IASLonline

Die Beweglichkeit des modernen Subjekts

Theatralität und der deutsch-jüdische Diskurs
der Moderne

  • Galili Shahar: theatrum judaicum. Denkspiele im deutsch-jüdischen Diskurs der Moderne. Bielefeld: Aisthesis 2007. 338 S. Kartoniert. EUR (D) 38,00.
    ISBN: 3-89528-604-4.
[1] 

Avantgarde und Judentum: Facetten einer Forschungsfrage

[2] 

Mit dem 2007 erschienenen Buch theatrum judaicum. Denkspiele im deutsch-jüdischen Diskurs der Moderne legt der israelische Germanist Galili Shahar ein ambitioniertes Werk vor, in dem das Verhältnis zwischen Avantgarde und Darstellungsweisen des Judentums im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts im Zentrum steht. Die Merkmale der Avantgarde – wie das Motiv der Verwandlung, das Thema der Ekstase, die Effekte der Verfremdung, der Stil des Fragmentarischen – wurden, so der Ausgangspunkt des Autors, in Literatur und Theorie auf produktive Weise genutzt, um ein neues Licht auf die Problematik deutsch-jüdischer Identitätskonstellationen zu werfen. In der Neuen Sachlichkeit, der Dada-Bewegung, im Expressionismus und im epischen Theater machte sich eine neue Perspektive im jüdischen Denken bemerkbar. Shahar beschäftigt sich in seinen Analysen mit den Texten von so unterschiedlichen jüdischen Autoren wie Ernst Toller, Franz Werfel, Franz Kafka, Walter Mehring, Franz Rosenzweig, Martin Buber, Lion Feuchtwanger, Gustav Landauer, Iwan Goll, Else Lasker-Schüler und Walter Benjamin.

[3] 

Das ausgewiesene Hauptziel der vorliegenden Studie besteht darin, die Tendenzen der deutsch-jüdischen Identität im Theaterdiskurs zu rekonstruieren. Beobachtungsleitend für die Arbeit ist dabei die These, das Theater stelle einen auserlesenen Ort zur Untersuchung jüdischer Identität unter dem Zeichen der Moderne dar. Der Begriff theatrum judaicum verweist in diesem Zusammenhang nicht ausschließlich auf konkrete theatralische Aufführungsformen, vielmehr handelt es sich als Sammelkonzept um einen kulturellen Theaterdiskurs. Das herangezogene Material umfasst dementsprechend nicht nur Dramen und Theaterrezensionen, sondern im weiteren Sinne auch so unterschiedliche Prosatexte wie Medienberichte, Briefe, Tagebuchnotizen, literarische Werke, philosophische Abhandlungen und Gesprächsdokumentationen, in denen das Formen- und Funktionenpotential der Allegorien und Metaphern des Jüdischen aus dem Bereich der Dramatik – auch »Spielkörper« genannt – erforscht werden: Neben dem ›Wanderer‹ treten auch der ›Akrobat‹, der ›Narr‹, der ›Heilige‹, der ›Held‹, die ›Puppe‹ und viele andere dramaturgische Figuren auf, die auf ironische Weise den jüdischen Identitätsdiskurs der Moderne und die Lebenslage der jüdischen Bevölkerung reflektieren. Im Theater finden abstrakte Begriffe demnach eine konkrete Gestalt und verwandeln sich in oben genannte dramaturgische Figuren. Das Theater wird vor diesem Hintergrund als »Raum eines Denkens – als ›Philosophie‹ – verstanden« (S. 9). Das Spiel soll man dementsprechend als Raum einer Inszenierung auffassen, in dem sich ein abstraktes Denksystem durch Spielfiguren inszeniert. Diese Sehensweise bedeutet, so der Autor, nicht nur eine Ästhetisierung des Denkens, sondern bietet auch die Möglichkeit, das Denken als Spiel zu erfahren. Folgerichtig geht es Shahar darum – wie es im entsprechenden Titel der Publikation heißt –, die ›Denkspiele‹ im deutsch-jüdischen Diskurs der Moderne zu untersuchen.

[4] 

In der Betonung der Präsenz deutsch-jüdischer Elemente in der Ästhetik der Avantgarde unterscheidet sich Shahars Herangehensweise wesentlich von den etablierten Untersuchungen zur Avantgarde – wie Peter Bürgers paradigmatische Theorie der Avantgarde –, indem der Autor der Frage nachgeht, auf welche Art und Weise die jüdische Erfahrung die avantgardistischen Techniken der Verzerrung (mit)gestaltet hat und zur Radikalität der Bewegung beigetragen hat. Mithilfe dieser Schwerpunktsetzung sollen bislang unbeachtete Akzente im Bereich der deutsch-jüdischen Geistesgeschichte gesetzt werden. Shahar untersucht die Selbstbestimmungsdiskurse im deutsch-jüdischen Theater der Moderne und stellt sich darüber hinaus zur Aufgabe herauszufinden, mit welchen Argumenten und durch welche theatralischen Denkfiguren und Theatermetaphern in jedem Text der irreduzibel vielgestaltige interkulturelle Raum der deutsch-jüdischen Kultur konstruiert wird. Galili Shahar ermöglicht auf diese Weise neue Blicke auf die Geschichte und die philosophischen Grundlagen der Avantgarde und zeigt die Interdependenz von jüdischer Identitätsproblematik und modernistischer Kulturkritik auf.

[5] 

Die Ästhetik der deutsch-jüdischen Moderne: eine theatermetaphorologische Annäherung

[6] 

Galili Shahars Studie ist in sieben Kapitel gegliedert, die ein dichtes Gesamtbild der komplexen Identitätsangebote in den deutsch-jüdischen dramaturgischen, literarischen und philosophischen Diskursen zu Beginn des 20. Jahrhunderts bieten. Den Dreh- und Angelpunkt der Überlegungen bildet die Betonung der ästhetischen Produktivität der spannungsvollen Beziehung zwischen Deutschen und Juden, deren Differenz im Theater bzw. in der Theatermetaphorik des Modernismus kontinuierlich thematisiert wurde und zu einer auffälligen Erneuerung von dramaturgischen Motiven, Techniken und Darstellungsmethoden führte. Die Detailfreudigkeit der Untersuchung ist hierbei offensichtlich: Der Umfang des beachtlichen herangezogenen Textkorpus an Primär- und Sekundärliteratur kommt zum Ausdruck in den mehr als 900 Fußnoten der Arbeit. Ein Personen- und Werkverzeichnis, das sich in Anbetracht dieser Fülle der angeführten Autoren und Werke als durchaus hilfreich erweist, rundet die Publikation ab.

[7] 

In seinem zehnseitigen Vorwort (S. 9–18) verklammert der Autor die einzelnen Kapitel unter dem leitenden kulturgeschichtlichen Gesichtspunkt des deutsch-jüdischen Beitrags zur Avantgarde-Bewegung. Ohne die theoretischen Grundsätze und methodische Herangehensweise der Untersuchung ausdrücklich zu explizieren, deklariert er seine Arbeit als theatermetaphorologischen Versuch, die Bedeutung rekurrenter dramaturgischer Denkfiguren in der deutsch-jüdischen Kultur der Moderne zu erforschen. Die Avantgarde, der diesbezüglich das Hauptinteresse in der Studie gilt, verlieh der modernen Auffassung der Identität des Subjektes eine besondere ästhetische Stimme, indem sie in den herangezogenen Texten als ›Reise‹, ›Fahrt‹ oder ›Wanderung‹ figuriert wird:

[8] 
Die Ästhetik der Avantgarde hat die Phänomenologie eines Risses, in dem die Identität des Menschen waltet, dokumentiert: es ist ein Existenzmodus der ›Unheimlichkeit‹, der sich nach einer geo-philosophischen Interpretation der ›Heimatlosigkeit‹ inszeniert und als ewige Fahrt und Wanderung figuriert ist. (S. 14)
[9] 

Die Figur des ›Juden‹ stellt in nicht wenigen modernistischen Texten die konkrete Verkörperung des Existenzmodus des Unheimlichen dar. Die kontextualisierende Rekonstruktion der der Avantgarde zugrunde liegenden Sprachfiguren setzt sich der Autor zum Ziel.

[10] 

Theater der Wanderung

[11] 

An das kurze Einführungskapitel schließt sich nun der erste Teil der Arbeit –»Theater der Wanderung« (S. 19–105) – an, in dem eine Phänomenologie der deutsch-jüdischen Heimatlosigkeit formuliert wird. In theoretischer Hinsicht werden hier die für den weiteren Verlauf der Studie wesentlichen Grundlagen gelegt: das Verhältnis zwischen Theater und Darstellung kollektiver Identität, die Bedeutung des Wanderer-Motivs in der deutschen Literatur, der Bezug zwischen Emanzipation und Assimilation, der Problemkomplex des jüdischen Selbsthasses (Theodor Lessing) sowie auch die Rekurrenz jüdischen Humors (Sigmund Freud). Die jüdischen Figuren im Theater des Modernismus zeigen unterschiedliche Perspektiven auf die Frage der Identität. Der Spannung zwischen Ostjudentum und Westjudentum wird in diesem Teil eine Schlüsselrolle zugesprochen. An dieser Stelle hätte man sich als Leser eine eingehendere Erörterung der Differenz zwischen beiden Gruppen gewünscht. Die vielbeschworene deutsch-jüdische Symbiose, die von Gershom Scholem als irreelles Wunschbild, als nostalgischer Mythos bezeichnet wurde, war für manche Autoren, die in Shahars Arbeit Revue passieren, eine greifbare Realität deutsch-jüdischen Zusammenlebens nach der Emanzipation des 19. Jahrhunderts. Das ›Ostjudentum‹, mit dem das Jiddische, der mystisch geprägte Chassidismus und äußere Kennzeichen wie Kaftan, Bart und Schläfenlocken assoziiert wurden, stellte für nicht wenige Assimilierte die Gegenseite der europäischen Moderne dar. Im Gegensatz dazu aber glaubten andere, die jüdische Orthodoxie erlaubte einen Ausweg aus der Orientierungslosigkeit und Selbstverleugnung der Assimilierten. Es gelingt Shahar nachzuweisen, dass der vermeintlichen Ekstatik und Vitalität des orthodoxen Judentums in nicht wenigen theatralischen Texten breiter Raum gewidmet wurde, da der Chassidismus in seiner gesellschaftlichen Randständigkeit und mystischen Religiosität offensichtlich eine kritische Sicht auf die Moderne zu vermitteln imstande war.

[12] 

Wichtige Motive in der Ästhetik und Thematik der Avantgarde wie Fremdheit, Heimatlosigkeit, Exil, Marginalität, Unsicherheit waren in unterschiedlichem Maße auch Bestandteile der Erfahrungswelt der deutschen Juden. Dementsprechend sei es kein Zufall, dass die deutsch-jüdische Kultur einen erheblichen Einfluss auf die Entwicklung der Avantgarde ausübte. Der ›Jude‹ als dramaturgische Figur, die aufgrund ihres Außenseitertums eine unterschiedliche Perspektive auf die zeitgenössische Gesellschaft und ihre präexistierenden Strukturen ermöglichte, wurde auf diese Weise zum Aussagesubjekt einer radikalen Kulturkritik der Moderne. In seiner Analyse der jüdischen »Wegfigur« in Ernst Tollers Theaterstücken legt Shahar nahe, der ewige Wanderer, der Verfolgung, Verhaftung und Mord ausgesetzt war, sei seit der Aufklärung eine Allegorie der Moderne und deren Schattenseiten geworden:

[13] 
Der Wanderer in Tollers Dramen war eine Denkfigur, die Kritik an der Struktur der modernen Gesellschaft, am Bürgertum, aber auch an der nationalen Kultur und am Militarismus im Menschen, am Diskurs der Technik und nicht zuletzt an den ›falschen‹ Wegen der Emanzipation der Juden in Europa verkörperte. (S. 43)
[14] 

Der ›wandernde Jude‹ steht vor diesem Hintergrund synekdochisch für die Fremdheit, die trotz unablässiger Assimilationsbestrebungen fester Bestandteil der jüdischen Identität war: »Der Fremde ist [...] das innere Porträt des ›Juden‹, das Anderssein, das im Selbst wohnt. In der jüdischen Identität wohnt die Erinnerung an die Wanderschaft.« (S. 100) Der Themenkomplex der unbequemen deutsch-jüdischen Doppelidentität und ihre innere Ruhelosigkeit zieht sich wie ein roter Faden durch die Narrative vieler jüdischer Intellektueller.

[15] 

Shahar eröffnet in den nachfolgenden sechs Teilen, die – außer Teil 4 über das »Theater des Körpers« – den Blick auf jeweils einen jüdischen Denker lenken, ein Panorama ganz unterschiedlicher theater- und kulturhistorischer Positionen im Hinblick auf die Ideenlandschaften der deutsch-jüdischen Denktradition der Moderne. Das Tableau der dargestellten Autoren ist entsprechend breit gefächert und reicht von Gustav Landauer über Martin Buber und Franz Rosenzweig bis Franz Kafka und Walter Benjamin.

[16] 

Aus Shahars Erörterungen zu Gustav Landauers »Theater des Politischen« (S. 106–145) geht hervor, dass die dramaturgischen Figuren der Tragödie, die Gestik des expressionistischen Theaters und die Motive des Sozialdramas ihm wichtige Denkfiguren, Bilder und Begriffe für sein politisches Denken boten. Im Theater von Goethe, Hölderlin und Shakespeare sowie sekundär auch in den Werken von Henrik Ibsen, Gerhart Hauptmann und Arno Holz sah er die künftige Geburt einer ›neuen Gemeinschaft‹, da das Theater den Zuschauern ermöglichen sollte, ihre Zusammengehörigkeit zu erfahren. Der Autor weist in diesem zweiten Kapitel seiner Studie überzeugend nach, dass der politische Denker Landauer – obschon das Judentum nicht die Grundlage seines Denksystems bildete – die zerrissene, nomadische Identität der Moderne vorrangig in den Figuren Hamlet, Brutus sowie auch Shylock wiederzuerkennen glaubte.

[17] 

Theaterdiskurs bei Martin Buber

[18] 

Der dritte Teil zum Diskurs der Moderne in den Werken des prominenten kulturzionistischen Denkers Martin Buber (S. 146–186) hebt mit der Beobachtung an, dass für den genannten Religionsphilosophen »das Theater ein Raum [war], in dem manche seiner Denkfiguren erzeugt wurden, deren Gestalt man auch in seinen zentralen soziologischen, pädagogischen und politischen Schriften wiederfindet.« (S. 149) Eine dieser prominenten Denkfiguren ist der ›jüdische Schauspieler‹. Bei Buber, der die menschliche und geistige Erneuerung aus dem mystischen Geist des Chassidismus anstrebte, trägt die Figur des jüdischen Schauspielers in ihrem Rausch, Enthusiasmus und Pathos, so Shahar, die deutlichen modernekritischen Züge des Chassidismus: »Sein Körper spreche [sic] die Ekstase eines Chassid.« (S. 162) Neben der Ekstase hebt der Verfasser das ethische Prinzip des Dialogs, des »Ich und Du«, als grundlegendes Merkmal des Theaterdiskurses in Bubers Oeuvre hervor: Die Ekstase der Selbstvergessenheit bietet ihm zufolge einen Ausweg aus der Entfremdung der Moderne, indem sie ins ›Du‹ führt und somit eine andere, harmonischere Identität ermöglicht. Das jüdische Theater – und vor allem das Drama – verstand er vor diesem Hintergrund als privilegierten Schauplatz eines inszenierten Dialogs, als Möglichkeitsraum des hebräischen Humanismus. Zwar vermag Shahars Betonung der dramaturgischen Rede nicht ganz der Komplexität des philosophischen Systems Bubers gerecht zu werden, doch erlaubt sie eine bemerkenswerte Sicht auf die diskursiven Grundlagen seines Denkens.

[19] 

Der jüdische Körper im Theater

[20] 

Der vierte Teil (S. 187–211), der sich im Hinblick auf die Erörterung der Bedeutung des jüdischen Schauspielers als anschlussfähig an den vorangehenden Teil erweist, setzt sich auf allgemeiner Ebene mit der Körperlichkeit des ›Juden‹ im Theater auseinander. Der emanzipierte jüdische Schauspieler wurde als Figur betrachtet, in der sich das Wesen des Modernismus offenbart. Als Darsteller des Paradoxes zwischen Sein und Schein war er die Verkörperung par excellence der Ambivalenz und Unentschiedenheit der modernen Identität (vgl. S. 189). Im Gegensatz zu vormodernen Zeiten werden Menschen in der Moderne nicht mehr mit einer kohärenten und stabilen Definition des Selbst versorgt. Im modernistischen Theater wurden häufig – antisemitische – Auffassungen und Stereotypen über die Herkunft, die Kultur, die Körperlichkeit und die Sprache der Juden ins Licht gerückt. Unter Rückgriff auf Friedrich Nietzsche legt der Autor überzeugend nahe, die ständige Spannung zwischen Assimilation und Partikularismus mache das Wesensmerkmal der Unheimlichkeit in der Dramaturgie des deutschen expressionistischen Theaters aus, in der dem jüdischen Körper eine wichtige Bedeutung zur Darstellung des Verletzten, des Hässlichen und des Grotesken zukam. Der jüdische Körper wurde, so Shahar, »als unheimliches Wesen, als der Leib der Fremdheit« (S. 196) zu einem Medium der Avantgarde. Es gelingt Shahar in diesem Zusammenhang, die dramaturgische Bedeutung des Stotterns und des Schreis als Sprachexperimente und als kulturelle Techniken einer avantgardistischen Kulturkritik deutlich zu machen:

[21] 
Der Schrei und das Stottern waren keine ›ost-jüdischen Sprecharten‹. Sie waren Teil der Sprachtechnik der Avantgarde, die auch jüdische Schauspieler lernten und durch die sie ihre Fremdheit und ihr Anderssein ausdrücken konnten. Der Modernismus sprach nicht ›jüdisch‹, aber die jüdischen Schauspieler sprachen als Avantgardisten. (S. 205)
[22] 

Ein deutlicher Gewinn für die Arbeit ist das Interesse an der Darstellung des (jüdischen) Körpers im Theater der Avantgarde. Die Inszenierung von Körperlichkeit über Gesten, Sprechrhythmus, Mimik, körperliche Stereotype usw. stellt als symbolische Handlung auch immer einen sozialen Akt dar. Ohne explizit auf die einschlägige theaterwissenschaftliche Performativitätsforschung von beispielsweise Erika Fischer-Lichte einzugehen, schlägt Shahar eine Brücke zwischen einer textzentrierten Herangehensweise und einer Untersuchung der sozialen Praxis der inszenierten jüdischen Körpersprache als sinngebender und identitätsstiftender Aktivität, die in der Avantgarde-Kunst die Fremdheit und das Groteske der Moderne darstellt. Shahar stellt hier unter Beweis, dass – wie Manfred Pfister betont – der Performanz-Begriff nicht nur für die Theaterwissenschaft, sondern auch für die Literaturwissenschaft fruchtbar gemacht werden kann.

[23] 

Theaterdiskurse bei Rosenzweig, Kafka und Benjamin

[24] 

Mit dem fünften Teil (S. 212–251) –»Theater der Erlösung (Franz Rosenzweig)« – vertieft Shahar anhand einer eingehenden Untersuchung von Rosenzweigs Hauptwerk Stern der Erlösung (1921), das mittels der Lektüre von seinen Briefen und Tagebüchern persönlich und geschichtlich kontextualisiert wird, die These, dass deutsch-jüdische Denker der Moderne im Theater einen emanzipatorischen Weg aus der Entfremdung und der Zerrissenheit in die Zusammengehörigkeit zu finden glaubten. In seinem Herangehen an das Thema legt Shahar das Hauptgewicht auf Rosenzweigs theologische Interpretation der Tragödie als eines der Räume des Erlösungsdiskurses in Stern der Erlösung. Ähnlich wie Martin Buber glaubte Rosenzweig nicht an die Harmonie von Judentum und deutsch-jüdischer Kultur.

[25] 

Im darauffolgenden Kapitel über Kafka mit der Überschrift »Theater der Schrift (Franz Kafka)« (S. 252–293) verfolgt der Autor sein Anliegen auf eine ungewöhnlich produktive und anregende Weise. Trotz der Fülle an ausgezeichneten Forschungsarbeiten über den Einfluss des Judentums auf Kafkas Schreiben – es seien z.B. Bernd Neumanns Studie Franz Kafka: Aporien der Assimilation oder Ritchie Robertsons Kafka: Judaism, Politics and Literature genannt – gelingt es dem Buch, durch die geschärfte Sicht auf die literaturwissenschaftliche Relevanz des Theaterdiskurses in Kafkas Texten neue Erkenntnisse zu Tage zu fördern und ein innovatives Deutungsmodell zu entwickeln. In Franz Kafkas Werken sind der Akrobat, der Schauspieler, der Gaukler und der Narr wichtige dramatische Figuren, deren Spielform nachdrücklich in die Schrift übertragen wird. Aus einer eingehenden Lektüre von Kafkas Tagebüchern – und sekundär auch Briefen – geht hervor, wie diese Spielkörper die Beweglichkeit und Veränderlichkeit der modernen Identität in Kafkas Texten sichtbar machen. Sie verkörpern »Zustände der Skepsis, der Bodenlosigkeit und der Ironie«. (S. 252) Shahar versteht Erzählungen wie Auf der Galerie und Der Verschollene dementsprechend als Exemplifikationen des jüdischen Diskurses der Moderne.

[26] 

Mit der Erforschung des Theaterdiskurses in Walter Benjamins geschichtsphilosophischen Texten (S. 294–335) befasst sich Shahar im siebten und letzten Teil seiner Arbeit. In »Theater des Narren: Walter Benjamin« geht der Autor nach, wie sich der Philosoph in Ursprung des deutschen Trauerspiels, in seinen Tagebuchaufzeichnungen, der Korrespondenz mit Gershom Scholem, seinen Essays über Brecht und Kafka sowie seinen Aufsätzen zum Theater und zur Puppe – wie z.B. in Kasperletheater oder Lob der Puppe – den Theaterdiskurs seiner Zeit aneignet. Benjamins Reflexionen über Puppen, Marionetten und Narren zeigen, so der Autor, die Fruchtbarkeit und zugleich die Ambivalenz der Theatermetaphorik, in der Denkfiguren als Inszenierung einer tiefgehenden Kritik an der Moderne zu verstehen sind. In dieser Fokussierung der bildhaften dramaturgischen Rede bei Benjamin gelangt Shahar zu Forschungsergebnissen, deren Wert nicht sosehr in ihrer Neuigkeit, sondern in der originellen Neuperspektivierung der Annäherung an Benjamins Avantgarde-Auffassungen liegt. Mit Benjamin, in dessen Schriften man dem Endspiel der deutsch-jüdischen Moderne begegnet, schließt Galili Shahar passend seine Beobachtungen über die Denkspiele im dramaturgischen Diskurs der Moderne.

[27] 

Einige Punkte der Kritik

[28] 

So reichhaltig und weit perspektiviert die Arbeit in sich auch sein mag, fallen in ihrer Zusammenstellung doch auch Mängel auf, und zwar vor allem auf sprachlicher, stilistischer und begrifflicher Ebene. Die Lesbarkeit der Arbeit hätte sicherlich durch eine gründlichere stilistische und grammatische Überarbeitung gewonnen. Besonders störend sind nicht nur die sehr vielen Satzfehler. Zum Beleg sei in dieser Hinsicht nur eine kurze Reihe solcher Beispiele herangezogen: »ein Ort, in der« (S. 34), »im deutschen-jüdischen Werk« (S. 53), »aus Alten Testament« (S. 212), »einer Problematik, die wir schon [...] diskutiert wurde« (239), »es hat kein heim« (S. 241), »eine ähnliche Rezeptionen« (S. 245), »Horizonte einer neuen Schreibens« (S. 292). Auch Probleme in Sachen Tempusinkongruenz (z.B. »redeten die tragischen Figuren [...], halten Monologe und debattieren« (S. 218) und Zeichensetzung (vgl. S. 119) sind augenfällig.

[29] 

Hervorstechend ist darüber hinaus, dass sich eine sich immer wieder in kryptische, geschraubte Formulierungen verlierende Sprache zu einem apodiktischen Stil gesellt, der in assertorischen Darstellungsverfahren mündet. An dieser Stelle sei nur ein solches Beispiel zitiert, an dem die parataktische Reihung bruchstückhaft wirkender Kurzsätze ins Auge sticht: »Das Kunstwerk ist die Offenheit. Die Inszenierung ist das sich-Zeigen der Dinge. Das Theater zeigt. Wir sind kommende und sehende Leser.« (S. 17)

[30] 

Irritierend ist überdies der idiosynkratische und gewissermaßen verwirrende Gebrauch des Konjunktivs, der traditionell Kritik, Zweifel oder Widerspruch ankündigen soll. Die geschaffene Erwartung wird indes oft nicht eingelöst und auf diese Weise wird die logische Argumentation auf Satz- und Absatzebene auf weite Strecken beeinträchtigt, wodurch der Leser ratlos zurückgelassen wird. Aus idiomatischer Perspektive wird an manchen Stellen der Lesefluss verstört, weil auf den ersten Blick nicht immer die passende Kollokation oder das richtige Wort gewählt wurde. Die Sprache driftet folglich bisweilen etwas stark in undurchsichtige Konstruktionen ab. Wenn beispielsweise auf S. 336 »die Fragwürdigkeit der ›jüdischen Identität‹« hervorgehoben wird (vgl. ebenfalls S. 43, 250 und 313), so wäre unseres Erachtens in diesem Kontext zweifelsohne ›Ambiguität‹ oder ›Unsicherheit‹ zutreffender gewesen. Die Liste solcher Beispiele ließe sich beliebig erweitern.

[31] 

Teilweise mangelnde Stringenz im knappen Vorwort zur Klärung der Methodik, der Quellengrundlage, des konzeptuellen Apparates, des theoretischen Ansatzes sowie auch des Forschungsstands und leider auch eine äußerst schlicht gehaltene zweiseitige Zusammenführung der Ergebnisse am Schluss erschweren es dem Leser wesentlich, Theorie und Argumentation nachvollziehbar verfolgen zu können. Diese mangelhafte Leserlenkung ist umso bedauerlicher, da die überaus verdienstvolle Arbeit sehr davon gewonnen hätte. Dem Leser wäre auch gedient gewesen, wenn zentrale, durchgängig verwendete Begriffe – wie etwa ›Denkfigur‹, ›Begriffsperson‹ oder gar ›Theater‹ – eingangs konsequenter erklärt worden wären. Sie werden aber kaum definiert und zur näheren Information wird vielenorts lediglich in einer Fußnote auf Titel aus der Sekundärliteratur verwiesen. Symptomatisch in diesem Zusammenhang ist beispielsweise die Überstrapazierung des Begriffs des Theatralischen, wodurch die vieldimensionalen Texte der analysierten Autoren allzu eng auf ihre angebliche Qualität als Theatertheorie reduziert werden. So heißt es etwa vielsagend im allerletzten Satz von Teil 5 im Hinblick auf Franz Rosenzweig: »Wir haben Franz Rosenzweig, einen Theaterdenker, getroffen.« (S. 251) Ähnlich bezeichnet Shahar Gustav Landauer, den politischen Theoretiker des Anarchismus, als »Theaterphilosoph« (S. 111).

[32] 

Eine tiefgehende Auseinandersetzung mit den Schlüsselkonzepten ›Moderne‹, ›Modernismus‹ und ›Avantgarde‹, die verschiedene heterogene Sachverhalte bezeichnen können, findet ebenso wenig Eingang in der Arbeit. Sie werden öfters als quasi austauschbare Synonyme eingesetzt, deren konzeptueller Unterschied keinerorts systematisch dargelegt wird. Daran anschließend sei auch die Frage aufgeworfen, ob es analytisch nicht fruchtbarer gewesen wäre, hinsichtlich des Konzeptes des Diskurses der Moderne, das so prominent im Titel figuriert, auf die bahnbrechenden Arbeiten von Jürgen Habermas und Theodor W. Adorno zurückzugreifen, um die Komplexität des Begriffs präziser herausarbeiten zu können.

[33] 

Neben diesen Einwänden ist an Shahars Arbeit zu bemängeln, dass durch die stellenweise unreflektierte Übernahme der Theatermetaphorik im literaturwissenschaftlichen Metadiskurs seiner Arbeit die begriffliche Stringenz streckenweise weiter verlorengeht und in opaken Aussagen mündet, deren Informationswert vielfach beschränkt ausfällt. Aufgrund des Fehlens einer präzisen Begriffsexplikation gerät der Leitfaden der argumentativen Textstruktur somit manchmal leicht aus dem Blick und ergeht sich der Autor in unklar konturierten Formulierungen, wie dies stellvertretend für viele andere das nachfolgende Zitat über Kafkas »Schreibtheater« belegen mag:

[34] 
Sein [= Kafkas] Schreiben bewahrt die Erinnerung an einen Körper, der seine Kraft und Elastizität im technischen Zeitalter noch nicht verloren hat. Es ist eine Schrift, die Sprung und Geste als offene Signifikanten überträgt, um die Fuge, in der der Mensch lebt, darzustellen. (S. 292)
[35] 

Nicht nur auf der textuellen Ebene der verwendeten Theater- bzw. Bewegungsmetaphorik gleicht sich Shahars Arbeit ihrem Forschungsobjekt an. Auch inhaltlich treten an gewissen Stellen aprioristische Voraussetzungen in den Vordergrund, die weitgehend den Ideen der analysierten Denker zu entsprechen scheinen. Vor allem im Hinblick auf die Bedeutung des Unterschieds zwischen assimiliertem Westjudentum und traditionellem Ostjudentum für das jüdische avantgardistische Theater hat es den Anschein, als vertrete Shahar eine essentialistische Sicht auf die »ursprüngliche Identität« (S. 244) der Chassidim. Eine kritischere identitätstheoretische Auseinandersetzung mit den Voraussetzungen der Konstruktion moderner kollektiver und personaler Identität – denken wir hier beispielsweise an Charles Taylors Arbeit Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität oder Jürgen Straubs und Joachim Renns Sammelband Transitorische Identität. Der Prozesscharakter des modernen Selbst – hätte vielleicht die (implizite) Übernahme von Zuschreibungen wie ›Ursprünglichkeit‹ oder ›Authentizität‹ in Bezug auf den ostjüdischen Habitus vermeiden können.

[36] 

Fazit: Zwischen Theater- und Literaturgeschichte

[37] 

Ungeachtet der oben erwähnten Kritik liefert die Arbeit einen weit perspektivierten, elaborierten und aufschlussreichen Überblick über die Kulturgeschichte von Theater, Literatur und Philosophie in der deutsch-jüdischen Moderne. Übertragen auf ausgewählte modernistische Werke ermöglicht sie einen gelungenen Einblick in die spannungsvolle Dynamik der jüdischen Lebenslage und Identitätsfrage am Beginn des 20. Jahrhunderts. In seinen theoretischen und methodischen Anstößen geht der Autor dabei weit über die Grenzen der eigenen Fachdisziplin hinaus. Theatrum judaicum zeugt von der Bemühung, Theaterwissenschaft und Literaturwissenschaft einander weiter anzunähern. Shahar hat mit seiner Arbeit eine detaillierte, originelle und hervorragend recherchierte interdisziplinäre Studie bereitgestellt, deren Verdienst es in mentalitätsgeschichtlicher Hinsicht nicht zuletzt ist, auf die nicht zu unterschätzende Rolle der zirkulierenden metaphorischen Denkfiguren in der Erfahrung jüdischer Selbstidentität hingewiesen zu haben. Vor diesem Hintergrund vermag Shahar deutlich zu machen, dass das Theater der Ort war, »in dem deutsch-jüdische Autoren nach dem Ursprung und der Tradition, nach der Zugehörigkeit und der Fremdheit, nach der Identität und der Differenz und wiederum nach der Zukunft des Judentums fragten.« (S. 336)

[38] 

Es handelt sich insgesamt um eine höchst kenntnis- und materialreich verfasste Studie, die als Ausgangspunkt für weitere Forschungen zum jüdischen Theater, zur modernistischen Literatur sowie auch zur deutsch-jüdischen Identität in den deutschsprachigen Kulturen dienen dürfte. Eindrucksvoll bringt der Autor zur Geltung, welchen vielfältigen kulturhistorischen Gewinn eine germanistische Studie über die ästhetische Interpretation des Judentums erbringen kann, ohne sich notwendig in textexegetische Details verlieren und den geschichtlichen Kontext vernachlässigen zu müssen. Das sachkundige Gleichgewicht zwischen Textinterpretation und Kontextwissen ist uneingeschränkt zu begrüßen. Es wäre wünschenswert, dass Galili Shahars wichtigste Thesen über die Prominenz von Theaterbildern und -metaphern für die Darstellung der deutsch-jüdischen Doppelidentität durch weitere Arbeiten zu Literatur und Theorie des Modernismus geprüft würden, denn sie eröffnen neue Fragehorizonte und lassen ein noch lang nicht ausgeschöpftes Diskussions- und Untersuchungspotential für die Zukunft erahnen.