IASLonline

Geschichtsschreibung im Kriminalroman?

Elfriede Müller und Alexander Ruoff bemühen sich um eine Bestandsaufnahme des »Neopolar«

  • Elfriede Müller / Alexander Ruoff: Histoire noire. Geschichtsschreibung im französischen Kriminalroman nach 1968. (Zeit - Sinn - Kultur) Bielefeld: transcript 2007. 398 S. Kartoniert. EUR (D) 37,80.
    ISBN: 978-3-89942-695-3.
[1] 

Qualität des »Neopolar«

[2] 

Der französische Kriminalroman neuerer Prägung ist in weiten Teilen durch ein großes politisches Engagement und durch die intensive Auseinandersetzung mit dem politischen und historischen Erbe geprägt. Er ist dabei in der Form und in der Anlage seiner Handlung wesentlich aggressiver als der deutsche oder skandinavische Kriminalroman und wesentlich weniger kühl als der angloamerikanische, der mit dem Hard-boiled-Krimi der Weltwirtschaftskrise das international dominante Paradigma gestellt hat. Diese Aggressivität geht freilich weniger auf die Deutlichkeit zurück, mit der Gewalt dargestellt wird. Auch ist ihre Präsentation nicht unmittelbar drastischer als in anderen Krimiszenen. Es ist die Verbindung zwischen politischer Überzeugung und der Nähe zu den kritischen und großen Momenten der politischen Linken in Frankreich, die die spezifische Note des französischen Krimis ausmacht und die zugleich eine Radikalität in Anlage und Handlung der Texte zeigt, die zumindest ungewöhnlich ist.

[3] 

Elfriede Müller und Alexander Ruoff beschäftigen sich in ihrer Berliner Gemeinschafts-Dissertation mit dem Phänomen des »Neopolar« oder »roman noir« genannten Krimis der Nachachtundsechziger, also mit einer Gruppe von Texten und Autoren, die zwar – wie die beiden Verfasser einräumen – keine abgeschlossene Gruppe darstellen, aber als gemeinsame Erfahrung ihre politische Sozialisation in den 68ern haben. Dies freilich in spezifischer Note, nämlich: »die Erfahrung des Mai als gescheiterter Revolution und ein spezifischer Zugang zur Geschichte, der nach den Gründen dieses Scheiterns fragt« (S. 23).

[4] 

Interesse an historischen Prozessen

[5] 

Aus dieser Erfahrung wächst, so die beiden Verfasser, das Interesse an historischen Prozessen, hier insbesondere an den historischen Ereignissen, die das nationale Bewusstsein Frankreichs, aber in besonderer Weise das Bewusstsein dieser Autorengruppe bestimmt, die dem politischen Spektrum links der KP zuzuordnen ist. Es ist denn auch nicht die Französische Revolution, die als bürgerliche Revolution von nachrangigem Interesse für diese Autoren ist, sondern es sind die Pariser Commune von 1870/71, der Große Krieg in Europa von 1914 bis 1918, der Spanische Bürgerkrieg, an dem zahlreiche Franzosen teilnahmen, die Resistance, der Algerienkrieg, der als Befreiungskrieg von der Kolonialmacht Frankreich ganz besondere Aufmerksamkeit der Linken auf sich zog, und schließlich der Mai 68 selbst, die im Kern das handlungsanleitende Paradigma stellen.

[6] 

Aus diesem spezifischen Ansatz heraus erarbeiten Müller und Ruoff eine Liste von Distinktionsmerkmalen, die es erlauben soll, den »Neopolar« als eigenes Subgenre des Kriminalromans zu definieren: Die Texte kennzeichne ein »spezifischer Realismus«, der es ermögliche, »die dunklen Seiten der Gesellschaft« zu beleuchten, und ein sozialpsychologischer Ansatz, mit dem Gewalt nicht als Disposition, sondern als gesellschaftliches Produkt dargestellt werde. Sie hätten ambivalente Akteure, insbesondere bei den Ermittlern, und übten eine Art Affirmationsverzicht, mit dem die Restituierung von gesellschaftlicher Ordnung aufgegeben werde. Damit werde allerdings zugleich die Veränderung selbst kassiert, etwa durch die Darstellung erfolgloser Revolten. Insgesamt präge die Erzählung ein pessimistischer Ton, der sich gelegentlich in Zynismus und Sarkasmus ausdrücke. Die Handlung resp. das Verbrechen werde historisch verankert. Die Autoren zeigten insgesamt ein hohes politisches und gesellschaftskritisches Engagement (S. 14 f.). In der Tat lässt sich wohl der »Neopolar« mit dieser Merkmalsliste einigermaßen klar von anderen Kriminalromangruppen aus dem französischen Sprachraum unterscheiden, wobei die Kriterien, die Müller und Ruoff als vorrangig vorstellen, vor allem in ihrer Gesamtheit hilfreich sind. Auffallend ist jedoch, dass sie – bis auf die etwas unklaren Bemerkungen, die die Verfasser zur Beschreibung des »spezifischen Realismus« machen – nur inhaltliche und habituelle Kriterien nennen. Ein Roman wird also zum »Neopolar«, wenn – verknappt gesagt – ein älterer, linksradikaler, aber desillusionierter französischer Autor eine engagierte, realistisch erzählte Kriminalgeschichte niederschreibt, deren Helden er zwischen Sarkasmus und Zynismus changieren lässt und deren Ende einigermaßen unglücklich ist.

[7] 

Straffe Geschichte,
intelligente politische Unterhaltung

[8] 

Eine solche – unzulässig – verknappte Skizze lässt befürchten, es hier mit grässlicher Gesinnungsliteratur zu tun zu haben, die das Misslingen der 68er-Revolte mit bitteren Abrechnungen oder bösen Revanchefouls quittieren will. Aber nichts davon (um damit die Seriosität der Texte zu betonen, mit denen sich Müller und Ruoff beschäftigen) – es ist nicht nur eine Reihe von großartigen Texten in dieser Textgruppe zu finden: Manchette (der als Gründer des »Neopolar« gilt), Daeninckx oder Pouy sind hervorragende Autoren, denen deutlich mehr Anerkennung und Aufmerksamkeit gelten sollte, als sie heute insbesondere in Deutschland bekommen. Sie sind – und Manchettes auch auf Deutsch erschiene Kritiken zeugen von dieser Tradition 1 -- die wohl talentiertesten Nachfolger der großen Hard-boiled-Autoren, ihre interessantesten Modernisierer mit zudem extrem rasanten Geschichten. Zu Manchettes und Bastids Laßt die Kadaver bräunen! 2 lässt sich jedenfalls in Deutschland kaum ein Pendant finden. 3

[9] 

Hinzu kommt noch, dass diese Autoren sich intensiv literarisch mit Niedergang, Erfolg und Aufarbeitung der 68er-Revolte beschäftigen, dabei aber keineswegs auf Distanz zu ihrem eigenen Engagement gehen, sondern ganz im Gegenteil den Grundimpuls der Revolte hochhalten. Gerade darin verbirgt sich – gegen Müller und Ruoff – ein sozialromantischer Impuls, so realistisch bis pessimistisch ansonsten auch der Blick der Autoren auf ihre Gesellschaft ist. Denn trotz möglicher Sympathien für den Mai 68 und dessen Grundimpuls sind die mangelnde politische Tragfähigkeit des Ursprungskonzeptes und die Gemengelage der Interessen, die die Teilnehmer motivierte, kaum zu übersehen.

[10] 

Angesichts dessen ist der Mai 68 ein gewaltiger Veränderungsimpuls, dessen Bedeutung aus heutiger Sicht nicht darin bestand, dass er eine grundlegende gesellschaftliche Alternative vorlegte, sondern den Status quo der Nachkriegsgesellschaften notwendig und gründlich in Frage stellte und eine Entwicklung hin zur offenen Gesellschaft beförderte. Die Legitimität der Revolte aus dem desaströsen Zustand der Gesellschaft nimmt dort ihren Ursprung. Wo eine Gesellschaft nicht »in Ordnung« ist, so Müller und Ruoff (was heißen soll: weder moralisch akzeptabel agiert noch auf sozialer Ebene funktionsfähig ist), sondern als Macht- und Bereicherungsapparat funktioniert, ist jeder Widerstand und damit auch jede Aktion gegen sie erlaubt. Insofern – wenn man auf der politischen Ebene mit Müller und Ruoff debattieren will – ist die Anlage der Texte dieser Gruppe von Autoren nicht nur als Abgesang auf die 68er zu verstehen, sondern als der Versuch, ihre Essenz (und das eben legitimer Weise) auf die Gegenwart zu übertragen.

[11] 

Wir haben es also nicht mit einer Gruppe einigermaßen lesbarer Texte von politisch esoterischen Autoren zu tun, sondern mit einer spezifischen Sicht auf Gesellschaft und den Konsequenzen daraus, die ihre Qualität aus ihrer Radikalität bezieht. Auch darin sind diese Autoren durchaus legitime Erben des amerikanischen Hard-boiled-Krimis, dessen Blick auf die (amerikanische) Gesellschaft ja gleichfalls eher deprimierend war. 4 Die Textgruppe lässt sich entsprechend nicht mit der politischen Karte diskreditieren. Das Problem besteht nur darin, dass die Autoren – so die Darstellung von Müller und Ruoff – übertragen gesprochen auf dem Status der Revolte von 1968 beharren, ihren Niedergang beklagen und nun – teilweise zwanzig Jahre später – ihre Legitimität und Essenz einklagen. Dies aber scheint mir weniger der Haltung der Autoren zu entsprechen als der der beiden Verfasser, weisen doch die Texte selbst auf eine spezifische Weiterentwicklung der Position der Autoren hin. Der Mai 68 wird ebenso reflektiert wie die gesellschaftlichen Verhältnisse auf dem jeweiligen historischen Stand selbst: 1870/71 wie 1968 wie 1990.

[12] 

Die Rolle des subjektiven Faktors

[13] 

Die Studie selbst zeigt sich so gesehen – in der Anlage beinahe defensiv – als Vergewisserungsprojekt eines vergangenen Projekts der Revolte, das mit Verweis auf die Geschichtsphilosophie Walter Benjamin abgesichert wird. Geschichte müsse angeeignet werden, um nicht in den gesellschaftlichen Verwertungs- und Herrschaftsprozessen den Subjekten entwendet zu werden. Die pessimistische Sicht Benjamins, wie sie nicht zuletzt in den geschichtsphilosophischen Thesen von 1939 formuliert werden (etwa im Bild des Engels der Geschichte), wird übernommen. Das Subjekt – das spätestens durch diese Konstruktion zur zentralen Figur wird – ist zwar das schwächste Glied in der gesellschaftlichen Verflechtungskette, aber es ist doch die letzte sichernde Instanz, die verhindert, dass die Ideale von 68, die kollektive Erfahrung, der Widerstand gegen das System ohne Erinnerung bleiben und untergehen. Freilich steht im Zentrum des Geschichtsbildes ein denkwürdiges Phänomen, das Thomas Hecken als Utopie des gelungenen Augenblicks bezeichnet hat 5 und dessen a-soziale, gesellschaftsfeindliche und aggressiv-destruktive Potenz zwar das Phänomen nicht dominiert, in dieser Studie jedoch ausgeblendet wird. Im Glücksverlangen des Subjekts steckt auf der einen Seite ein Absolutheitsanspruch, dem keine Gesellschaft genügen kann, zugleich jedoch ist er höchst erfolgreich jeder Gesellschaft als Maß vorzuhalten. Das mag als Dilemma unlösbar sein, bleibt als Veränderung betreibender Impuls vorhanden, und das legitimer Weise. Erst in dem Moment, in dem gesellschaftliche Veränderung und subjektives Verlangen auseinander fallen, beginnt die destruktive Entwicklung.

[14] 

Interessanterweise visieren die Texte gerade diese Bruchstelle an, während Müller und Ruoff sich dieser Erkenntnis anscheinend verweigern. Wo etwa die Texte Jean-Bernard Pouys sich gerade der Anfälligkeit der ehemals revolutionären Gruppen und ihrer Kombattanten widmen, ihre eigene soziale und historische Basis aufgeben und die egozentrische Variante des Konzepts Subjekt wählen (die persönliche Bereicherung, die Karriere etc.), sehen Müller und Ruoff lediglich den Versuch, die Widerständigkeit gegen gesellschaftliche Entwicklungen zu präsentieren. Dass es eben die alten Kämpen selbst sind, die die Ideale von 68 aufgeben und gegen die sich die Protagonisten zur Wehr setzen müssen (für eine meinetwegen höhere Gerechtigkeit oder Wahrheit) und nicht das nicht minder korrupte Establishment, bleibt dabei unberücksichtigt. Pouys blickt nicht »hinter die Kulissen von Herrschaft« (S. 33), sondern auf sehr peinliche Fälle des Machtmissbrauchs und der Selbstbereicherung derjenigen, die gegen das System angetreten sind.

[15] 

Dabei sei unbenommen, dass eine literarische Vergewisserung nur einigermaßen erfolgreich sein kann, wenn sie historisch fundiert wird, was nicht zuletzt damit begründbar ist, dass Menschen wie Gesellschaften historische Entitäten sind, die in ihren Strukturen, Haltungen wie Handlungen von ihrer Geschichte wesentlich bestimmt sind. Warum jedoch mit Berufung auf Benjamin die historische Niederlage der extremen Linken, die mit dem Verweis auf eine Reihe historischer Vorläufer auch noch vertieft wird, gerade als verheißendes Moment präsentiert werden kann (»um die Revision der Geschichte im Namen der Unterdrückten einzuleiten«, S. 26), bleibt unbeantwortet und muss wohl der Selbstpositionierung der beiden Verfasser zugeschrieben werden. Auch dazu gibt es eine mittlerweile lange Tradition, mit der nicht nur eine ›Geschichte von unten‹ zu schreiben war, sondern die sich an die Begründung der Mentalitätsgeschichtsschreibung der Annales-Gruppe anschließen lässt (die meines Erachtens eine deutlich bessere Basis für die Studie gewesen wäre als die einigermaßen beliebig und lediglich in Assoziationen eingespielte Geschichtsphilosophie Walter Benjamins). Das hätte zwar möglicherweise den Nachteil gehabt, sich auch auf Autoren zu berufen, die eine andere ideologische Couleur haben. Andererseits wäre damit die theoretische Fundierung der Arbeit belastbarer geworden.

[16] 

Materialsammlung statt Abhandlung

[17] 

Zudem zeigt sich die Studie in ihrer Ausführung deutlich unentschiedener, als Müller und Ruoff durch ihre Einführung erwarten lassen. Die angekündigte thetische Abhandlung haben Müller und Ruoff anscheinend mit einer Gesamtdarstellung verbinden wollen. Die referierenden Teile, in denen Autoren, Medien, Themen und Trends geschildert werden, sind dem geschuldet. Die Verfasser sind aber an der Kombination ihrer These mit der Gesamtdarstellung sichtlich gescheitert. Herausgekommen ist eine in weiten Teilen redundante Material- und Exzerptsammlung, die thematisch geordnet wird. Damit aber schränken Müller und Ruoff Nutzbarkeit wie Lesbarkeit der Studie massiv ein. Auch argumentieren sie merkwürdiger Weise nicht im Sinne ihrer These, sondern beschränken sich – passagenweise – darauf zu dekretieren, die Autoren seien in ihren Texten in dem von ihnen behaupteten Sinn vorgegangen. Ob das so ist, kann aber bezweifelt werden, allerdings nicht, weil die Thesen nicht plausibel wären, sondern weil die Verfasser sie nicht ableiten und ausreichend nachvollziehbar machen. Wie sich etwa die politische Positionierung der Autoren auf ihre Themenwahl und –bearbeitung auswirkt und wie dies auf die Verarbeitung der Desillusionierung nach dem Mai 68 auswirkt, bleibt offen.

 
 

Anmerkungen

Jean-Patrick Manchette: Chroniques. Essays zum Roman noir. Hg. von Doug Headline und François Guérif. Aus dem Französischen von Katarina Grän und Ronald Vouillié. Heilbronn: DistelLiteraturVerlag 2005.   zurück
Jean-Patrick Manchette, Jean-Pierre Bastid: Laßt die Kadaver bräunen! Aus dem Französischen von Katarina Grän und Ronald Voullié. Heilbronn: DistelLiteraturVerlag 2007.   zurück
Ausnahmen sind vielleicht Carl Wille (alias Michael Wildenhain) oder Lars Becker.    zurück
Vgl. dazu Lewis D. Moore: Cracking the Hard-Boiled Detective. A Critical History from the 1920s to the Present. Jefferson: Mac Farland & Company 2006.   zurück
Vgl. Thomas Hecken: Avantgarde und Terrorismus. Rhetorik der Intensität und Programm der Revolte von den Futuristen bis zur RAF. Bielefeld: Transcript Verlag 2006 und Thomas Hecken: 1968. Von Texten und Theorien aus einer Zeit euphorischer Kritik. Bielefeld: Transcript 2008.   zurück