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»Im Glaspalast der virtuellen Wirklichkeit«

Eine spektakuläre Studie zur humanistischen Autobiographie

  • Karl A. E. Enenkel: Die Erfindung des Menschen. Die Autobiographie des frühneuzeitlichen Humanismus von Petrarca bis Lipsius. Berlin: Walter de Gruyter 2008. XVII, 939 S. 27 s/w Abb. Leinen. EUR (D) 168,00.
    ISBN: 978-3-11-019352-7.
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Verschleiern und Dementieren:
Die Autobiographie als Täuschungsmanöver

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Wer die Geschichte des autobiographischen Schreibens vom italienischen Frühhumanismus des 14. Jahrhunderts bis in die Zeit der großen konfessionellen Auseinandersetzungen anhand der Studie des Leidener Latinisten Karl Enenkel verfolgt, kommt zu dem Schluss, die Verfasser der einschlägigen Berichte, Briefe oder Verstexte hätten die äußeren Umstände wie die inneren Beweggründe ihrer Lebensgestaltung skrupellos verfälscht. Da wurden nicht nur Gewichtungen verschoben und Zusammenhänge verschleiert, sondern selbst nachprüfbare Fakten und Daten im Prozess des Schreibens geändert oder schlicht weggelassen. Und wenn ein Autor mehrere Autobiographien hinterließ, konnten diese in so eklatanter Weise voneinander abweichen, dass der Leser sich fragen muss: »Handeln diese Texte von derselben Person?« (S. 595)

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Karl Enenkel setzt sich, wie im einzelnen zu zeigen ist, gründlich und unter Berücksichtigung älterer und neuerer Forschungsansätze mit diesem Befund auseinander. Seine Untersuchung ruht auf dem Fundament gesicherter Erkenntnisse über das frühneuzeitliche Literaturverständnis, die Argumentation schließt sich zwanglos an vergleichbare neuere Studien zur humanistischen Gelehrtenkultur an. Was sein monumentales Werk allerdings besonders auszeichnet, ist eine außergewöhnliche Kunst der Darstellung, die sich etwa darin zeigt, dass er in den rund 25 Einzeluntersuchungen nach Art einer Kriminalgeschichte häufig mit einer frappierenden Beobachtung einsetzt, um deren Ursachen und Hintergründe allmählich aufzudecken, so dass sich der Leser in den Prozess der ›Ermittlung‹ eingebunden fühlt. Es scheint, als ob der Forscher sich »im glitzernden Glaspalast der virtuellen Wirklichkeit« (S. 810), den seine Helden errichten, ebenso wohl fühle wie diese selbst (»Lipsius liebt die gut erfundene Lüge«, S. 813), und dieser Funke springt mühelos auch auf seine Leser über.

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»Die Erfindung des Menschen«:
Das Konzept der humanistischen Autobiographie

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In seiner luziden, die Forschungstradition beiläufig mitskizzierenden Einleitung (S. 1–39) entwickelt Enenkel klar und zielstrebig die theoretischen und methodischen Grundlagen, auf die sich die darauf folgenden Textanalysen stützen. Ausgehend von einem Vergleich der modernen mit der (rekonstruierten) frühneuzeitlichen Lesererwartung – ein Verfahren, das Enenkel mit Gewinn auch in den Einzelinterpretationen anwendet – erläutert er, dass sowohl die »Autobiographieberechtigung« (jedermann darf von seinen persönlichsten Erlebnissen öffentlich berichten; S. 2) wie auch die »Authentizitätserwartung« (der Autobiograph vermittelt ein subjektiv für wahr gehaltenes Bild von sich selbst; S. 3) rezente Phänomene sind, während der frühneuzeitliche Leser ein »intertextuelles Textverständnis« (S. 27) besitzt, das es ihm etwa erlaubt, die autobiographische Selbstkonstitution eines Verfassers in Anbindung an mythische oder historische exempla als »gültig« anzuerkennen, während er die Präsentation intimer, womöglich kontingenter Lebensdetails als Anzeichen eitler Selbstverliebtheit abqualifiziert hätte.

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Vor dem Hintergrund, dass es in der Antike keine ›Gattung‹ Autobiographie im emphatischen Sinne – wie etwa Rousseaus Confessions oder Goethes Dichtung und Wahrheit – gegeben hatte und dass auch die einschlägigen frühneuzeitlichen Texte keine formalen Gattungstraditionen (z.B. ausgedehnter narrativer Rückblick in der ersten Person, Festlegung auf die Prosaform, Nachvollzug der Entwicklung einer individuellen Persönlichkeit) ausbildeten, legt Enenkel seine Vorstellungen vom ›autobiographischen Schreiben‹ der Humanisten dar. Die »Erinnerung« (S. 27) des Autobiographen richtet sich demnach, so Enenkel, nicht auf ein individuelles Erleben, das im narrativen Modus nachvollzogen würde, vielmehr »erinnert« sich der humanistische Autor an Lektüren antiker auctores, die ihm bestimmte Möglichkeiten der »Selbstkonstituierung« (S. 30) zur Verfügung stellen. Der Gegenstand der Autobiographie wird somit in Beziehung zu einer antiken Redesituation, vielfach sogar zu einer antiken Figur gesetzt (›neuer Odysseus‹, ›zweiter Ovid‹) – ein völlig anderes Konzept als das des ›autobiographischen Paktes‹ (Philippe Lejeune), wonach dem Leser die völlige Identität von Verfasser und Objekt der Autobiographie suggeriert wird.

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Der kulturhistorisch vielfältig zu begründende Verzicht auf faktengetreue Abbildung empirischer Daten im autobiographischen Konstrukt – zu verweisen wäre u.a. auf das christliche Demutsgebot, auf die Tradition der exemplarischen Geschichtsschreibung und die Vorbildfunktion der Antike, auf die topische Vorstrukturierung literarischer Rede usw. – führt auf der anderen Seite zur Herausbildung bestimmter Diskursformationen, die die Verfasser zum Zwecke der Überzeugung ihrer Leser (dass man so oder so »sei«) entwickelten. Selten hat sich die Frühneuzeitforschung mit solcher Plausibilität und Suggestivität der modernen Diskursanalyse bedient, wie es in Enenkels Studie zu beobachten ist. Wenn später im Buch die Reihe der Diskurs-Komposita (epischer Diskurs, Beicht-, Trauer- und Verbannungsdiskurs usw.) beinahe ad nauseam ausgeweitet wird, mag das den Gralshütern der literaturwissenschaftlichen Theoriediskussion etwas nachlässig erscheinen. Tatsächlich führt Enenkel aber mit großer Überzeugungskraft vor, was Diskursanalyse – recht verstanden – zu leisten vermag: Sie richtet die Aufmerksamkeit des Lesers auf das Regelsystem, dessen der Schriftsteller sich bedient, um in kreativer Auseinandersetzung mit dem oder jenem antiken Modell seine eigene Vita möglichst überzeugend zu konstituieren oder, wie der Titel es suggeriert, sich selbst zu »erfinden«.

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Textauswahl und Materialaufbereitung

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Enenkel bezeichnet als »Gegenstand dieser Arbeit […] die humanistischen, lateinischen autobiographischen Texte zwischen ca. 1350 und ca. 1610« (S. 35), wobei freilich »Vollständigkeit – trotz der Vielzahl der hier analysierten Texte – nicht beansprucht werden kann« (S. 36). Die 25 zentralen Kapitel widmen sich den autobiographischen Dokumenten von insgesamt 16 Personen, die teilweise mehrere Zeugnisse hinterlassen haben, in Einzelfällen auch solche in der Volkssprache. Unter den besprochenen Texten befinden sich einige Komplementärquellen biographischen (also nicht-autobiographischen) Charakters, darunter so divergente Fälle wie die Petrarca-Biographie von Boccaccio, welche von Petrarca selbst in seiner Epistola Posteritati umgearbeitet wurde, die angebliche, tatsächlich wohl von Lapo da Castiglionchio verfasste (Auto)biographie Leon Battista Albertis, die Trauerelegie des Jacobus Micyllus auf Eobanus Hessus oder Kaspar Schoppes Scaliger Hypobolimaeus, ein polemischer Kommentar zu Joseph Justus Scaligers Konstrukt seiner adligen Abstammung.

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Ein Schwerpunkt der Untersuchung liegt auf dem italienischen Humanismus, der vor allem durch mehrere Texte von und über Petrarca (Kapitel II-V, S. 40–145) bzw. Enea Silvio Piccolomini / Papst Pius II. (Kapitel X-XIII, S. 266–367) vertreten ist, daneben firmieren Giovanni Conversino, Leon Battista Alberti (s.o.), Giannantonio Campano, Jacopo Sannazaro und Gerolamo Cardano als Autobiographen, außerdem Michele Marullo, der freilich Grieche ist und dessen (angebliche) Herkunft aus Konstantinopel einen wichtigen Gegenstand seines autobiographischen Gedichtes De exilio suo bildet. Neben den Italienern nehmen Personen aus dem deutsch-schweizerischen (Eobanus Hessus, Sigmund von Herberstein, Johannes Fabricius Montanus), niederländischen (Erasmus von Rotterdam, Jacques de Slupere, Justus Lipsius) und französischen Raum (Franciscus Junius, Joseph Justus Scaliger) weit weniger Platz ein. Bei der Zusammenstellung seines Textkorpus mag Enenkels aktuelle Wirkungsstätte eine gewisse Rolle gespielt haben – waren doch Lipsius, Junius und Scaliger zeitweise Professoren in Leiden und somit gewissermaßen Vorgänger ihres Erforschers.

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Man wird zumindest fragen dürfen, ob die Auswahl der Texte sich nicht auch daran orientierte, wie plausibel deren »Einschreibung« in einen bestimmten Diskurs gemacht werden konnte, wie zwingend also sich das von Enenkel favorisierte diskursanalytische Verfahren anbot. Die Arbeit ist jedenfalls dezidiert nicht als »Geschichte der Autobiographie«, die gar noch eine »idealtypologische oder teleologische Gestaltung« (S. 38) verfolgte, angelegt. Die chronologische Anordnung des Stoffes sei »praktisch sinnvoll«, wird aber nicht »etwa im Sinne genereller Entwicklungslinien« (S. 39) begründet. Es geht vielmehr um die präzise Erfassung des jeweiligen Einzelfalles, bei dessen Behandlung dann freilich zuweilen strukturelle Analogien zu anderen Texten festgestellt werden. Man versteht Enenkels historiographische Zurückhaltung angesichts der Divergenz des dargebotenen Materials, sollte aber den auffallend synchronen Blick des Verfassers auf zweieinhalb Jahrhunderte humanistischer Literatur wenigstens konstatieren.

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Nach eigener Aussage hat Enenkel für seine Studie »umfängliche Quellen- und Detailstudien betrieben« (S. 35), was nicht zuletzt durch die Einbeziehung früherer, auch unerschlossenes Material aufbereitender Vorstudien und generell sehr ausführliche bibliographische Nachweise deutlich wird. Aus germanistischer Sicht ist zu bemerken, dass die auf Seite 917 erwähnte Philotheca Scioppiana, der materialreiche Lebensbericht Kaspar Schoppes, inzwischen in einer ausgezeichneten zweibändigen Ausgabe vorliegt 1 und dass es zu Jacobus Micyllus’ biographischen Trauergedichten – allerdings nicht zu dem hier untersuchten Epicedion scriptum Eobano Hesso continens vitae ipsius descriptionem – neuere Forschungen gibt. 2 Im Übrigen sieht sich der Benutzer in bibliographischer Hinsicht gut betreut. 3

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Analyseverfahren: Das Beispiel Erasmus

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Die mit kriminalistischem Spürsinn durchgeführten Untersuchungen, mit denen Enenkel den jeweiligen Prozess der Selbstkonstitution in den autobiographischen Texten erschließt, sind im Rahmen einer Rezension nicht einmal ansatzweise zu rekonstruieren. Am Beispiel des berühmtesten europäischen Humanisten soll wenigstens in groben Zügen das Verfahren, mit dem Enenkel arbeitet, vorgestellt werden (S. 467–512). Zu Beginn wird ein Brief des Erasmus abgedruckt, in dem dieser für einen Freund, der als Jugendlicher in ein Kloster eingesperrt worden sei, um den päpstlichen Dispens vom Mönchsgelübde bittet. Erst nachdem bereits einige Überlegungen zur argumentativen Funktion dieses Schreibens angestellt worden sind, lässt Enenkel die Katze aus dem Sack und belegt durch den Vergleich mit zwei weiteren autobiographischen Zeugnissen, dass der »Freund« in jenem Brief niemand anders als Erasmus selbst, das Schreiben also gleichfalls autobiographisch ist.

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Im Zentrum des Kapitels steht nun die Analyse der drei autobiographischen Dokumente, die allesamt »im Diskurs kirchenrechtlich relevanter Dokumentierung« (S. 490) angesiedelt sind und deren strukturelle Besonderheiten sich jeweils funktional erklären lassen. Enenkel weist darauf hin, dass in der antiken und frühneuzeitlichen Argumentation – auch und gerade im juristischen Bereich – die erforderliche Evidenz nicht durch Sachbeweise, sondern durch eine rhetorisch überzeugend vorgetragene Präsentation des (angeblichen) Sachverhaltes erzielt wurde. Behauptungen wurden demnach nicht nachgeprüft, sondern mussten plausibel erscheinen, was durch diverse Beglaubigungsstrategien erreicht wurde.

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Erasmus hielt sich genau an dieses Konstruktionsprinzip, d.h. er wechselte den Darstellungsmodus (z.B. von der Ich-Form zur Er-Form) oder fälschte chronologische Angaben und andere Details, um sein Argumentationsziel, den Beweis seines unfreiwilligen und (z.B. aufgrund des behaupteten jugendlichen Alters, der angeblichen kriminellen Machenschaften seiner Vormünder oder der Manipulation durch falsche Freunde) nicht von ihm zu verantwortenden Aufenthaltes im Kloster, zu erreichen. Über weite Strecken präsentiert Erasmus, objektiv betrachtet, nichts als Lügen. Anders formuliert:

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Die historische Realität wird von einer Art rhetorischer Potenzialität ersetzt. Maßgeblich ist nicht, was der historischen Wirklichkeit entspricht, sondern was sich mit den Darstellungsmitteln der lateinischen Stilkunde annehmlich machen ließ. (S. 506)
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Der Fall des Erasmus stellt sich als ziemlich kompliziert dar, zumal die Verfälschungen teilweise recht subtile »Beweisziele‹« verfolgen. So war es für den unehelich Geborenen eine wichtige Frage, ob er »nur« illegitim gezeugt oder vielmehr – die schlimmere und leider zutreffende Variante – der Sohn eines Priesters war. Im Zuge der notwendigen Retuschierung dieses Sachverhaltes waren allerlei Änderungen in der Autobiographie vorzunehmen, so mussten ein Italienaufenthalt des Vaters zeitlich verschoben und die Existenz eines Bruders geleugnet werden. Außerdem ist dieser vielleicht spektakulärste Fall deshalb nicht ganz so anschaulich nachzuzeichnen, weil als intertextuelle Folie kein konkreter antiker Text, sondern eben nur das Muster der römischen Prozessrede vorgewiesen werden kann.

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Diskurseinschreibungen:
Das Beispiel des ›neuen Ovid‹

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Deutlicher wird die Lage dort, wo sich die Autoren in einen Diskurs einschreiben, dessen Regeln durch einen bestimmten antiken Prätext vorgegeben sind. Diskurseinschreibung und intertextuelle Markierung gehen in diesen Fällen eine fruchtbare Verbindung ein, und es ist kein Zufall, dass die »Einschreibung […] in den Beichtdiskurs von Augustins Confessiones« oder »in den Verbannungsdiskurs von Ovids Trauergedichten« sich als »besonders erfolgreich« (S. 834) erwiesen hat.

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Hierzu zwei Beispiele: Eobanus Hessus lehnt sich in seinem Brief an die Nachwelt (Eobanus Posteritati) direkt an die berühmte »Autobiographie« Ovids (Tristien 4,10) an. Es lässt sich zeigen, wie es dem jungen Poeten aus der hessischen Provinz gelingt, den römischen Starautor literarisch zu überbieten, indem er dessen unglückliche Lage ausnutzt: Während der verbannte Dichter, der auf Rückkehr nach Rom hoffte, seine Harmlosigkeit dadurch zu unterstreichen suchte, dass er sich im autobiographischen Rückblick als schwächlich und für eine politische Karriere ungeeignet darstellte, seine Dichterkarriere also indirekt als Notlösung bezeichnete, positioniert Hessus sich als zielstrebigen, kraftvollen jungen Mann, der aus souveräner Entscheidung heraus den Weg der Dichtkunst wählt. Den Vergleich mit Ovid gestaltet er so, dass er als der Überlegene daraus hervorgeht: Gegenüber dem alternden Römer hat er seine erfolgreichsten Jahre noch vor sich, dem »Naturtalent« Ovids setzt er überbietend die Verbindung von Begabung und humanistischem Leistungsethos entgegen usw.

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Während im vorigen Beispiel das Adaptationsverfahren des frühneuzeitlichen Dichters eher eklektisch war – die Themen der Ovidischen Autobiographie werden nur in gezielter Auswahl rezipiert, stattdessen tritt die strukturelle Anlehnung an Ovids Heroides hinzu (Hessus schreibt an die ›Geliebte‹ Frau Nachwelt) –, kommt es in einem anderen Fall zu einer seltsamen, scheinbar unbegründeten Form der Diskurseinschreibung. Der Schweizer Reformator Johannes Fabricius Montanus verfasste zwei Autobiographien, eine in Versen und eine in Prosa. Die Auswahl und Darstellung der Lebensstationen führt dabei zu völlig divergenten Ergebnissen: Hier wird der vom Schicksal begünstigte Gelehrte und erfolgreiche Pastor präsentiert, dort der auf allen Ebenen scheiternde Dichter. Enenkel ermittelt in der poetischen Autobiographie eine enge Anlehnung an Tristien 4,10 und deutet Fabricius’ Verfahren als

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fruchtbare[s] Missverständnis der diskursiven Textinterpretation […]. Fabricius interpretierte die vom spezifischen rhetorischen Darstellungsziel bestimmte Verfasstheit von Ovids Autobiographie als Diskursregel! (S. 601 f.).
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Liest man den Text so, wäre er als ein reichlich seltsames literarisches Spiel zu deuten, mit dem Fabricius seine eigene »Erfolgsgeschichte« konterkariert. Hierzu ist womöglich das letzte Wort noch nicht gesagt, wenngleich die Konsequenz, mit der Enenkel den Schweizer Dichter eine fast absurde (weil situativ anders eingebundene) Ovid-Nachfolge konstruieren lässt, bestechend erscheint.

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Wer sich rasch über die Fülle der Diskursstrategien, aber auch über die argumentativen Zielsetzungen der Autobiographen informieren möchte, lese das instruktive zusammenfassende Schlusskapitel »Rückblick, Überblick, Ausblick« (S. 823–841). Wichtig ist, dass es vielen Autoren auch, aber nicht nur um eine erfolgreiche Positionierung innerhalb der respublica literaria ging. Unter den ›praktischen‹ Redeabsichten werden

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die politische und religiöse Selbstrechtfertigung […], die kirchenrechtliche […] und privatrechtliche Selbstverteidigung […], die soziale Legitimation […], die nationale Selbstrechtfertigung […], die genealogische Selbstverteidigung […] und adelige Selbstdarstellung (S. 839 f.)
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angeführt. Insofern ist Enenkel zuzustimmen, wenn er autobiographisches Schreiben als »Kampfmittel« bezeichnet, und der »Sitz im Leben« erscheint bei dieser hochartifiziellen literarischen Form nicht weniger wichtig als bei anderen Textformen der Frühen Neuzeit.

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Kritische Bemerkungen

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Bei einem Buch von über 900 Seiten mag es absurd erscheinen, nach möglichen Versäumnissen oder Defiziten zu fragen. Selbstverständlich wird jedem Leser der eine oder andere autobiographische Text einfallen, den er gerne behandelt gesehen hätte, zumal Enenkel ja den Bereich des ›autobiographischen Schreibens‹ (zur Begrifflichkeit vgl. S. 26), gerade was die äußere Form und den Umfang der Schriften angeht, sehr weit fasst. Der Germanist denkt etwa an Johann Valentin Andreae, Johannes Butzbach, Ulrich von Hutten, Willibald Pirckheimer, Felix Platter (als exemplarischer Vertreter eines deutschsprachigen Humanismus) oder Kaspar Schoppe (der auch mit einer großen eigenen Autobiographie aufwarten kann) – die Liste ließe sich fortsetzen. Gewiss ist Enenkels Auswahl daran ausgerichtet, welche Autobiographien besonders deutliche »Diskurseinschreibungen« erkennen lassen. Jedenfalls ist man dankbar dafür, dass die Einzeluntersuchungen so ausführlich gehalten sind, dass die komplexen historischen, persönlichen und intertextuellen Zusammenhänge gründlich offen gelegt werden. Gelegentliche Redundanzen lassen sich verschmerzen, bleiben dadurch doch die Kapitel als monographische Studien lesbar.

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Die generelle Frage, die sich ›Neolatinisten‹ gefallen lassen müssen, lautet, ob eine Gliederung des Materials nach Sprachen für die Frühe Neuzeit sinnvoll ist. Die Argumente pro und contra sind vielfältig und sollen hier nicht ausgebreitet werden. Allerdings nimmt Enenkel möglichen Kritikern zumindest einen Teil des Windes aus den Segeln, indem er in Fällen, wo neben lateinischen auch volkssprachliche Texte vorliegen, diese mitberücksichtigt. 4

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Dass der Verfasser gerade im Hinblick auf die topographischen und sonstigen Details nicht immer letzte Gründlichkeit walten ließ, ist gleichfalls verzeihlich: Erfurt liegt natürlich nicht an der »Er« (S. 465), sondern an der Gera, Micyllus lehrte nicht »an der Universität Tübingen« (S. 466), sondern in Heidelberg, das Kloster Schönau liegt nicht »westlich von Heidelberg« (S. 683), sondern östlich, und – um die Pedanterie noch weiter zu treiben – Schoppes Geburtsort lag nicht »bei Mosbach, einem Dorf in der Oberpfalz« (S. 759), sondern bei Moosbach (Mosbach mit einem o liegt in der Kurpfalz).

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Gerne hätte man gewusst, warum Enenkel manche Passagen nur in Übersetzung, andere zweisprachig und wieder andere nur in Form einer einsprachig lateinischen Appendix präsentiert hat. Generell sind die Übersetzungen sehr frei, eher interpretierend angelegt, auch dazu wäre eine Anmerkung sinnvoll gewesen. Enenkels eigener Schreibstil ist luzide und ansprechend, wenn man von kleinen Eigenwilligkeiten wie dem hybriden Gebrauch des Fugen-s absieht (Typ »Autorsname«). Etwas befremdlich ist vielleicht auch der Umgang mit dem Begriff der Hermeneutik, der hier einseitig auf die Position Diltheys festgelegt und in dieser Bedeutung (zu Recht) als Verstehensbasis für die humanistische Autobiographie verworfen wird. Tatsächlich dürfte als eigentlicher Antipode zur hermeneutischen Methode allerdings die der Dekonstruktion (vgl. hierzu den wichtigen Hinweis S. 33) und nicht die der Diskursanalyse zu bezeichnen sein, die Enenkel ja – als »historische Diskursanalyse« (S. 36) spezifiziert – mit so viel Erfolg anwendet.

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Ein »nachhaltiges« Buch

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Ungeachtet solcher kleineren Einwände – denen von Seiten der diversen Nationalphilologien und der übrigen Nachbardisziplinen womöglich noch einige hinzuzufügen wären – ist Enenkels Buch als imponierende Leistung, ja als Meilenstein auf dem Wege der Erforschung des europäischen Humanismus einzustufen. Der Verfasser aktiviert neueste Erkenntnisse der Frühneuzeitforschung, kombiniert sie mit einem methodisch und darstellungstechnisch eigenständigen Zugriff auf seine Gegenstände und macht so ein Konzept humanistischen Schreibens sichtbar, das vielfach über die Spezifika der ausgewählten Textsorte hinausweist. Was man bislang über funktions- und adressatenbezogenes Schreiben, über die fast unbegrenzte Autorität der antiken Texte für die Humanisten, über die intertextuelle Vernetzung frühneuzeitlicher Literatur auf der Grundlage von imitatio und aemulatio oder über die Formierung divergenter Diskurse wusste, wird angesichts der eindringlichen, vielfach spektakuläre Zusammenhänge aufdeckenden Textanalysen noch anschaulicher und plausibler, die Frühe Neuzeit erscheint auf paradoxe Weise zugleich fremder und verständlicher.

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Und schließlich ist es ja nicht so, dass das vielbeschworene Diktum von der nicht-autonomen Schreibpraxis der Frühen Neuzeit hier einfach prononciert auf die ›Gattung‹ der Autobiographie ausgeweitet würde. Enenkel zeigt vielmehr, dass es für die Abweichung von der empirischen Wahrheit höchst unterschiedliche Motive geben kann, die vom existenziellen Verlangen nach Teilnahme an einem Kreuzzug (Michele Marullo) über ein spezifisches Dichterethos (Johannes Fabricius Montanus) bis zu partiell zweckfreier Freude an der Maskerade (Justus Lipsius) reichen. Wenn Enenkel sein Buch – ausgehend vom Konzept der literarischen Selbstkonstitution – Die Erfindung des Menschen nennt, wäre gleich hinzuzufügen, dass die Humanisten im Medium der Literatur nicht nur sich selbst, sondern auch ihre Welt bzw. die »Wahrheit« über diese neu »erfanden«. Die Autorität der antiken Texte und deren universale Verfügbarkeit waren zweifellos nicht weniger suggestiv als heute die medial inszenierten Bilder und populären Mythen. Von hieraus eröffnen sich Perspektiven, die weit über die philologische Detailarbeit hinausgehen. Enenkels kunstvolle Darstellung, die immer wieder auf Techniken der Kriminalerzählung zurückgreift, trägt neben den überraschenden Ergebnissen dazu bei, dass nicht nur diese selbst, sondern auch der Weg dorthin sich nachhaltig im Gedächtnis festsetzt.

 
 

Anmerkungen

Kaspar Schoppe: Autobiographische Texte und Briefe. Bd. 1: Philotheca Scioppiana. 2 Teilbände, in Zusammenarbeit mit Ursula Jaitner-Hahner und Johann Ramminger bearbeitet von Klaus Jaitner. München 2004 (= Bayerische Gelehrtenkorrespondenz 2).   zurück
Jacobus Micyllus: Epicedion in obitum Gertrudis uxoris suae. In: Humanistische Lyrik des 16. Jahrhunderts. Lateinisch und deutsch. Hg. von Wilhelm Kühlmann, Robert Seidel und Hermann Wiegand. Frankfurt 1997 (= Bibliothek deutscher Klassiker 146), S. 374–393, Kommentar S. 1171–1177 mit Literaturhinweisen.   zurück
Die umfangreiche Bibliographie im Anhang (S. 842–926) enthält u.a. die Rubriken »Studien zur Theorie der Autobiographie« (S. 845–850) und „Auswahlbibliographie zur volkssprachlichen (Auto)biographik der frühen Neuzeit und ergänzende Bibliographie zur lateinischen (Auto)biographik der frühen Neuzeit (S. 858–864). Die letztere kann natürlich nicht erschöpfend sein und soll hier auch nicht systematisch ergänzt werden. Ich nenne nur zwei neuere Monographien: Michaela Holdenried: Autobiographie. Stuttgart 2000 (= Reclams Universal-Bibliothek 17624); Barbara Schmid: Schreiben für Status und Herrschaft: Deutsche Autobiographik in Spätmittelalter und früher Neuzeit. Zürich 2006.   zurück
Am Versuch einer fundamentalen Abgrenzung der Strategien volkssprachlicher und lateinischer Autobiographie sind einige Forscher gescheitert, so z.B. Stephan Pastenaci: Erzählform und Persönlichkeitsdarstellung in deutschsprachigen Autobiographien des 16. Jahrhunderts. Ein Beitrag zur Historischen Psychologie. Trier 1993 (= LIR Literatur – Imagination – Realität 6), S. 132, 245–248. Vgl. hierzu meine Rezension in: Wolfenbütteler Renaissance-Mitteilungen 19 (1995), S. 149–152.   zurück