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  • Torben Fischer / Lorenz Matthias N. (Hg.): Lexikon der »Vergangenheitsbewältigung« in Deutschland. Debatten- und Diskursgeschichte des Nationalsozialismus nach 1945. (Kultur- und Medientheorie) Bielefeld: transcript 2007. 398 S. Broschiert. EUR (D) 29,80.
    ISBN: 978-3-89942-773-8.
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Zur Korrelation von Geschichtsereignis
und Geschichtsforschung

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Wann ein Geschichtsereignis zum etablierten Gegenstand der Geschichtsforschung gerinnt, lässt sich nie von vornherein bestimmen. Die Metamorphose hat wohl vor allem mit einem »angemessenen« Zeitabstand zu tun, der den psychisch distanzierten, mithin wissenschaftlichen Blick auf das Ereignis, die abgeschlossene Objektwerdung des Geschehenen, erst eigentlich ermöglicht. Früher oder später ereilt dieses Schicksal zwangsläufiger Objektivierung noch das neuralgischste Geschichtsereignis. Ein Indiz dafür, dass nun aber ab einem gewissen Zeitpunkt auch der historiographische Prozess an sein Ende gelangt bzw. in eine neue Phase der Ereigniswahrnehmung eingetreten ist, ergibt sich dann, wenn die Rezeption aufhört, sich mit dem Ereignis selbst, mit seiner Darstellungsgestaltung und erkenntnisgeleiteten Analyse zu befassen, um sich mit umso größerer Verve der Geschichte seiner Geschichtsschreibung, mithin der Durchforstung seiner historiographierten Manifestationen, hinzuwenden. Davon war selbst ein Zentralereignis der europäischen Moderne wie die Französische Revolution nicht ausgenommen. Als 1989 der 200. Jahrestag der Revolution zelebriert wurde, konkurrierten kaum mehr Darstellungen des historischen Revolutionsgeschehens und nur noch wenige Strukturanalysen der Historie miteinander; das agonale Feld des Revolutionsdiskurses beherrschten vor allem gesinnungsgestählte Kontroversen und Debatten über die Geschichtsschreibung der Französischen Revolution – was sich im nachhinein wie ein letztes Aufbäumen der diesem Geschichtsereignis verpflichteten Historikerzunft ausnehmen mag; seit dem Zusammenbruch des Sowjetkommunismus ist das Reden über die Französische Revolution mehr oder minder verstummt.

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Die NS-Vergangenheit als »Geschichtsepoche«

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Wie steht es da mit der NS-Vergangenheit Deutschlands? Eine Geschichtsepoche ist es, die Dan Diner bereits in den 1990er Jahren im Hinblick darauf zu erkunden trachtete, ob sie Geschichte geworden, mithin historisierungsfähig sei, freilich erst nachdem Ernst Nolte sich einige Jahre zuvor öffentlich darüber beklagen zu sollen meinte, dass es sich um eine nicht vergehende Vergangenheit handle, womit er nun seinerseits eine lange, tiefgreifende Debatte vom Zaune brach, an der sich alles zu beteiligten schien, was in der alten Bundesrepublik einen wissenschaftlichen, publizistischen, medialen oder sonstigen intellektuellen Rang und Namen beanspruchte. Schon in diesem berühmt gewordenen Historikerstreit und seinen über Jahre anhaltenden Folgen wurde klar, dass es zwar einerseits noch um eine leicht verspätete Wesenbestimmung des Nationalsozialismus und des von ihm verursachten Holocaust gehe, andererseits aber auch – primär! – um die Rezeption des monströsen historischen Ereignisses, die Bedeutung seiner aktuell vorgenommenen Relativierung, seinen Stellenwert im kollektiven Selbstverständnis der BRD und die Belastung seines Andenkens durch fremdbestimmte (teils tagespolitische) Interessen und Belange. Was sich ein Jahrzehnt später im bereits vereinten Deutschland mit nicht minderer Breitenwirkung in der berüchtigten Walser-Bubis-Debatte entladen sollte, hatte seinen Vorlauf in jenem Zunftstreit, bei dem es bereits um die »Bewältigung« der Vergangenheit gegangen war, wenig, wenn überhaupt noch, um ihre Erforschung.

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Die Aufarbeitung des Nationalsozialismus in
beiden Staaten Deutschlands

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Hatte es aber im Falle der Französischen Revolution rund 170 Jahre bedurft, ehe man sich der Geschichte der Geschichtsschreibung (wissenschaftlich) zu widmen begann, so bedurfte es (in Deutschland) im Falle des Nationalsozialismus und des Holocaust weniger Jahrzehnte, genau betrachtet aber überhaupt keines größeren Aufschubs: Die Rezeption der NS-Zeit und die Reflexion ihrer Bedeutung fürs Gegenwärtige fanden in beiden deutschen Staaten parallel, unter je eigenen ideologischen Vorzeichen, von Anbeginn statt. Dies hatte vor allem damit zu tun, dass die deutsche Nachkriegszeit in den Kalten Krieg, mithin in eine durch Deutschland hindurch laufende, blockmäßig nahezu hermetisch ideologisierte Aufteilung der Welt hineinglitt; nicht minder aber auch damit, dass sich das späterhin als »Zivilisationsbruch« apostrophierte Ereignis des Holocaust noch Jahrzehnte später jedem Versuch objektiver Distanzierung entzog, wie sich im Falle Ernst Noltes erweisen sollte.

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Debatten- und Diskursgeschichte des Nationalsozialismus nach 1945

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Der aus diesen Prädispositionen erfolgten »Debatten- und Diskursgeschichte« widmet sich der vorliegende Band. Es sei sogleich festgestellt: Es ist zum ausgezeichneten Kompendium geraten, an dem niemand wird künftig vorbeikommen können, der sich der deutschen Auseinandersetzung mit dem von Deutschland im 20. Jahrhundert Verbrochenen stellen möchte. Schon der Haupttitel des Werkes markiert dabei das Unabgeschlossene seines Gegenstandes: »Vergangenheitsbewältigung« wird bewusst in Anführungszeichen gesetzt, wohl nicht nur, um das Prekäre am Begriff selbst zu indizieren, sondern auch um das Fortdauernde der Rezeption anzuzeigen. So besehen, handelt es sich in der Tat um eine mitnichten vergangene Vergangenheit, eben weil es bei dieser Auseinandersetzung nicht (nur) um das nunmehr schon über sechzig Jahre Zurückliegende geht, sondern um seine fortwirkende Relevanz, wie sie sich in seiner unablässigen Rezeption unter Bezugnahme auf jeweils aktuelle Kontexte manifestiert. Die Herausgeber des Bandes, Torben Fischer und Matthias N. Lorenz, haben bei diesem Unterfangen einen sich als fruchtbar erweisenden Kunstgriff gewagt: Sie verzahnen das thematisch angelegte Lexikale mit einer historisch vorgegebenen Zeitchronologie, ermöglichen mithin dem Leser, sowohl den Prozesscharakter der Rezeption zu verfolgen als auch sich an einzelnen Stationen und Topoi zu orientieren. Hervorgehoben sei, dass sie sich dabei keiner pauschalisierenden Dekadenunterteilung unterworfen haben, sondern die angebotenen Zeitabschnitte nach Logik und Substanz der Aufarbeitungspraktiken wie auch der Ideologisierungsmuster besagter Zeiträume zu markieren bemüht waren. So erweist sich z.B. der V. Abschnitt, welcher sich mit der Zeitspanne 1979–1995 beschäftigt, als durchaus stringent, gerade weil er in seinen Unterabteilungen »Spannungsfelder 40 Jahre nach Kriegsende« (u.a. den erwähnten Historikerstreit und die Jenninger-Rede), »Erzählmuster und Aneignungsverhältnisse« (u.a. die Holocaust-Fernsehserie, Lanzmans Shoah und Spielbergs Schindlers Liste), »Erinnerungsorte zwischen Akzeptanz und Widerstand« (u.a. die wichtige Museumsdebatte und die »Topographie des Terrors«) sowie »Die Wiedervereinigung und ihre Folgen« in einen zwar heterogenen und doch in sich logisch strukturierten Zusammenhang hineinzwingt: In der Tat wirkt der Historikerstreit heute, nach der »Wiedervereinigung«, wie ein Diskurs aus einer anderen Welt; gleichwohl gehört er genau in jenen dialektischen Kontext hinein, der ihn im nachhinein als ein letzter Versuch der BRD, sich ihres geschichtlichen Selbstverständnisses zu bemächtigen, erscheinen lässt, zugleich aber auch infolge der unabweisbaren Wirkmächtigkeit der realen historischen Wende dieses Selbstverständnis neuen Wahrnehmungskoordinaten unterworfen hat.

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Der Band ist im Jahre 2007 erschienen, beendet aber die von ihm abgedeckte Chronik im Jahre 2002. Das wird seine forschungslogische Bewandtnis haben und muss nicht größer hinterfragt werden; man kommt bei der Forschung eben stets so weit, wie man es bis zum Zeitpunkt des vom Verlag vorgegebenen Redaktionsschlusses gebracht hat. Und doch sei hier darauf hingewiesen, dass sich gerade in den Jahren nach dem im Buch festgelegten Grenzjahr 2002 einiges in Deutschland zugetragen hat, das in künftigen Ausgaben des Bandes unbedingt mitbedacht und -erörtert werden sollte. Das unsägliche Diktum Martin Walsers von Auschwitz als »Moralkeule«, die ihm vor zehn Jahren genau die Kritik einbrachte, die er verdiente, scheint sich mittlerweile zu verwirklichen: Ein Ungeist geht um in Deutschland, der Ungeist einer in dieser Form und Maßlosigkeit nie gekannten Instrumentalisierung der »Antisemitismus«-Bekämpfung zu fremdbestimmten Zwecken, die mit dem Antisemitismus selbst, geschweige denn mit seiner Bekämpfung, zumeist gar nichts zu tun hat. Als »antisemitisch« wird inzwischen alles geschmäht, verfolgt, ausgeschlossen und genagelt, was die Sachwalter eines neuen Wachhund-Diskurses für richtig erachten, wobei sie selbst den Begriff des Antisemitismus durch inflationären Gebrauch solchermaßen banalisieren, dass er mittlerweile zur leeren Worthülse verkommen ist, allzeit denunziatorisch und rufmörderisch verwendbar gegen alles, was die neuen Moralkeulen-Schwinger zu ihren Feinden erkoren haben. Eine besonders gravierende Rolle spielt dabei die unreflektierte, objektive Sachverhalte vollkommen entstellende »Verwechslung« von Antisemitismus, Antizionismus und Israelkritik. Was sich in diesem Zusammenhang zunächst noch als die neurotisch-ideologische Idiosynkrasie von kleinen randständigen Politgrüppchen ausnehmen mochte, hat mittlerweile breite Wellen geschlagen und längst seinen Eingang in die breiten Medien und etablierten politischen Institutionen gefunden. Damit konnte sich der vorliegende Band noch nicht befassen (vielleicht wollten es seine Herausgeber auch nicht), aber gerade weil sich der neue Trend als Verhunzung jeder seriösen Aufarbeitung der deutschen Vergangenheit, mithin als brachiale »Vergangenheitsbewältigung« im übelsten ideologischen Sinne erweist, werden künftige Editionen nicht an seiner kritischen Erörterung vorbeikommen können. Jetzt schon darf man aber die Herausgeber zu ihrem überaus gelungenen Band beglückwünschen – einem ertrag- und hilfreichen Wegweiser in die komplexe Geschichte der Auseinandersetzung Deutschlands mit seiner grauenvollen Vergangenheit im 20. Jahrhundert.