 6 Methodisch sei zum ersten darauf hingewiesen, dass Riedel unterstellt, Schiller habe sein in der Spätschrift modifiziertes Modell des Erhabenen plan in sein dramatisches Werk integriert. Zum zweiten wird unterstellt, dass die in den neunziger Jahren formulierten dramenästhetischen Positionen, die deutliche Aussagen über die Konfiguration des dramatischen Helden treffen, zugunsten des neuen nicht-heroischen, weil resignativen Figurenkonzepts verabschiedet werden.

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Was detailliert zu belegen wäre, versucht Riedel gerade einmal anhand von zwei Beispielen, an den Figuren Maria Stuart und Max Piccolomini, vorzuführen. Allein die Bemerkung, Max’ Freitod, nämlich sein Ausfall gegen die Schweden, sei nichts weiter als eine »Grandiositätsattacke aus enttäuschter Liebe« (S. 70), trivialisiert den weitaus komplexeren Handlungszusammenhang des Wallenstein. Denn im Vorfeld dieser Attacke ist Max im Gespräch mit Thekla nicht nur von Selbstzweifeln befallen, ob er sich Wallenstein anschließen und sich gegen seinen Vater wenden solle (Wallensteins Tod, Szene III/21), auch hat er die Aufkündigung der Freundschaft Wallensteins zu verarbeiten, der ihm trotz allem noch als anbetungswürdiges Vorbild gilt (ebd., Szene III/23). Und schließlich wird entgegen Riedels Ausführung (S. 68, Anm. 30) Max’ Selbstaufopferung durchaus als Heldentod beglaubigt:

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Heut früh bestatteten wir ihn. Ihn trugen
Zwölf Jünglinge der edelsten Geschlechter,
Das ganze Heer begleitete seine Bahre.
Ein Lorbeer schmückte seinen Sarg, drauf legte
Der Rheingraf selbst den eignen Siegerdegen. 7
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Der überraschende Theoretiker

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Während im Rahmen der ästhetischen Schriften Schillers durchaus zu lokalisieren ist, wo der Mensch spielt – nämlich da, wo er ganz Mensch ist –, stellt Holger Dainat die medientheoretisch inspirierte Frage: »Wo spielen die Musen?« Diese Frage nimmt Bezug auf die unterschiedlichen Publikationsräume, in denen Schillers Schriften angesiedelt sind, wobei die jeweiligen »Kommunikationszusammenhänge« untersucht werden, die im Einzelfall vorgeben, auf welche Art und Weise »was beobachtet und beschrieben wird« (S. 178). Von einer anderen Seite nähert sich Mark Emanuel Amtstätter dem Theoretiker Schiller, indem er sich auf dessen Anmerkung über den »musikalischen Dichter« (S. 124) Klopstock bezieht, die – wie mit rezeptionsseitigem Übergewicht gezeigt wird – in der Konzeption von Wagners Musikdramatik fortwirkt.

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Der wegweisendste Beitrag dieser Gruppe aber ist derjenige von Dirk Oschmann, der Schillers Sprachtheorie behandelt. 8 Zwar muss Oschmann einräumen, dass es »von Schiller keine systematische Abhandlung über Fragen der Sprache gibt«, dennoch »thematisier[e] er sie […] kontinuierlich, ob nun in seinen literarischen Werken, seinen theoretischen Schriften oder seinen Briefen.« (S. 139) Angemerkt sei, dass Schillers Sprachreflexion, die im Rahmen der literarischen Werke erfolgt, in diesem Beitrag nur punktuell angesprochen wird und der Leser hier auf das entsprechende Binnenkapitel der Habilitationsschrift Oschmanns verwiesen bleibt. 9

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Im Zentrum bezieht sich Oschmann auf Schillers an Körner gerichteten Brief vom 28. Februar und 1. März 1793, der zur Gruppe der Kallias-Briefe gehört und in dessen Beilage es heißt: »Das Medium des Dichters sind Worte; also abstrakte Zeichen für Arten und Gattungen, niemals für Individuen« (S. 139). Was hier Erwähnung findet, ist ein fundamentales Sprachproblem: Da bereits die Worte selbst als »Gattungsbegriffe aufzufassend sind« (S. 140), ist ihnen das Vermögen abgesprochen, etwas Individuelles zu bezeichnen. Folglich ist der Dichter gefordert, Sprache und Darstellung zu individualisieren, wofür Schiller den Begriff »Triumph der Darstellung« (S. 141) prägt. Im Anschluss daran ist mit Oschmann zu fragen: »Wie aber soll nun ein solcher ›Triumph der Darstellung‹ konkret aussehen?« (S. 142)

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Als Antwort verweist er auf die poetologischen Verfahren der Kombination des Allgemeinem und der Flexibilisierung der Gattungen und Formen. Die spezifische Aufgabe des Dichters, eine dem Gegenstand adäquate Form aufzufinden, wird exemplarisch anhand der Bezeichnung der Räuber als »dramatische[r] Roman« (S. 143) veranschaulicht.

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Was Schiller den poetischen Gattungen abverlangt, also Individualisierung des Gegenstandes durch Beweglichkeit der Gattung, das gilt in gleicher Form für die Sprache, weil die Sprache ja selbst nur aus Gattungsbegriffen besteht. (S. 148)
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Pragmatisch wird das insbesondere an der rhetorischen Figur des Chiasmus sichtbar, da deren »immanente Kombinatorik« auf ein Potential an Dynamik verweist, das der »Verfestigung der Wörter als Gattungsbegriffe« (S. 152) entgegenwirkt. Mit dem Resultat, dass aufgrund dieses inneren Austauschs neue Verknüpfungen geschaffen und die Wörter somit individualisiert werden, vermag Oschmann diese rhetorische Strategie, die bereits von Elizabeth M. Wilkinson beschrieben worden ist oder gegenwärtig auch von Sybille Krämer herausgestellt wird, 10 als wesentliches Kennzeichen eines konsistenten, übergreifenden Sprachkonzeptes auszuweisen.

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Der rezipierte Theoretiker

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Auf die Frage, wie in der Nachfolge Schillers mit dessen theoretischem Vermächtnis umgegangen wurde, gehen schließlich zwei Beiträge ein. Entgegen der Erwartung, dass hier womöglich ein philosophie- bzw. literarhistorischer Abriss geliefert würde, der in diachroner Perspektive die wiederholt artikulierten Vorwürfe der Aporetik und Inkonsequenz gegenüber Schillers ästhetischer Theorie zusammenfasste, beschäftigen sich Gilbert Merlio mit Nietzsches Schiller-Rezeption und Gerhard Kaiser mit der wissenschaftlichen Wahrnehmung von Schillers theoretischen Schriften in der Zeit des Nationalsozialismus.

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Merlio wendet sich im Kern gegen das landläufige Vorurteil, dass Schiller von Nietzsche gemeinhin nur als »Moral-Trompeter von Säckingen« (S. 191) disqualifiziert wurde. Vielmehr kann er zeigen, dass sich Nietzsche in seinem Frühwerk affirmativ auf den klassischen Theoretiker bezieht und ihn sogar zum »unvollkommenen Vorläufer seiner eigenen Philosophie« (S. 193) stilisiert. Erst mit Nietzsches persönlicher ›Umwertung aller Werte‹, die sein Bruch mit Wagner markiert, vollzieht sich auch die radikale Abwendung von Schiller. Offenbar in Anlehnung an Goethes bekannte Formel »Classisch ist das Gesunde, romantisch das Kranke« verkörpere Schiller für Nietzsche, so Merlio, »nunmehr das Ungesunde der Romantik« (S. 203). Mit dieser polemischen Absetzung ist das veränderte Verhältnis aber noch nicht hinreichend charakterisiert. Vielmehr spricht Merlio unter Rekurs auf Matthias Politycki von einer »Distanz der Nähe«, die sich vor allem darin äußert, dass sich Nietzsche trotz der verbalen Attacken wiederholt produktiv mit Schillers Terminologie – etwa mit dem Oppositionspaar des Naiven und Sentimentalischen – auseinandersetzt. 11

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Der nahtlose Übergang von Nietzsche zur Beschäftigung mit Schillers theoretischen Schriften zwischen 1933 und 1945 gelingt Gerhard Kaiser, indem er eine Bemerkung von Herbert Cysarz zitiert, der 1934 behauptet hatte: Schiller »philosophiert und dichtet, lang vor Nietzsche, ›mit dem Hammer‹.«(S. 215) Daran wird die Umwertung des Theoretikers Schiller zu einem »Willens- und Lebensphilosophen« (ebd.) ablesbar, der als Exponent deutscher Geistesgröße, so nochmals Cysarz, »einen Bogen zwischen Kant und Nietzsches Zarathustra spannt« (S. 226). Wie Kaiser anhand verschiedener Beispiele hervorhebt, entstehe während des Nationalsozialismus jedoch keine homogene Schiller-Deutung, wie es die Cysarz-Zitate suggerieren könnten, sondern – mit Blick auf die deutsche Ideengeschichte – vielmehr ein Gegeneinander von konkurrierenden Kontinuitäts- und Diskontinuitätsinzenierungen des idealistischen Ästhetikers. Wenn dabei die theoretischen Schriften zur ideologischen Zurichtung des jeweiligen Schiller-Bildes missbraucht werden, ist es nur konsequent, wenn Benno von Wiese 1938 die Gegenrichtung einschlägt und sich programmatisch auf den Primat des dichterischen Werkes rückbesinnt – Kaiser spricht hier von der Entwicklung der Literaturwissenschaft zur »Dichtungswissenschaft« (S. 235). Der Weg zu den theoretischen Positionen Schillers muss in der Folge erst neu gebahnt werden und bleibt auch fortan beständiges Forschungsziel. Denn schon Cysarz wusste (S. 215): »Bei Schiller gibt es keinen Urlaub.«

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Fazit

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Im Ergebnis überrascht es doch, auf welche Schätze gestoßen werden kann, wird der Theoretiker Schiller nur erst einmal gründlich geschätzt. Während die herausgestellte kulturkritische Dimension der ästhetischen Schriften Schillers Modernetauglichkeit profiliert, zeigt der eingehende Vergleich mit Reinholds Geschichtsphilosophie, wie sehr Schiller das vorausliegende Theoriekonzept produktiv anverwandelt. Und während die detaillierte Untersuchung der Spätschrift Über das Erhabene hervorkehrt, wie die erneute Einschätzung des Todesphänomens den Freiheitsgedanken der Autonomie in den der Heteronomie verkehrt, kann daneben konsistent erwiesen werden, was ansonsten kaum mit Schillers Denken in Verbindung gebracht worden wäre: dass er eine Sprachtheorie entwirft, deren Gehalt darin besteht, die Individualisierung der Sprache durch die Flexibilisierung und Dynamisierung der Gattungen zu befördern.

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Auch wenn punktuelle Kritik an den exemplarisch vorgestellten Beiträgen geübt wurde, setzt sich der Sammelband allein durch seine inhaltliche Ausrichtung wohltuend von den vielfach theorieabstinenten Publikationen ab, die anlässlich oder in der Folge des Schillerjahres 2005 erschienen sind. Denn schließlich sind ohne Anspannung der gedanklichen Muskulatur die »Schätze, die der Denker aufgehäufet«, 12 nicht zu erlangen.

 
 

Anmerkungen

Jan Bürger: Vorwort. In: Friedrich Schiller. Dichter, Denker, Vor- und Gegenbild. Hg. von Jan Bürger. Göttingen 2007, S. 7–10, hier S. 9 (Marbacher Schriften, N.F. Bd. 2).   zurück
Bei Heinz bleibt die Argumentation allein auf den in den Ästhetischen Briefen skizzierten Geschichtsverlauf bezogen.   zurück
Dass Robert offenbar den Beitrag von Zelle nicht kennt, zeigt seine knappe Ausführung zum ebenfalls thematisierten Enargeia-Begriff, in deren Rahmen ebenso Klopstocks Terminus der Darstellung genannt wird (S. 163), ein Rückverweis auf die detaillierteren Aussagen Zelles aber ausbleibt.   zurück
Vgl., worauf Riedel in Anm. 19 selbst hinweist, ders.: Weltgeschichte als erhabenes Object. Zur Modernität von Schillers Geschichtsdenken. In: Prägnanter Moment. Studien zur deutschen Literatur der Aufklärung und Klassik. Festschrift für Hans-Jürgen Schings. Hg. von Peter-André Alt u.a. Würzburg 2002, S. 193–214. – Zuerst in: Am Beginn der Moderne. Schiller um 1800. Mit Beiträgen von Norbert Oellers und Wolfgang Riedel. Hg. vom Weimarer Schillerverein und der Deutschen Schillergesellschaft. Marbach a.N. 2001, S. 3–22.   zurück
Zum Begriff des Opfers vgl. jetzt auch Peter-André Alt: Ästhetik des Opfers. Versuch über Schillers Königinnen. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 50 (2006), S. 176–204.   zurück
Vgl. Nikolas Immer: Der inszenierte Held. Schillers dramenpoetische Anthropologie. Heidelberg 2008 (Jenaer Germanistische Forschungen, Neue Folge, Bd. 26).   zurück
Wallensteins Tod, V. 3062–3066.   zurück
Wie ausgewiesen, stellt der Beitrag Thesen aus dem fünften Kapitel von Oschmanns Habilitationsschrift vor. Vgl. Dirk Oschmann: Bewegliche Dichtung. Sprachtheorie und Poetik bei Lessing, Schiller und Kleist. München 2007, S. 149–200.   zurück
Vgl. ebd., S. 170–179, insbesondere S. 170 die Bemerkung zur Braut von Messina: »Vielmehr erscheint durch die Einführung des Chors das Sprachproblem nicht mehr bezogen auf die Haltung eines einzelnen Charakters dem Wort gegenüber, sondern wie sich die Sprache allgemein, d.h. in ihrem Sosein selbst zur Geltung bringt; die Aufmerksamkeit gilt der Sprache als ganzer, nicht mehr dem Wort als einzelnem Sprachelement.«   zurück
10 
Vgl. Elizabeth M. Wilkinson: Zur Sprache und Struktur der Ästhetischen Briefe. Betrachtungen beim Abschluß einer mühevoll verfertigten Übersetzung ins Englische. In: Akzente 6 (1959), S. 389–418; Sybille Krämer: Ist Schillers Spielkonzept unzeitgemäß? Zum Zusammenhang von Spiel und Differenz in den Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen. In: Bürger: Schiller (Anm. 1), S. 158–171.   zurück
11 
Vgl. Matthias Politycki: Umwertung aller Werte? Deutsche Literatur im Urteil Nietzsches. Berlin 1989, S. 364 und 376.   zurück
12 
Die Künstler, V. 402.   zurück