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Postmoderne Literatur
und die Politik der Erinnerung

Ein Beitrag zur Erforschung der Exilliteratur
jenseits nationalliterarischer Grenzen

  • Robert Leucht: Experiment und Erinnerung. Der Schriftsteller Walter Abish. (Literaturgeschichte in Studien und Quellen 14) Wien: Böhlau 2006. 348 S. Broschiert. EUR (D) 39,00.
    ISBN: 978-3-205-77512-6.
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Flucht, Exil und Erinnerung: Walter Abish

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Der zeitgenössische Autor Walter Abish ist bisher meist als Vertreter der amerikanischen Gegenwartsliteratur rezipiert worden. Studien innerhalb der Amerikanistik befassten sich hauptsächlich mit der sprachspielerischen Dimension seiner Prosa. In den Vordergrund rückten sie die selbstauferlegte Beschränkung als Gestaltungsprinzip von Abishs Arbeiten: als postmoderne »self-conscious fiction« 1 seien diese in erster Linie Reflexionen über die Sprache selbst und über die Produktionsverfahren von Texten.

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Doch die Komplexität von Abishs Werk ist allein aus dieser Perspektive nicht zu erfassen. Robert Leuchts Buch Experiment und Erinnerung, das hier vorgestellt werden soll, zeigt dies, indem es auf eine weitere wichtige Dimension von Abishs Texten aufmerksam macht: Auf die Thematisierung von Flucht, Exil und Erinnerung und damit auf die historischen und politischen Aspekte seiner Arbeit. Leucht liest Abishs Werk erstmals im Kontext der Exilliteratur. Seine Dissertation, die an der Universität Zürich abgeschlossen und mit dem »Wissenschaftspreis 2005« der Österreichischen Gesellschaft für Germanistik ausgezeichnet wurde, beschäftigt sich als germanistische Arbeit mit englischsprachiger Literatur. Dies könnte zunächst überraschen, doch für die Wahl dieser Forschungsperspektive gibt es gute Gründe: Vertriebene Autoren haben häufig die Sprache gewechselt, und damit sind ihre Werke sowohl als Teil einer Nationalliteratur wie auch als Teil der Exilliteratur von Bedeutung.

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Leuchts Ansatz ergibt sich aus der Beobachtung eines wichtigen Merkmals von Abishs Texten: Es ist das Nebeneinander verschiedener Sprachen und Stimmen, das mehrere seiner Arbeiten prägt und für sein poetisches Verfahren charakteristisch ist. Im englischen Text zeigen sich einzelne Ausdrücke und fragmentierte Sätze aus anderen Sprachen, vor allem aus dem Deutschen. Sie weisen auf das Feld von Erinnerung und Vergessenheit im Zusammenhang mit den Katastrophen des 20. Jahrhunderts.

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Walter Abish wurde 1931 in Wien geboren. 1938 floh die Familie über Nizza nach Shanghai ins Exil. Dort besuchte Abish eine englische Schule und wurde auch in Chinesisch, Japanisch und Hebräisch unterrichtet, zu Hause sprach die Familie Deutsch. Von 1948 bis 1956 lebte Abish in Israel, leistete Militärdienst und studierte, bevor er 1957 in die USA ging. Seit Beginn der 1970er Jahre entstanden hier seine Romane und experimentellen Prosatexte, für die er verschiedene Preise erhielt, u.a. den PEN/Faulkner Award for Fiction für seinen 1980 erschienenen Roman How German is it. Wie deutsch ist es.

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Bereits der Titel dieses Romans zeigt die Besonderheit von Abishs Werk: die Spuren der fremd gewordenen Muttersprache im Englischen. Der Spielcharakter, der mehrere von Abishs Texten kennzeichnet, wird hier durch eine Erzählweise ersetzt, die das Thema der Verdrängung der Vergangenheit in Nachkriegsdeutschland hervortreten lässt. Der Roman steht neben weiteren Texten, die autobiographische Schreibverfahren reflektieren und von Vertreibung, Exil und dem Besuch in der einstigen Heimat handeln. Die Spannung zwischen der experimentellen Seite der Texte und der Erinnerungsthematik hat Leucht bewogen, Abishs Werk im Kontext der Exilliteratur und somit zwischen den Sprachen und jenseits nationalliterarischer Grenzen zu rekonstruieren.

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Ziele der Arbeit

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Die Zielsetzung von Leuchts Arbeit ist anspruchsvoll: Erstens soll das Buch einen Beitrag zur Exilliteraturforschung leisten. Gegenwärtige Tendenzen innerhalb dieses Forschungsgebiets, besonders die zunehmende Beschäftigung mit der zweiten Generation vertriebener Autoren und der Aspekt der literarischen Mehrsprachigkeit, werden anhand von Abishs Texten diskutiert. Zweitens sieht Leucht seine Studie als Beitrag zur Rezeption von Abishs Werk, und zwar nicht im Kontext der amerikanischen Gegenwartsliteratur, sondern innerhalb des Forschungsfeldes der Exilliteratur und bezogen auf die Frage der Darstellbarkeit von Nationalsozialismus und Holocaust in der Literatur. Für den Roman How German is it, der von der Amerikanistik in seinem Verhältnis zu frühen experimentellen Texten Abishs beschrieben und innerhalb der amerikanischen Postmoderne kontextualisiert wurde, unternimmt Leucht so eine Relektüre. Dasselbe gilt für Alphabetical Africa und andere frühe Texte. Angestrebt wird dabei, »eine Relation zwischen der spielerischen Sprachreflexion der Texte und den in Abishs Texten sichtbaren Spuren sprachlicher Fremdheitserfahrung« herauszuarbeiten und dadurch auch »der Behauptung vom formalen Konservatismus der Exilliteratur« zu widersprechen (S. 67). Zentral sind für diese Perspektive Abishs autobiographische Arbeiten, die sich mit Vertreibung und Exilerfahrung auseinandersetzen. Sie wurden bisher wenig und nur im Kontext der amerikanischen Gegenwartsliteratur studiert und werden nun in Leuchts Studie erstmals zum Gegenstand einer eingehenden Analyse. Drittens ist es Leuchts Anliegen, eine Gesamtdarstellung von Abishs bisher entstandenem Werk vorzulegen. Daher werden auch solche Texte mit der beobachteten Spannung zwischen experimentellen und konventionellen Schreibverfahren in Beziehung gesetzt, die bisher kaum in diesem Zusammenhang rezipiert wurden, etwa der Roman Eclipse Fever von 1993.

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Exilliteratur als Gegenstand interdisziplinärer Forschung

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Das Einleitungskapitel von Experiment und Erinnerung skizziert die Fragen und Problemkonstellationen, die sich aus der neuen Perspektive auf Abishs Werk ergeben. Leucht zufolge thematisieren Abishs Texte Verfolgung und Verlust, den Sprachwechsel und die »Limitiertheit und Willkür des sprachlichen Systems« (S. 11) sowie den Nationalsozialismus und die Verdrängung des Holocaust in Deutschland nach 1945. Das erste Kapitel der Arbeit bietet zu diesen Aspekten Definitionen und Kontexte, um die Textanalysen in den vier anschließenden Kapiteln vorzubereiten. Zunächst wird auf die transnationale Dimension der Exilliteratur eingegangen. Die Frage des Sprachwechsels steht bei Abish im Mittelpunkt von Texten wie The Writer-To-Be und Double Vision, die Leucht als »autobiographische Texte« (S. 69) bezeichnet. Hier schreibt Abish etwa über eine Begegnung mit dem deutsch-jüdischen Schriftsteller Uri Felix Rosenheim in Tel Aviv. Rosenheim erscheint als typische Figur eines ›Entwurzelten‹, als »eternal European« 2 und Goethe-Verehrer, der an der deutschen Sprache festhält, da er im Hebräischen keinen Ort findet und daher kaum Publikationsmöglichkeiten für seine Texte erhält. Leuchts Gegenüberstellung der unterschiedlichen sprachlichen Assimilationsprozesse von Rosenheim und Abish verdeutlicht, dass die Werke der aus dem deutschsprachigen Raum vertriebenen Autoren nicht als einer einzigen Nationalliteratur zugehörig bezeichnet werden können.

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In der Exilliteraturforschung wurde bisher der Sprachwechsel häufig als Kriterium zur Unterscheidung zwischen einer älteren und einer jüngeren Generation von Exilautoren herangezogen. Mit der strikten Grenzziehung zwischen Exilautoren, deren Publikationssprache die Muttersprache blieb, und jüngeren Autoren, die in der Sprache des Exillandes schreiben, werde aber, so Leucht, erneut eine Linie gezogen, die entlang der Grenzen der Nationalphilologien verläuft. Bestimmte Phänomene literarischer Mehrsprachigkeit, die in der Exilliteratur sichtbar werden, ließen sich jedoch aus der Perspektive einer einzelnen Nationalphilologie nicht erfassen. Zudem sind Aspekte literarischer Mehrsprachigkeit in der Exilliteratur nicht auf einzelne Autoren beschränkt. Übersetzungen, Selbstübersetzungen und Versuche, zwischen der Literatur des Herkunftslandes und der des Exillandes zu vermitteln, finden sich bei Exilautoren sehr häufig.

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Doch nicht nur die Sprachen, sondern auch die Kontexte der Exilliteratur führen über den Bereich einer Nationalliteratur hinaus. Dies zeigt besonders die Auseinandersetzung mit der Frage der »Repräsentation des Undarstellbaren« in Texten von Autoren, die die Shoa und die Vertreibung als Kinder erleben mussten und später in einer anderen Sprache als der Muttersprache zu schreiben begannen. Leucht schlägt daher einen Vergleich von Abishs Arbeiten mit Texten von Ruth Klüger, Aharon Appelfeld, Georges Perec, Jakov Lind, Erich Fried, Jean Améry und Peter Weiss vor, und zwar im Hinblick auf die Darstellung des Nationalsozialismus, der Vertreibung und der Lager-Erfahrung. Da Abishs Texte darüber hinaus auch die Spannung zwischen Erinnerung und Vergessenheit nach 1945 thematisieren, die noch die Gegenwart bestimmt, ergeben sich auch Berührungspunkte zwischen seinen Texten und dem Werk von Gegenwartsautoren aus dem Land der Vertreibung wie Elfriede Jelinek und Christoph Ransmayr, die Leucht ebenfalls parallel liest.

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Dass Abishs Werk von der Germanistik unbeachtet blieb, ist nicht nur durch den Sprachwechsel begründet. Auch diejenigen Autoren, die im Exil weiter auf Deutsch schrieben und publizierten, wurden innerhalb der Germanistik der deutschsprachigen Länder wenig besprochen. Es war die von Emigranten mitgeprägte Germanistik in den USA, die entscheidend dazu beitrug, dass die Exilliteratur zu einem Forschungsfeld wurde. In Österreich selbst fand die Erforschung der Exilliteratur kaum an den Hochschulen statt, sondern hauptsächlich an außeruniversitären Institutionen. Das geringe Interesse an der Literatur der Vertriebenen steht in engem Zusammenhang mit der Geschichte des Fachs Germanistik während und nach dem Nationalsozialismus. Leucht folgt ihr in einem Exkurs, der sich besonders mit der Verstrickung der österreichischen Germanistik in den Nationalsozialismus einerseits, mit der späten Aufarbeitung dieser Verstrickung anderseits befasst. Die Ergebnisse der hierzu vorhandenen Sekundärliteratur fügt Leucht zu einer sehr gelungenen Überblicksdarstellung zusammen, wobei er auf bestimmte Positionen innerhalb der Exilliteraturforschung besonders eingeht: Während im Mittelpunkt der deutschsprachigen Studien lange Zeit die Auseinandersetzung mit Werken derjenigen Autoren stand, die schon vor der Vertreibung geschrieben hatten und ihre Arbeit im Exil fortsetzten, hat sich die amerikanische Exilforschung auch mit der »successor generation« 3 befasst, also mit denjenigen Autoren, die als Kinder in die USA kamen und von Anfang an auf Englisch schrieben. Diese spätere Generation, zu der Abish aufgrund des Sprachwechsels gezählt werden kann, ist jedoch noch wenig erforscht. Ansätze dazu finden sich in Studien über literarische Texte, die den Holocaust und die Frage der Repräsentation thematisieren. Die Texte von Holocaustüberlebenden werden dort meist von denjenigen einer zweiten Generation von Autoren unterschieden, die keine direkten Augenzeugen des Holocaust waren. Zu ihnen gehören u.a. Georges Perec, Sarah Kofman und David Grossman. Auch Abish lässt sich, so Leucht, aufgrund der biographischen Situation und der antirealistischen Darstellungsform seiner Texte, die sich von den dokumentarischen Verfahren der Literatur von Holocaustüberlebenden unterscheidet, dieser Gruppe zuzählen.

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Die Diskussion von Abishs Werk im Rahmen der Exilliteratur ist nach Leucht auch deshalb interessant, weil das selektive Erinnern der deutschen Nachkriegsgeneration in How German is it thematisiert wird. Eine Entsprechung hat diese Spannung zwischen Erinnerung und Verdrängung in der Exilliteraturforschung, wo die Rezeption der Exilliteratur als »antifaschistisch« unter jüngeren Wissenschaftlern dem Versuch einer Traditionsfindung nach 1945 und zuweilen auch dem Ausblenden des Holocaust diente, wie Stephan Braese gezeigt hat. 4 Zum zweiten kann, da in Abishs Arbeiten intertextuelle Bezüge zur deutschen Literatur sichtbar gemacht werden, der Blick auf die kulturellen Wechselbeziehungen im Exil gerichtet werden, die sich durch die Übersetzungstätigkeit der Exilschriftsteller und durch ihre Rolle bei der Literaturvermittlung ergaben. Da auch Abish in den USA zunächst als Übersetzer gearbeitet und am English Department verschiedener Universitäten gelehrt hat, ergibt sich die Verbindung nicht nur zu anderen Exilautoren, sondern auch zu amerikanischen Gegenwartsautoren, die deutschsprachige Literatur ins Amerikanische übertrugen.

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Autobiographie und/als Fiktion

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Die Diskussion von Abishs autobiographischem Werk ist einer der Schwerpunkte von Leuchts Arbeit und steht im Mittelpunkt des zweiten Kapitels. Leucht schreibt, in keinem andern Werksegment würden »die Schwierigkeiten, experimentelle Schreibweisen mit der Darstellung des Nationalsozialismus zu verbinden« (S. 297), so deutlich wie in den autobiographischen Texten. In der Tat ist die Stellung des Genres Autobiographie innerhalb der Exilliteratur zentral. Während Exilautobiographien oft durch einen Formkonservatismus geprägt sind, zeigt Leucht, dass Abishs Texte, die erst 40 Jahre nach der Vertreibung entstanden, eine Vielzahl von Schreibstrategien aufweisen. Gerade durch diese unterschiedlichen Vermittlungsformen auf der Darstellungsebene wird die Frage nach dem Verhältnis von Autobiographie und Fiktion diskutiert. Sie ist vor dem Hintergrund der Exil- und Holocaustliteratur von besonderem Interesse. Leucht skizziert die literaturwissenschaftliche Kontroverse um das Problem der Unterscheidbarkeit zwischen Autobiographie und Fiktion: Die Vorstellung von der »Authentizität« der Exil- und Holocaustliteratur (S. 93) und ihr Anspruch, von den historischen Ereignissen Zeugnis abzulegen, steht hier einer etwa von Paul de Man vertretenen Richtung entgegen, die von der Unmöglichkeit ausgeht, auf der Ebene des Textes zwischen Autobiographie und Fiktion zu unterscheiden. 5

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Genau diese Problemkonstellation, so zeigt Leucht, diskutiert Abish in Texten wie What else (1981) und Self-Portrait (1977). What else reflektiert die Regeln des autobiographischen Schreibens, und zwar nicht anhand der eigenen Ich-Beschreibung, sondern anhand eines autobiographischen Kanons: Hier sind fünfzig Passagen aus Autobiographien, Tagebüchern und Briefen von Autoren verschiedener Sprachen in englischer Übersetzung nebeneinander gestellt und zu einer Collage arrangiert. Obwohl sie aus verschiedenen Sprachen und Kontexten stammen, lässt sich im Text dennoch ein autobiographisches Ich erkennen und es ergeben sich thematische Gemeinsamkeiten. Nach Leuchts Lesart zeigt dieser Text, dass es

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innerhalb des autobiographischen Diskurses, in dem es um die Subjektivität, Einzigartigkeit und Beschreibung des eigenen Ich geht, eine so grosse Zahl von Präformationen gibt, dass es zur Erzeugung eines Ich lediglich einer Collage aus anderen Versatzstücken dieses Modus bedarf (S. 73).
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Es sei hier also ein »gattungsspezifischer Duktus« sichtbar gemacht (S. 81), und damit würden die Produktionsweisen von Autobiographie reflektiert.

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What else ist ein »polyglotter Text«, der schon im Original eine Übersetzung darstellt (S. 73). Er weist damit bereits hin auf die intertextuellen Verfahrensweisen in Abishs anderen autobiographischen Texten. Mehrere dieser Arbeiten berichten von Fluchtrouten, von Erfahrungen an den Exilorten und von der Wiederbegegnung mit der früheren Heimatstadt Wien, für deren Darstellung Abish Bezüge zum Werk Thomas Bernhards herstellt, um die eigene Position als Außenseiter literarisch zu gestalten. Die autobiographischen Texte zeigen Parallelen zu Abishs Deutschland-Texten, in denen ebenfalls aus der Perspektive eines außen stehenden Besuchers über Nachkriegsdeutschland erzählt wird. Sie problematisieren die Rolle deutscher Intellektueller während der NS-Zeit und die Tendenz in der Bundesrepublik, angesichts des erfolgreichen Wiederaufbaus die Verbrechen der Vergangenheit und das Thema der Verantwortung auszublenden.

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Leucht hebt hervor, dass Abish in Arbeiten, die Vertreibung und Flucht thematisieren, weitgehend konventionelle Schreibverfahren nutzt, wogegen sich z.B. der Text Self-Portrait, der die Fiktionalität der Gattung Autobiographie am stärksten reflektiert, nicht auf den Kontext der Vertreibung beziehen lässt. Das autobiographische Ich in Self-Portrait erscheint fragmentiert, denn der Text ist in elf unabhängige Abschnitte unterteilt, die Informationen enthalten, welche zu keinem Ganzen zusammengeführt werden. Dadurch trägt der Text, wie Leucht ausführt, der Auffassung Alain Robbe-Grillets Rechnung, der in seiner Rede Neuer Roman und Autobiographie von 1986 vorschlug, die Inkonsistenz und Widersprüchlichkeit des Lebens durch entsprechende textuelle Verfahren sichtbar zu machen. 6 Nach Leucht werden in Self-Portrait das willkürliche Verhältnis zwischen Zeichen und Bezeichnetem und die postmoderne Übereinkunft diskutiert, dass die Sprache kein Abbild der Realität zu geben vermag. Abish zeige am Beispiel von Kafkas Literatur, dass »die Wahl der ersten Person oder die Wahl einer Initiale eine Entscheidung ist, die keine Aussage über den autobiographischen Gehalt des Geschriebenen zulässt« (S. 116).

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In diesem Zusammenhang bespricht Leucht auch die unterschiedliche Funktion von Bildern in Abishs Texten. Es handelt sich dabei meist nicht um wirkliche Fotos, sondern um Bildbeschreibungen. In Self-Portrait dienen sie weniger der Illustration des Erinnerten, sondern konkurrieren mit ihm: statt es zu bestätigen, stellen sie es in Frage. Die unterschiedlichen literarischen Verfahren in den autobiographischen Texten zeigen, so Leucht, Abishs intensive Suche nach einer adäquaten Darstellung der Auseinandersetzung mit der eigenen Lebensgeschichte.

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Erinnerung und Vergessenheit

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Das dritte Kapitel der Arbeit ist Abishs Deutschland-Texten und der Diskussion seiner Arbeiten im Kontext der österreichischen Exil- und Gegenwartsliteratur gewidmet. Bei der Lektüre des Romans How German is it, der das Verdrängen bzw. selektive Erinnern der nationalsozialistischen Verbrechen in der Nachkriegszeit thematisiert, geht es Leucht darum zu zeigen, dass die spielerischen Verfahren und das Zulassen von Ambivalenz die politischen Implikationen des Textes nicht ausschließen. Sie seien vielmehr ein geeignetes Mittel, »um Diskursen entgegenzutreten, die die Vieldeutigkeit der Wirklichkeit aus ideologischen Gründen in die eine oder andere Richtung abwehren oder simplifizieren« (S. 193). Im vierten Kapitel wird zunächst auf thematische und strukturelle Gemeinsamkeiten zwischen Abishs Texten und anderen Exil-Autobiographien eingegangen. Dabei hält Leucht fest, dass es vor allem das Aufeinandertreffen von Tätern und überlebenden Opfern bzw. ihrer Nachkommen wie auch das Thema des Orts ist, das diese Texte beschäftigt: einerseits der verlorene Ort, an den sich die Vertriebenen bei der Wiederbegegnung mit der früheren Heimat erinnern, anderseits die Orte der Vernichtung, mit denen sich die Schreibenden konfrontieren. Diese Thematik ist auch für den zweiten Teil des Kapitels bestimmend, wo Berührungspunkte zwischen Darstellungsweisen in Abishs Werken und in der österreichischen Gegenwartsliteratur herausgearbeitet werden. Die Gemeinsamkeit der Texte von Abish, Ransmayr und Jelinek sieht Leucht darin, dass hier zur Beschreibung des Holocaust keine abstrakten Überbegriffe benutzt werden, sondern vielmehr die Materialität der Vernichtungsmaschinerie in den Blick rückt.

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Die politische Dimension des Sprachspiels

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Das fünfte Kapitel bietet eine Lektüre von Abishs früher Prosa und des bisher letzten Romans Eclipse Fever, der zu diesen Texten in Beziehung gesetzt wird. Leucht deutet die experimentelle Schreibweise der frühen Texte Abishs als Sprachreflexionen, deren Hintergrund der Sprachverlust im Exil bildet. Auch in diesen Arbeiten finden sich, wie in mehreren der autobiographischen und der Deutschland-Texte, deutschsprachige Wörter im englischen Text. Zugleich werden Schreibverfahren sichtbar, die die Struktur des Alphabets für ein kombinatorisches Spiel nutzen. Am deutlichsten zeigt sich dies in Abishs erstem Roman Alphabetical Africa von 1974: Jedes der 52 Kapitel ist mit einem Buchstaben des lateinischen Alphabets überschrieben, die alphabetische Ordnung wird somit auf die Ordnung der Repräsentation projiziert. Im ersten Romankapitel dürfen nur Wörter mit dem Anfangsbuchstaben ›a‹ vorkommen, im zweiten Kapitel nur Wörter mit ›a‹ oder ›b‹ und so fort, bis in den beiden mittleren Kapiteln des Textes, überschrieben mit ›Z‹, alle Buchstaben am Wortbeginn zugelassen sind. Von der Romanmitte an läuft das Alphabet rückwärts, die Zahl der möglichen Wörter nimmt kontinuierlich ab, bis im letzten Kapitel wieder nur das ›a‹ als Anfangsbuchstabe erlaubt ist.

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Innerhalb der Amerikanistik, so Leucht, sei mehrheitlich die Auffassung vertreten worden, dieser Text sei ein Beispiel für den Spielcharakter der Literatur, da er die »Limitiertheit des sprachlichen Systems vorführe« und zeige, wie »Sprache aus sich selbst heraus schafft« (S. 261 f.). Demgegenüber sind nach Leuchts Ansicht die Produktionsverfahren von Alphabetical Africa als Versuch zu deuten, »den Charakter von Worten als reine Zeichen hervorzukehren« (S. 262). Die »Kategorie des reinen Zeichens« leitet er aus den Reflexionen der fiktiven Figuren über den »Raum zwischen den Sprachen« ab und bezeichnet sie als zentrale Kategorie für seine Analyse der frühen sprachspielerischen Texte. Er will zeigen, dass diese Schreibverfahren »die Aufmerksamkeit des Lesers von den Assoziationen, die ein Wort hervorruft, hin zu seiner Eigenschaft als reinem Zeichen lenken« (S. 259). Damit trete »die lexikalische Gestalt der Worte in den Vordergrund und die durch sie transportierte Bedeutung in den Hintergrund«. Besonders die ersten und letzten Kapitel des Romans zeigten, dass »Worte nicht von sich aus Bedeutungsträger sind« (S. 263). Wo Fremdwörter in den Text eingefügt würden, hätten sie den Effekt von »reinen Zeichen«, da sie beim englischsprachigen Leser keine Assoziationen hervorrufen würden. Zudem bewirke der Zwang der alphabetischen Struktur, dass die Sprachbausteine zwar nicht als fremd, aber aus ihrer vertrauten Verankerung gelöst und verfremdet erscheinen. Damit entstehe im Text eine Spannung zwischen vertrautem und fremdem sprachlichen Zeichen, so Leucht.

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Doch gerade in Bezug auf den Roman Alphabetical Africa wäre eine andere Lektüre möglich. Im letzten Kapitel der Arbeit über Abishs Werk könnten dadurch die Bereiche »Experiment« und »Erinnerung« zusammengeführt und die Relation »zwischen der spielerischen Sprachreflexion der Texte und den in Abishs Texten sichtbaren Spuren sprachlicher Fremdheitserfahrung« (S. 67) als unlösbare Verbindung gedeutet werden. Denn anhand von Alphabetical Africa zeigt sich, dass sprachspielerische Schreibweisen mit der Darstellung des Nationalsozialismus und der Thematisierung der Shoa zu verbinden hier nicht nur keine Schwierigkeiten bietet, sondern dass der Roman die beiden Bereiche miteinander in einer Weise verknüpft, die selbst schon Teil einer literarischen Überlieferung ist. Bei Abish birgt das Sprachspiel die Erinnerung, und die politische Dimension seiner Arbeit zeigt sich gerade in seinen experimentellen Texten: Das Interesse am Sprachspiel, an Tautogrammen und Leipogrammen, an den fehlenden Buchstaben und an den Fremdwörtern teilt Walter Abish mit Georges Perec. Dieser war Mitglied der französischen Gruppe Oulipo, die seit 1960 Buchstaben- und Wortexperimente unternimmt, um die Möglichkeiten und Grenzen der Sprache zu prüfen. 7 In einem theoretischen Aufsatz zum Leipogramm erwähnte Perec Gershom Scholems Studien zur Kabbala. Er schrieb, ein Abglanz der kabbalistischen Versuche, den Sinn der heiligen Schrift durch sprachspielerische Operationen mit dem hebräischen Alphabet zu ergründen, liege noch auf dem modernen Leipogramm. 8 Eine der Folien für Perecs Sprachübungen bildet auch Derridas These, die Vorstellung von einem Urtext, der zu erschließen wäre, sei verfehlt: der Ursprung sei leer und habe nur ein unendliches Spiel von Interpretationen hervorgerufen. 9 In Perecs Leipogrammen, etwa im Roman La disparition von 1969, einem umfangreichen Text ohne den Vokal ›e‹, sind die verlorenen Buchstaben Zeichen für den durch Krieg und Shoa erlittenen Verlust. Auch die Gedichte in seinem Band Alphabets von 1976 sind Reflexionen über die Abwesenheit und bilden Erinnerungssteine für die ortlosen Gräber der Ermordeten. Zugleich dokumentieren sie über das Einfügen deutscher Begriffe in den französischen Text die Kontamination der deutschen Sprache durch die Verbrechen und weisen hin auf die Gleichzeitigkeit von Kultur und Barbarei. Hier bei Perec zeigt sich damit schon die Arbeit mit Fremdwörtern im Text, die Abish ausbauen sollte.

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Auch Alphabetical Africa spricht vom Verschwinden. Abish beschreibt eine chaotische Welt voller Gewalt und Gefahr. Der Roman erzählt über den Eintritt des aus Europa Entkommenen in die Ordnung der fremden Sprache und über die Formulierung des Begehrens, für das Abish mit der Gestalt Alvas eine ironische Figuration erfindet. 10 Das Stammeln des Sprachanfängers bei der Suche nach dem richtigen Wort wird im Text hörbar: Der Roman beginnt wie eine Fibel für Kinder, und das Wörterbuch ist ein wichtiger Begleiter der »author«-Figur. Zunächst ist der Kontinent der fremden Sprache dunkel und verwirrend. Durch Vergrößerung des Vokabulars versucht der »author«, sich dem Objekt des Begehrens zu nähern, und am Schluss kommt es tatsächlich zur Begegnung und sogar zur Verlobung des »author« mit Alva. Doch kein Ende im Kontinuum der Weltgeschichte ist in Sicht: eine weitere Reihe von Kriegen, Vertreibungen und neuen alphabetischen Sprachversuchen wird folgen.

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Man könnte annehmen, die von Abish auf den Text projizierte alphabetische Ordnung bestimme die Auswahl der Signifikanten und regiere damit die Handlung, ja erzeuge sie sogar. 11 Doch Abishs Roman nutzt ähnlich wie Perec die »contrainte«, um zu zeigen, dass ein Text mit äußerst komplexer Verweisungsstruktur selbst unter der Spielregel schreibbar ist, da dem Autor sogar hier die Entscheidungsfreiheit bleibt bei der Wahl der Signifikanten: Antibes und Afrika, Araber und Ashantis eröffnen ganz andere Bedeutungsfelder und intertextuelle Bezüge als dies etwa Astrachan und Australien, Assyrer und Argentinier tun würden. Leuchts These, der Roman zeige die »Limitiertheit und Willkür des sprachlichen Systems« (Leucht S. 11), wäre damit zu überdenken. Alphabetical Africa erörtert die Möglichkeiten des Autors unter einer »contrainte«, die hier für eine andere, nicht selbst gewählte Beschränkung steht: Der Roman thematisiert das Schreiben in einer Sprache, die nicht die eigene Muttersprache ist, und stellt zugleich die Frage nach der Identität des Schriftstellers unter den Bedingungen der Emigration.

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Die Reflexion über Sprache und Machtverhältnisse ist das zentrale Thema des Romans Alphabetical Africa. Auch das Kolonialstreben der westlichen Nationen gehört in diesen Zusammenhang. Erzählt wird vom französischen Versuch der Annexion Zanzibars, den jedoch die aufständischen Riesenameisen vereiteln. Über die Identität dieser Ameisen gibt der Text Aufschluss: Mit der Bemerkung »ants are Ameisen« 12 wird ein deutsches Wort als Signifikant eingeführt, das über einen weiteren Hinweis die Lektüre in eine bestimmte Richtung lenkt: Der »author« entdeckt ein Buch mit dem Titel »Die Ratsame und Nützliche Ausrottung der Gefährlichen Afrikanischen Ameisen« 13 . Dieser Buchtitel parallelisiert die Ameisen mit den Verfolgten und den Opfern der Shoa. Versteckt und doch anwesend, bilden die Ameisen den verborgenen Text des Romans. Das Morphem »ant« ist in Toponymen wie »Antibes« enthalten, in Wortwurzeln wie »anthem« oder in Verben wie »antagonizing«. 14 Hier wie in How German is it verbindet Abish das deutschsprachige Wort mit der im Nachkriegsdeutschland verdrängten Vergangenheit. In Alphabetical Africa sind es Herman und Gustaf, Figuren, die Gewalt, Unersättlichkeit und Größenwahn verkörpern, die das deutsche Wort mit sich bringen, das die Last der Verbrechen trägt und die Mörder nennt. Es ist Teil einer verheerten Sprache, der kontaminierten Muttersprache, für die es keine Heilung gibt.

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Abishs Roman zeigt – wie die Texte von Perec – keine Welt »sans espace et sans temporalité« 15 , sondern er widmet sich dem Datum und dem verlorenen Ort. Wenn er im Spiel von den Abwesenden spricht, fragt er gleichzeitig nach der Möglichkeit des Schreibens unter den Bedingungen der Verlorenheit, der Heimatlosigkeit und des Exils. Es war die Frage nach dem Verhältnis des »Nouveau Roman« zum Thema Erinnerung und Vergessenheit, auf die der 85jähige Alain Robbe-Grillet anlässlich eines Gesprächs am 30. Oktober 2007 in der Aula Magna der Universität Fribourg keine Antwort gab, sondern der er verärgert auswich. Leucht dagegen thematisiert diese Frage, und er hätte in seiner wichtigen Arbeit dem von ihm gewählten Weg, die politische Seite des postmodernen Romans zu diskutieren, ruhig noch konsequenter folgen können.

 
 

Anmerkungen

Vgl. Brian Stonehill: The self-conscious Novel. (Penn Studies in contemporary American Fiction, hg. von Emory Elliott) Philadelphia: University of Pennsylvania Press 1998, S. 12.   zurück
Vgl. Walter Abish: The Writer-To-Be: An Impression of living. In: Sub-Stance 27 (1980), S. 101–114, hier S. 113.   zurück
Vgl. Guy Stern: The Theme of Exile in the Works of the American Successor Generations. In: Dieter Sevin (Hg.): Die Resonanz des Exils. Gelungene und misslungene Rezeption deutschsprachiger Autoren. Amsterdam, Atlanta: Rodopi 1992, S. 98–109.   zurück
Stephan Braese: Fünfzig Jahre danach. Zum Antifaschismus-Paradigma in der deutschen Exilforschung. In: Exilforschung. Ein Internationales Jahrbuch. Bd. 14. München: Edition Text und Kritik 1996, S. 133–149, hier S. 134.   zurück
Vgl. Paul de Man: Autobiography as De-Facement. In: Modern Language Notes Vol. 94 (1979), S. 919–930.   zurück
Vgl. Alain Robbe-Grillet: Neuer Roman und Autobiographie. Konstanz: Universitätsverlag Konstanz 1987, S.2 7.   zurück
Zum »Ouvroir de Littérature Potentielle« vgl. Oulipo. La literature potentielle (Créations Re-créations Récréations). Paris: Gallimard 1973.   zurück
Vgl. Georges Perec: Historie du lipogramme. In: Oulipo. La literature potentielle (wie Anm. 7), S. 77–93, hier S. 89.   zurück
Jacques Derrida: Force et signification. In: J. D.: L’écriture et la différence. Paris: Ed. du Seuil 1967.   zurück
10 
Vgl. Jacques Lacan: Die Fluktuationen der Libido. In: J. L.: Das Seminar. Bd. 1: Freuds technische Schriften. Übersetzt von Werner Hamacher. Olten, Freiburg/Br.: Walter 1978, S. 225–238, besonders S. 227 f.   zurück
11 
So etwa Philippe Cantié: Des fourmis dans la langue (Le tout, les parties et le reste). In: Anglophonia / Caliban 5 (1999), S. 135–147.   zurück
12 
Walter Abish / Jürg Laederach: Alphabetical Africa/Alphabetisches Afrika. Basel: Urs Engeler 2002, S. 208.   zurück
13 
Ebd., S. 305.   zurück
14 
Darauf hat Philippe Cantié hingewiesen in: Philippe Cantié: Des fourmis dans la langue (wie Anm. 11), S. 137.   zurück
15 
Alain Robbe-Grillet: Préface à une vie d’ écrivain. Paris: Ed. du Seuil 2005, S. 133.   zurück