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Wahnsinn macht Sinn:

Zur semiotischen Verrücktheit im Diskurs der Romantik

  • Oliver Kohns: Die Verrücktheit des Sinns. Wahnsinn und Zeichen bei Kant, E.T.A. Hoffmann und Thomas Carlyle. (Literalität und Liminalität 5) Bielefeld: transcript 2007. 366 S. Paperback. EUR (D) 34,80.
    ISBN: 978-3-89942-738-7.
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Eine »förmliche Lust am Irrsinn« sieht Nietzsche in der Fröhlichen Wissenschaft bei den Künstlern und Dichtern ausbrechen, denen die bloße »Nachahmung der Schildkröte, welche hier als Norm anerkannt wird«, schon zum Ungenügen – letztlich dem Ungenügen an der Norm im Allgemeinen – ausreicht. 1 Mehr denn als Prophetie der Moderne gilt Nietzsches Wort rückblickend für das romantische Schreiben, das im Zeichen gleichermaßen die Möglichkeit von Nachahmung wie von Transgression, von Wahrheit wie Unwahrheit, von Vernünftigkeit wie Wahnsinn entdeckt.

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Mit der Akzentuierung eines strukturellen oder semiotischen Wahnsinns lässt sich der Wert von Oliver Kohns Arbeit über Kant, E.T.A. Hoffmanns Erzählungen und Thomas Carlyles drei Bücher Sartor Resartus bestimmen. Eine wichtige Scharnier-Funktion kommt jedoch auch Friedrich Schlegels Ironie- und Jean Pauls Humor-Begriff zu. Hier weitet sich das Spektrum auf die (nicht epochenspezifisch, sondern problemorientiert gedachte) Romantik. Dass der Zugriff über die deutsche Romantik hinausgeht und sich mit Thomas Carlyle einer wichtigen, allerdings nur selten behandelten Vermittlungsposition im angelsächsischen Sprachraum zuwendet, bedeutet eine spannende Erweiterung des Deutungsspektrums, verdeutlicht darüber hinaus jedoch auch ein komparatistisches Interesse.

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Anliegen und Gegenstandsbereich mit seinen dezidiert exemplarisch gemeinten Autoren implizieren dabei eine allgemeine These und Interpretationshaltung: Der Wahnsinn lässt sich weder thematisch (als Ausgegrenztes oder borderline) noch diskursiv (Literatur, nicht Philosophie) fixieren; vielmehr berührt das Moment der Verrücktheit strategische Verschiebungen, die das Verhältnis von Literatur und Philosophie zueinander betreffen, eine strukturelle Kopplung, die in einer eigenen semiologischen Reflexion zu begründen ist. Damit ist Entscheidendes formuliert, ist es doch nicht um eine ›philosophische Lektüre‹ von (mehr oder minder) kanonisierten Texten aus dem Umfeld der Romantik zu tun. ›Romantik‹ dient als Signet für eine Entgrenzungsbewegung, die vielleicht am Besten in Schlegels Diktum der ›unendlichen Progression‹ aufzufangen wäre und die Reflexivität des philosophischen Diskurses ebenso affiziert wie die Phantastik etwa bei E.T.A. Hoffmann.

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»Die (endliche) Vernunft ist (nur) Sprache, sie ist nicht mehr als eine Struktur der Syntax und des Sinns.« (S. 17) Ein Satz weist sich damit als reguliert von Vernunft aus – und ist doch in seiner historischen Einbettung grundsätzlich unvernünftig. Sprache im Verwendungszusammenhang schließt universelle Vernünftigkeit aus. Hieraus resultiert letztlich die Geschichtlichkeit der Philosophie, letztlich aus ihrer Unmöglichkeit, den Wahnsinn auszuschließen und zugleich der Möglichkeit, ihn vor dem Richterstuhl einer allgemeinen Vernunft anklagen zu können. Grundsätzlich folgt Oliver Kohns den Studien Michel Foucaults zu einer ›Geschichte des Wahnsinn‹, zieht jedoch, Jacques Derridas Kritik an Foucault aufgreifend, andere, »weitaus radikalere« (S. 21) Schlussfolgerungen. Wahnsinn ist zunächst diskursiv, in den Worten Foucaults: konstituiert sich in Ausgrenzungen historischer Vernünftigkeit; Wahnsinn ist sodann abhängig vom Beobachterstandpunkt; und er ist drittens beschreibbar als Alterisierung der Sprache. Dieser semiotische prekäre Status des Wahnsinns indiziert ex negativo das Prekäre des Semiotischen.

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Wenn Foucault jedoch in seiner eingehenden Analyse von Descartes’ ›Cogito‹ die Ausschließung des Wahnsinns als grundlegenden Akt (neuzeitlicher) Philosophie beschreibt, als Konstituierungsakt einer sich universalisierenden Vernünftigkeit, dann verliert er damit ein Doppeltes aus dem Blick: Er übersieht zunächst, dass eine ›Geschichte des Wahnsinns‹ – und sei es, dass sie nur an den Rändern der Diskurse schreibbar wäre – doch Sprache affiziert und infiziert haben muss; er übersieht aber auch, dass Descartes die Gewissheit des ›Cogito‹ aus letztlich der Vorstellung der Existenz Gottes ableitet: Die Struktur des ›Cogito‹ ist nicht aus sich heraus (absolut) gültig, sondern begreiflich nur als endliche Kette des Unendlichen, oder anders gewendet: als Sprechakt. Das ›Cogito‹ beansprucht Gültigkeit qua Kraft der Bezeichnung – unabhängig, oder besser: unter Berücksichtigung der Spannungen, die den Sinn historisch aufspalten, in Bewusstseinsakten, die im Aufschub der Zeit nur als ›unendliche Progression‹ vermittelbar erscheinen können (mit Derrida formuliert: mit der Möglichkeit von Iterierbarkeit). Der Sinn ist offen für den Unsinn, das historisch Gedachte für die nicht entfaltete Geschichte: »jeder Sprechende macht die Erfahrung einer Sprache, die sich von keinem Subjekt beherrschen lässt« (S. 21). Nicht zufällig eröffnet Kohns hiermit ein Bogen, der von Derridas Foucault-Kritik zu Schlegels Ironie-Begriff überleitet.

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Kant – Ratio an den Rändern des Irrationalen

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Mit diesen grundlegenden Erörterungen zu den semiotischen Implikationen des Wahnsinns wird ein Angelpunkt geschaffen, denn analog zu Derridas sprachtheoretischer Radikalisierung der Möglichkeit des Wahnsinns – und dem Philosophen, Descartes, als sprechendes Subjekt par excellence, das die Möglichkeit des Wahnsinns als in der Möglichkeit zu sprechen mitdenkt – wendet sich Kohns dem Unterfangen einer Grenzziehung zwischen Vernunft und Wahnsinn um 1800 zu: Wie schon der meditative Gang Descartes’ diskutiere auch Kant einen Zusammenhang der Begriffe ›Zeichen‹ und ›Wahnsinn‹, der nicht einfach, wie gemeinhin üblich, als Ausschluss des Wahnsinns verstanden werden könne (symptomatisch gilt hier die Kant-Deutung von Böhme und Böhme), sondern als ›Sinn‹ von seiner eigenen Ermöglichung her zu denken sei, gleichsam als Möglichkeit im Raum eines ›totalen Wahnsinns‹ (Derrida).

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Mit Heidegger interessiert Kohns hierbei zunächst, dass bei Kant die Vernunft selbst nicht denkbar ist »ohne das ›bildermachende Vermögen‹ der Einbildungskraft« (S. 26), mithin die Vernunft sich nicht einfach von der Unvernunft trennen lässt. Kants vorkritischer Versuch über die Krankheiten des Kopfes (1764), eine meist wenig beachtete Schrift, rückt hierbei in den Mittelpunkt. Insofern der Philosoph es nicht mit den Dingen selbst zu tun hat, sondern damit, sie zu begreifen, untersucht er nicht Krankheiten, sondern beschäftigt sich mit dem Versuch, ihnen Namen zu geben. Kant bezieht sich auf Rousseaus Konzeption des Naturzustandes im Discours sur l’inégalité; anders allerdings akzentuiert er den grundlegenden Mangel, der bei Rousseau ja im Verlust von ›Natürlichkeit‹ mit der Differenz von Sein und Schein begründet liegt (vgl. S. 31).

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Bei Kant besteht der Mangel, dem entgegengesetzt, im Fehlen von Sprache und bürgerlicher Ordnung. Die Möglichkeit und Notwendigkeit von Benennung ist für Kant grundlegend die Bedingung für Täuschung und Wahnsinn. Auch hier arbeitet Kohns die Bezüge zu Rousseau (Essais sur l’origine des langues) heraus, in dem die ›manie‹ des modernen Menschen aus der Dissoziation von Wort und Ding erklärt wird und die ›prévoyance‹ des Menschen (vergleichbar der ›Perfektibilität‹ im Discours sur l’inégalité) zur Quelle des Elends. Mit Kants reformuliert: Die ›Selbstaffektion‹ (Vorstellung der Einbildungskraft) eröffnet erst die Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit des Menschen, damit aber auch die Entfernung vom Ursprung. Der Naturzustand wäre dann ein Zustand vor dem Wahnsinn, weil er ohne Gesellschaftlichkeit, Sprache und Geschichtlichkeit ›ursprünglich‹ ist im Sinne einer »Einfalt«, so Kant. ›Einfalt‹ aber wird definiert als Krankheit, und zwar diejenige Krankheit, »für alle Krankheiten [...] unempfindlich zu sein« (S. 52).

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Im Anschluss an Hume stellt Kant die ›Verrückung‹ als gefährliches Pendant zur ›Selbstaffektion‹ heraus, die aus der Vermischung von ›Sinnlichkeit‹ und ›Einbildung‹ entstehe. Die aber stellt den ›Normalzustand‹ selbst-affizierender Subjekte dar, die in der Zeit einen Selbst-Bezug entfalten; Gesundheit und Wahnsinn sind nur graduell – oder besser: interpretatorisch – unterschieden (vgl. S. 60). Historisch ausgreifend resümiert Kohns diese relative Unbeherrschbarkeit der Einbildungskraft:

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Was die rationalistische und empiristische Theorie des Zeichens möglichst zum Verschwinden bringen will: die Möglichkeit des Missverständnisses, der Täuschung des Wahns etc., wird bei Kant zur unverzichtbaren Bedingung der Möglichkeit jeder Mitteilung überhaupt. (S. 61)
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Die dem Verstand unterworfene Einbildungskraft und ihre freie Spielart, die Phantasie, sind allererst zu trennen. Begrifflich fokussieren lässt sich dies im Vermögen des Bezeichnens (bei Kant: ›Witz‹), der (zu Hegel hinschließend) die Möglichkeit der Entwicklung von Gesellschaft aus der Möglichkeit des Wahnsinns herleitet. Hegel sieht so die Verrücktheit in der Unterscheidung von subjektiv und objektiv, von konkret und abstrakt als eine ›wesentliche Entwicklungsstufe der Seele‹.

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Entscheidende Bedingung für Gemeinschaft ist die mit der Einbildungskraft und Selbstaffektion gegebene Möglichkeit der ›Versetzung‹, die, scharf von Rousseaus a-rationalem Mitleid abgegrenzt, die Fiktion eines Wir eröffne: »›Sympathie‹ ist die Identifikation« (S. 76). Es ist daher nicht zufällig, dass eine Krankheit von besonderem Interesse ist: die Hypochondrie. »Hypochondrie [...] als ausführlichtes Paradigma einer Ausprägung der ›Verrücktheit‹«(S. 78) benennt den Wahnsinn als Krankheit der Sprache, als ›Verrücktheit‹ der eigenen Existenz, die sich in fremden Zeichen affiziert denkt (Stichworte sind: einfühlender Leser, Lesesucht etc.). Kants ›sensus communis‹ als Voraussetzung der Möglichkeit von Mitteilung betreibt eine Alterisierung des Ich – und in der Alternative Gesellschaft/Wahnsinn enthüllt die Semiotik des Wahnsinns ihre fundamentale politische Dimension. Als Extremphänomen gehört hierher die ›Schwärmerei‹, die eine Entindividualisierung ohne Vernunft bezeichnet, die »paradoxe Gemeinschaft mehrerer ›Verrückter‹«(S. 91).

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Systematisch als Gegenbegriff hierzu führt Kant den ›Enthusiasmus‹ ein, als mit der Vernunft in Einklang stehende Form der Verrückung. Dies jedoch erweist sich für Kohns als Grundansatz einer positiven Akzentuierung des semiotischen Wahnsinns. Denn zwar führe die ›Schwärmerei‹ (oder der ›Fanatismus‹) zu bloßem ›Wahnwitz‹, weil das Gefühl das Gemüt erhitzt, also die Grenzen der Einbildungskraft willkürlich überschritten werden. Beim ›Enthusiasmus‹ hingegen geht die Einbildungskraft zwar auch über ihre Grenzen hinaus, jedoch aus einem Grundsatz heraus, aus dem ›Schwung der Vernunft‹, wie Kant formuliert (vgl. S. 112). Dies führe nicht zu affirmativer, sondern bloß negativer Repräsentation, mithin zur Eröffnung eines Möglichkeitsraumes – im Bewusstsein seiner Metaphorizität, wie Kohns erläuternd herausstellt.

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In der 1766 erschienen Schrift Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik, einer Polemik gegen Swedenborg, beschäftigt Kant wieder die ›wahnsinnige Macht‹ der Sprache, jener ›verrückte‹»Zustand, in dem das Ich nicht mehr sicher sein kann, über seine eigene Sprache zu verfügen« (S. 145), weil ihm die Sprache per se nicht gehören kann. Was Kant nah an einen ›Geisterseher‹ heranzurücken scheint, eröffnet doch erst die Differenz. Nicht positiv, sondern ›kritisch‹ lässt sich Einsicht gewinnen – und erst die Überschreitung in der Möglichkeit des Sprechens schafft einen solchen Ort kritischer Analytik. Kant kritisiert somit an Swedenborg nicht das Verfahren überhaupt, sondern den Mangel an Einsicht in die Grenzen der Vernunft.

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›Poetik des Wahnsinns‹? – E.T.A. Hoffmann

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Eines der programmatisch durchgehaltenen Anliegen von Oliver Kohns ist der Grenzgang zwischen Literatur und Philosophie. Kohns sucht damit Denkfiguren des Übergangs, die aus der Sprache heraus die Scheidung von Vernunft und Wahnsinn ins Werk (und über es hinaus) gesetzt zeigen. 2 Mit dem Namen Friedrich Schlegel verbindet sich in diesem Sinn eine solche Tendenz im Verhältnis von ›Wahnsinn‹ und ›Ironie‹. ›Ironie‹ – und deshalb ist ihre Konzeptualisierung für Kohns so wichtig – erweist sich hierbei als ambivalente Steuerungsfigur im Schreiben als einer Grenzziehung: zwischen Vernunft und Wahnsinn, Endlichkeit und Unendlichkeit, als Bindeglied zwischen Literatur und Philosophie.

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Ähnlich wie Blanchots ›intransitive Sprache‹ konstituiert die Schlegel’sche ›Ironie‹ eine Sprache, die sich nicht regieren lässt (vgl. S. 155), einen unendlichen Prozess der Suche und Selbstsuche, einem gespiegelten Spiegel gleich. Eben dies meint die ›progressive Universalpoesie‹:»Weil Literatur es nicht vermag, sich selbst reflektierend darzustellen, kann und muss sie diese Unerreichbarkeit der Reflexion darstellen« (S. 162). ›Ironie‹ stellt damit eine Form der Unwissenheit dar, ein Bewusstsein von Endlichkeit, das sich selbst unendlich fortspiegelt. Die Entgrenzung ist total, wenn auch nicht unendlich zu denken; so ist es um die Restitution »eine[r] originären Differenzlosigkeit, eine[s] ursprünglichen Unsinn[s]« (S. 168) zu tun, nicht ohne Grund an Foucaults ›Gemurmel‹ der Unvernunft erinnernd. Wie die Philosophie damit den Raum des Literarischen für ihr (nach Kant) kritisches Unterfangen braucht, beschäftigt die Literatur in Zeiten des semiotischen Wahnsinns eine Reflexivität, die sie darzustellen vermag, ohne sie zu Ende denken zu können.

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Genau dies leistet für Kohns Hoffmanns ›serapiontisches Prinzip‹, insofern es eine Formung des Sehens durch die Einbildungskraft intendiere. Dies ist Grundlage dafür, »dass die Diskussion über Serapions Wahnsinn in nuce wesentliche zeitgenössische Positionen der philosophischen Debatte über die erkenntnistheoretische Rolle der Einbildungskraft wiedergibt« (S. 174). Denn wie bei Kant erscheint der ›Enthusiasmus‹ als »ursprüngliches Vermögen der Darstellung« (S. 178): »Wahrnehmen und Erkennen im Sinne Serapions ist stets Schöpfung« (S. 175). Freilich stellt Kohns klar: Eine ›Poetik des Wahnsinns‹ sei ein »Oxymoron«, und so stellen die Serapionsbrüder eine »Gemeinschaft im Namen der vollständigen Vereinzelung und Singularisierung« dar (S. 181). Der politisch-verantwortliche Aspekt ist entmächtigt.

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Dem ›Enthusiasmus‹, der ›Exzentrik‹ und ›Begeisterung‹, korrespondiert mit dieser Entmächtigung ein Korrektiv, »die Rolle der ›Außenwelt‹ als initialisierende und beeinflussende Macht für die Einbildungskraft« betreffend (S. 186): Diese Abhängigkeit des Geistes von einem Außen sieht Kohns metaphorisch im Phänomen des ›Mesmerismus‹ bei Hoffmann entfaltet. Wichtig an dieser Quasi-Dialektik: Eine ›strukturelle Ironie‹ formiert den Erzählgang bei Hoffmann, mit der die enthusiastischen Züge als Such- und Entgrenzungsbewegung der Worte sich in Bildern kristallisieren, die, mesmeristisch, eine Ent-Täuschung der Begeisterung (Abhängigkeit) repräsentieren.

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Die Probe aufs Exempel macht die Schauergeschichte vom Öden Haus, die, an Schlegel erinnernd, gewissermaßen einen »Leser in Potenz« (S. 198) vorstelle, die Geschichte eines Lesers zu lesen. Denn gemäß der Macht eines ›Phantasmas‹ bringt »Theodors Phantasie [...] einen Roman hervor« (S. 206), in dessen Zentrum das Bild einer schönen Frau steht. Zwischen Schuberts »Symbolik des Traums« (1814) und Freuds »Phantasmologie« (S. 220) produktiv vermittelnd, sieht Kohns eine »Logik des Traums« und der Vertauschung am Werk (S. 208), die im Spiegel einen imaginativen phantasmologischen Wiederholungszwang im Sinne Freuds vorführe: So sei der Spiegel als zentrales Motiv »Medium einer narzisstischen Ich-Fiktion und Ich-Phantasmierung – und zugleich das Medium des Zerbrechens und der Dekonstitution dieses Ich, indem es das Ich als anderes [im Bild des Mädchens] vorführt« (S. 245).

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Ähnliches lässt sich auch an der Automate belegen, die »eine Simulation dessen an[strebe], was Schlegel mit einer hinterlistigen Formulierung, als ›fragmentarisches Bewußtsein‹ bezeichnet« hat (S. 232). Ähnlich dem Spiegel geht es um »Projektionen des Lebendigen auf einer leeren ›Leinwand‹ des Nicht-Lebendigen«, die es erlaubten, »die ›Sängerin‹ mit dem Automaten zu identifizieren« (S. 249). Als Zerrbild von Wiederholung und Spiegelung repräsentieren sich die Figuren in diesen Erzählungen als unheimliche Wiedergänger ohne Identität und Visualität, als Bilder einer ›Verrückung‹, für das Ludwigs Musiktheorie in der Automate das Bild einer unendlichen Annäherung im Nachhall bereitstellt.

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Der Sinn des Phantasmatischen bei Hoffmann, wie abschließend an Doge und Dogaresse geschlussfolgert wird, offenbart so eine Zirkulation, die nicht festzustellen ist. Zwar wird das »gesprochene Wort [...] unmittelbar in ein Bild umgesetzt. In dieser Energie der Darstellung [aber] kann der Kern des Phantasmatischen bei Hoffmann gesehen [werden]« (S. 265). Das Subjekt, wie Kohns nicht ohne Polemik gegen Hegel einwendet, »entgeht [...] bei Hoffmann dem Wahnsinn nicht, welcher der Zirkulation [des Sinns, der Bilderproduktion] notwendig vorausgeht« (S. 262).

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Hybride Bücher, ein unendliches Signifikat –
Thomas Carlyle

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Vergleichbar der Funktion von Schlegels ›Ironie‹ vermittelt Jean Pauls Humor-Begriff zu Beginn der Interpretation von Thomas Carlyles Sartor Resartus, der nicht nur an Schlegels ›Ironie‹ rückgekoppelt wird, sondern auch dazu dient, die historischen Bezugnahmen Carlyles auf Jean Paul (etwa als Übersetzer) theoretisch zu erweitern: ›Humor‹ in diesem Sinn bezeichnet einen destruktiven Selbstbezug im Moment der Selbst-Distanzierung und indiziert in Kohns Deutung die mehrfach verschobenen Ebenen in Sartor Resartus, dessen Thema sich im Schreiben zu multiplizieren und verwirren scheint.

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Beschreiben lässt sich Carlyles Roman am besten »als eine satirische Darstellung der Verrücktheit deutscher Philosophie«, während zugleich die Möglichkeit nahegelegt wird, dass die »englische Metaphysik und Wissenschaft für delirierend [zu] halten« sei, wie sie die deutsche darstellt (S. 282). Das Verwirrspiel ist damit vorbereitet und generiert in der »wechselseitige[n] Vernichtung der endlichen Zeichen« ein »unendliche[s], übersinnliche[s] Signifikat[]«(S. 282), das Kohns treffend zusammenfasst als »Buch über ungeschriebene und ungelesene, über unschreibbare und unlesbare Bücher« (S. 284), wobei entscheidend die Doppelungsstruktur ist, die den infiniten Regress beschreibt und unabschließbar fortsetzt. Der Protagonist Teufelsdröckh liefert hierfür in seiner eigenen Sprachtheorie Vorstellungen, etwa wenn er das ›Symbol‹ als negative, weil auto-destruktive Tendenz bezeichnet: Zwar eröffne das Schreiben »die Möglichkeit einer Überwindung der menschlichen Endlichkeit« (S. 304) – womit die Fragen der Metaphysik greifbar zu sein scheinen –, intrinsisch, so Kohns, bleibe vom Unendlichen (Göttlichen) aus Sicht des Menschen jedoch nur die Schrift, gewissermaßen eine Allegorie des Symbolischen, wenn man mit Benjamin die Allegorien als das ansieht, was Ruinen im Reich der Dinge sind.

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Ein Wahnsinn müsse über das Denken wachen

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Ein gewisser Wahnsinn müsse über das Denken wachen, greift Kohns abschließend einen Gedanken Derridas auf, und resümiert beides: die Notwendigkeit des wissenschaftlichen Diskurses, seine eigenen Grenzen im Akt des Sprechens vom Un-Sinnigen, vom Aufschub der Sprache und ihrer Iterierbarkeit her mitzuformulieren, wie auch, vice versa, die Möglichkeit, dass die Literatur an den Grenzen des Sagbaren das Denken doch wieder einholt. Hegels Kritik am ›gesunden Menschenverstand‹ steht hierfür Pate, denn gleichsam im Spiegel des Zeichens verwirrt die Dialektik Hegels den Begriff des Rationalen, sei es in den Grenzen des ›gesunden Menschenverstandes‹, sei es in der ›Möglichkeit des wahnsinnigen Philosophen‹ (Foucault), dessen Denken sich entgrenzt.

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Diese grundsätzlichen Perspektiven gehen deutlich über eine literaturwissenschaftliche Spezialstudie über den Wahnsinn hinaus. Die Vermitteltheit von Literatur wie Philosophie im Zeichen nutzt Kohns, um den Sinn romantischen Schreibens gewissermaßen in einem ›double-bind‹ als fundamentale ›Verrücktheit‹ auszuweisen, als Doppelsinnigkeit, in der jeder Mensch als Philosoph wahnsinnig sein muss, um denkend zu werden, und zu schreiben es mit einer Verrückung zu tun hat, die über sich hinausgreift: »Literatur ist hier essentiell ›über‹ Literatur, sie behandelt die Möglichkeit und Unmöglichkeit, das Gelingen und Nicht-Gelingen einer umfassenden Synthese und eines umfassenden Sinns« (S. 333).

 
 

Anmerkungen

Friedrich Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft. Kritische Studienausgabe. Hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. München: Deutscher Taschenbuchverlag 1999, S. 432.   zurück
Zu verweisen wäre hier auch auf die ebenfalls 2007 erschienene, und schon was die Autoren angeht ergänzende, Studie von Monika Ehlers: Grenzwahrnehmungen. Poetiken des Übergangs in der Literatur des 19. Jahrhunderts. Kleist – Stifter – Poe. Bielefeld: transcript 2007 (vgl. hier, S. 46–51, auch eine Deutung von Kants Träumen eines Geistersehers erläutert durch Träume der Metaphysik).   zurück