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Faszinierende Kompilationen:
Deutschsprachige Perikopenbücher des
späten Mittelalters

  • Nigel F. Palmer: Bibelübersetzung und Heilsgeschichte. Studien zur Freiburger Perikopenhandschrift von 1462 und zu den deutschsprachigen Lektionaren des 15. Jahrhunderts. Mit einem Anhang: Deutschsprachige Handschriften, Inkunabeln und Frühdrucke aus Freiburger Bibliotheksbesitz bis ca. 1600. (Wolfgang-Stammler-Gastprofessur für Germanische Philologie 9) Berlin: Walter de Gruyter 2007. 252 S. 14 s/w Abb. Gebunden. EUR (D) 88,00.
    ISBN: 978-3-11-019151-6.
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Seit nunmehr über zehn Jahren erfreuen die Früchte der Freiburger Wolfgang-Stammler-Gastprofessur nicht nur die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Freiburger Vorlesungen, Seminare und Exkursionen, sondern auch einen breiteren Kreis interessierter Mediävistinnen und Mediävisten, denen die Eröffnungsvorträge der jeweiligen Gastprofessoren in einer eigenen Reihe des Mediävistischen Instituts der Schweizer Universität Freiburg i. Ü. zugänglich gemacht werden. Auch der vorliegende Band des Oxforder Gelehrten Nigel F. Palmer verdankt sich wesentlich einer Freiburger Gastprofessur, bietet aber viel mehr als die verschriftlichte Form eines Vortrags. Aus dem Manuskript wurde ein veritables Buch, das die Resultate einer jahrelangen Forschungsarbeit präsentiert, deren Anfänge vor, deren Fertigstellung nach der Freiburger Gastprofessur Palmers im Wintersemester 1998/99 liegen, deren inhaltliches Zentrum, ein deutscher Bibelkodex der Bibliothek des lokalen Franziskanerklosters, den Bezug zur Zähringerstadt aber stets aufrecht hielt.

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Bereits der mehrteilige Titel steckt den Horizont ab, in den Palmer seine Untersuchung stellt. Ausgehend von seiner Haupthandschrift der Freiburger Perikopen (Freiburg i. Ü.: Franziskanerkloster, Cod. 17), einer Perikopenhandschrift aus dem Jahr 1462, die – vielleicht aus Straßburg stammend – seit dem späten 15. Jahrhundert im Konvent der Freiburger Franziskaner aufbewahrt wird, weitet er den Blick auf den literatur‑ und liturgiewissenschaftlichen Kontext, in den die Handschrift zu stellen ist, das Neben‑ und Miteinander von Latein und Volkssprache, von Bild und Text, von Kloster und »Welt«, von regionaler und überregionaler literarischer Tradition. Den Titel ergänzend bietet bereits das klar strukturierte Inhaltsverzeichnis eine gute Übersicht, welche die thematischen Schwerpunkte verdeutlicht und bei spezifischen Interessen einen schnellen Zugriff ermöglicht. Es werden die wichtigsten Werktitel genannt, Jahreszahlen aufgerufen, Inhalte, Gebrauchskontexte und ‑funktionen angezeigt. Schon hier zeigt sich die Bedeutung, die Palmer der präzisen kodikologisch-philologischen Arbeit und der Aufarbeitung von Überlieferungs‑ und Gebrauchszusammenhängen von Texten, Büchern und Bibliotheken beimisst. Allein die Anhänge, welche neben der mustergültigen Beschreibung der Freiburger Perikopenhandschrift eine Zusammenstellung der deutschsprachigen Handschriften und Inkunabeln aus Freiburger Bibliotheksbesitz sowie ein Verzeichnis der Messlesungen und Glossen (Temporale) enthalten, umfassen knapp die Hälfte des Buchs. Ein Register mit den Bibelstellen zum Temporale der Freiburger Perikopen, den genannten Handschriften, Orten, Namen und Sachen, einem Curriculum vitae Palmers und einem Verzeichnis seiner Veröffentlichen in den Jahren 1973–2007 sowie mehrere Abbildungen vervollständigen das Werk. Die Anhänge erleichtern nicht nur den Nachvollzug und die Überprüfung der im darstellenden Teil vorgetragenen Thesen und Argumente, sie stellen darüber hinaus auch umfangreiches Material für weitere Forschungen zur Verfügung und – das gilt vor allem für das Verzeichnis der Messlesungen und Glossen – bieten ein Nachschlagewerk, das auch nach der Lektüre des vorliegenden Buchs und unabhängig davon äußerst nützliche Dienste erweist.

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Die Freiburger Perikopen von 1462

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Bevor sich Palmer der Freiburger Haupthandschrift zuwendet, der wegen

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der Fülle der in diesem Codex erhaltenen Bibelübersetzungen und ‑glossen und wegen der zahlreichen Bezüge, die zu anderen Strängen der Tradition deutschsprachiger Perikopen festzustellen sind, eine zentrale Position unter den deutschsprachigen Perikopenhandschriften und ‑drucken (S. 23)
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zukommt, bietet er in einer knappen Einleitung eine Übersicht über die Geschichte der Bibelausgaben und insbesondere der deutschsprachigen Bibelübersetzungen, die einmal mehr verdeutlicht, wie reich die volkssprachige Bibeltradition vor Luther war, aber auch zeigt, wie lückenhaft und rudimentär weite Bereiche des biblischen Schrifttums von der Forschung bisher behandelt wurden. Auch die »Perikopenhandschriften mit und ohne Glosse«, zu denen das Freiburger Exemplar zählt, und die seit dem späten 14. Jahrhundert zur Grundausstattung jeder größeren Büchersammlung gehörten, fanden bislang nur wenig Beachtung. So ist es leider notwendig, dass Palmer nicht nur die wichtigsten Forschungsarbeiten zu den deutschsprachigen Perikopenhandschriften referiert, sondern auch kurz die Begrifflichkeiten (›Perikope‹, ›Temporale‹, ›Sanctorale‹, ›Plenar‹ etc.) klärt (S. 18–20). Ein kurzer Abriss zum Gebrauch des Terminus ›Plenar‹ ergänzt die Liste einige Seiten weiter hinten (S. 37 f.). Die wenigen Seiten schaffen Klärung und eignen sich auch unabhängig vom Folgenden bestens als Einführung in das Thema, z.B. im Rahmen germanistischer (Pro‑)Seminare. Nach einer kurzen Forschungs‑ und Methodendiskussion schließt die Einleitung mit der expliziten Nennung der Leitfragen, die im Zentrum der vorliegenden Untersuchung stehen. Sie lauten:

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Welche Rückschlüsse erlaubt die inhaltliche Zusammensetzung der Handschriften und Drucke auf Gebrauchsfunktion und Werkverständnis der Perikopenüberlieferung? Wie ist der Gebrauchskontext der Freiburger Handschrift und der mit ihr verwandten Textzeugen der oberrheinischen Perikopenüberlieferung zu definieren? (S. 23)
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Antworten auf diese Fragen findet Palmer, von der konkreten Handschrift ausgehend, durch detaillierte Untersuchung von Entstehung, Textgeschichte und Überlieferung, die Analyse liturgischen Gebrauchs und die Textanalyse. Dabei gelingt es ihm zu zeigen, dass Konzeption und Rezeption der Handschrift zunächst wohl nicht innerhalb eines Ordens, sondern vielmehr im Umfeld des Weltklerus (Produktion / Rezeption) und der Laien (Rezeption) der Städte Straßburg und Freiburg i. Ü. zu vermuten sind.

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Allein die Bestimmung der Abweichungen der Lesungen des Cod. 17 von verschiedenen liturgischen Gebräuchen zeigt, dass die liturgische Einrichtung der Freiburger Handschrift nicht ordensintern konzipiert, sondern aus der Sicht des Weltklerus und der Laien getroffen und auf ihre Bedürfnisse zugeschnitten wurde.

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Inhaltlich wurde das Perikopenbuch gezielt so erweitert, dass es auch die Interessen von Leserinnen und Lesern berücksichtigt, die sich durch die Bibellektüre über heilsgeschichtliche Zusammenhänge informieren wollen. Die Handschrift bietet weit mehr als die Lesungen der Messe in deutscher Sprache. In den verschiedenen Texten und Textabschnitten des Eingangs der Perikopenhandschrift verdeutlicht der unbekannte Kompilator die Verquickung der linear, final verlaufende Heilsgeschichte mit der zyklischen Zeit der Natur und dem liturgischen Zyklus des Kirchenjahrs. Die Evangelienglossen bieten theologische und schriftexegetische Unterweisungen zu einer Vielzahl von Fragen, die für Nonnen, Laienbrüder und Laien in der Welt relevant sein konnten.

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Mit der programmatischen Hervorhebung der heilsgeschichtlichen Bezüge des Kirchenjahrs stimmt die ausführliche Behandlung der Osterzeit (allein die acht Tage zwischen Palmsonntag und Ostersonntag umfassen mit ihren 139 Textseiten mehr als ein Sechstel des ganzen Werks), der Passion Christi und der Osterkommunion überein, denen Palmer ebenfalls besonderes Augenmerk zukommen lässt (S. 47–65). Die genaue Lektüre des Textensembles zeigt eine auffallende Betonung der Buß- und Beichtthematik, was die These stützt, dass der Kompilator in erster Linie an Laien als Leser seines Buches gedacht haben dürfte.

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Die ersten gedruckten Perikopenbücher
von 1473 und 1476

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Bei den beiden Inkunabeldrucken, die Palmer mit je einem eigenen Kapitel in seine Untersuchung miteinbezieht, handelt es sich wie bei der mit ihnen verwandten Freiburger Handschrift um wichtige Repräsentanten der oberrheinischen Perikopenüberlieferung. Die Diskussion des ersten gedruckten deutschsprachigen Perikopenbuchs (Augsburg: Günther Zainer, 1473) 1 , erweitert die Diskussion insbesondere um die Dimension der Bilder. Zentral bespricht Palmer die Bedeutung der frontalen, ikonenhaften Darstellung des segnenden Christus auf der ersten Seite des Augsburger Drucks. Diese insistiert, so gelingt es ihm zu zeigen, auf der Vorstellung der Gegenwärtigkeit, ja körperlichen Präsenz Christi in den Evangelien. Die Bezeichnung plenari, mit dem im Augsburger Druck wie im Freiburger Cod. 17 die in einem Band vereinigten Messperikopen benannt werden, sind somit als Andeutung der »Vollkommenheit und Vollständigkeit im Sinne von dem t°reste [n] schatz den daz ertriche treit. vnd der himel bedackit hat zu verstehen« (S. 93).

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Beim dritten Perikopenbuch, das ausführlicher besprochen wird, handelt es sich um den so genannten Spiegel menschlicher behaltnis, die wohl erfolgreichste und wirkungsmächtigste aller spätmittelalterlichen Darstellungen der Heilsgeschichte. Das außerordentlich umfangreiche und ambitionierte Sammelwerk erschien erstmals 1476 in der Basler Offizin Bernhard Richels. 2 Der Redakteur der Basler Erstausgabe erweiterte die deutsche Prosaübersetzung des Speculum humanae salvationis durch ein vollständiges Temporale, weitere Texte und einen Bildzyklus von 278 Holzschnittillustrationen. Eine detaillierte Inhaltsübersicht (S. 101–105) zum erweiterten Spiegel menschlicher behaltnis verdeutlicht die Komplexität der Kompilation.

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Wie die Freiburger Handschrift, die mit dem reich bebilderten Spiegel für die Fassung des Perikopenbuchs eine gemeinsame Vorlage hat, so richtet sich auch die Inkunabel nicht primär oder sogar ausschließlich an ein klösterliches Publikum, sondern an einen breiten Kreis von Rezipientinnen und Rezipienten, Klerikern wie Laien. Für die Lektüre des Spiegels macht Palmer zwei Kommunikationssysteme wahrscheinlich. Erstens: Bild und Schrift konnten für den Laien durch die Vermittlung Dritter im Rahmen geistlicher Unterweisung verständlich gemacht werden. Zweitens: Der Spiegel konnte der Privatlektüre zu erbaulichen oder meditativen Zwecken dienen, bei der die Lektüre der Bilder und die Lektüre der Texte gemeinsam vollzogen wurden.

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Fazit

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Insgesamt bietet die Studie neue Aspekte und Zugänge zur deutschsprachigen Bibeldichtung wie zum Text‑ und Literaturbetrieb des südwestdeutschen Raums und präsentiert mit seinen Anhängen eine Fülle von bislang unbeachtetem Material. Durch präzise Analyse der Überlieferungsträger in ihrer Einbettung in eine spezifische literarische Situation gelingt es Palmer immer wieder, frühere, oft pauschal gefällte Urteile zu präzisieren oder gar zu revidieren. Die Arbeit zeigt exemplarisch, wie Kodikologie und Paläographie, Aufarbeitung der Überlieferungsgeschichte von Texten und Bildern, von liturgischen, spirituellen, kulturellen und politischen Kontexten für genuin literaturwissenschaftliche Fragestellungen genutzt und fruchtbar gemacht werden können.

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Erwähnt werden soll auch, dass hierfür einmal nicht versucht wird, bestehende Probleme zu beschönigen, Lücken oberflächlich zu füllen und Umstände zu fingieren, die nicht nachweisbar sind. Palmer scheut sich nicht, davon zu reden, dass sich nicht alle Probleme lösen und auflösen lassen, dass es Schwierigkeiten, Unsicherheiten, Zweideutigkeiten gibt, sich nicht alles eruieren lässt und wohl nie eruieren lassen wird.

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Schön auch, dass schwer greifbare Texte in ausführlichen Zitaten geboten werden, so dass der Nachvollzug der Argumentation am Text selbst vollzogen werden kann. Die Fußnoten sind, was sie sein sollten: Knappe Angaben zur benutzten und weiterführenden Literatur, gelegentlich kurze Stellungnahmen zu Forschungsproblemen, aber niemals ausufernde Exkurse zu Dingen, die auch noch interessant wären, aber leider nicht recht in den Haupttext passen. Der gebotene Text reicht völlig, um unmissverständlich klar zu machen, dass hier ein Kenner schreibt.

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Negativpunkte zu finden, ist schwierig. Vielleicht könnte man das Fehlen einer Zusammenfassung der wichtigsten Resultate monieren. Vielleicht hätte man sich gelegentlich eine etwas weniger dichte Schreibweise gewünscht, welche die Lektüre manchmal erleichtert hätte. Dies hätte allerdings den Umfang des Buches deutlich anschwellen lassen, was wohl nicht im Interesse der Herausgeber liegen konnte. So bleibt als schwerwiegendes Negativum eigentlich nur der Preis des Buchs zu nennen, der wohl viele Interessierte, v.a. Studierende und Doktoranden, davon abhalten wird, das Buch zu kaufen. Bei einem Buch wie dem vorliegenden, das nicht nur im Ganzen, sondern immer wieder auch partiell gelesen werden, ja als Nachschlagewerk benutzt werden kann, ist das besonders bedauerlich.

 
 

Anmerkungen

Vgl. ISTC ie00072000 (http://www.bl.uk/catalogues/istc/index.html) und BSB-Ink P-578 http://mdzx.bib-bvb.de/bsbink/Ausgabe_P-578.html (23.06.2008).   zurück
Vgl. ISTC is00664000 und BSB-Ink S-511 http://mdzx.bib-bvb.de/bsbink/Ausgabe_S-511.html (23.06.2008).   zurück