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»Momente Jerusalems«

Deutsch-jüdische Passagen zum Ort des Schreibens

  • Stefanie Leuenberger: Schrift-Raum Jerusalem. Identitätsdiskurse im Werk deutsch-jüdischer Autoren. (Jüdische Moderne 7) Köln, Weimar: Böhlau 2007. 274 S. 15 s/w Abb. Gebunden. EUR (D) 36,90.
    ISBN: 978-3-412-20058-9.
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»Athen« und »Jerusalem« sind immer wieder als die gegensätzlichen Orientierungspunkte bezeichnet worden, zwischen denen sich jüdisches Denken, aber auch jüdische Existenz an sich, in Europa bewegt hat. 1 Weniger im Sinn eines Widerspruchs, sondern als Ausdruck einer »dualen Identität« 2 lässt sich so deutsch-jüdisches Schreiben als Ausloten einer kulturellen Differenz zwischen zwei Ursprungsorten verstehen. Auch als geographische Örtlichkeit rückt die Stadt Jerusalem ab Mitte des 19. Jahrhunderts in den Horizont europäischer Diskurse, einerseits im Zuge einer sich abspielenden Wiederentdeckung Palästinas als Gebiet politischer Einflussnahme durch die europäischen Großmächte und einem wachsenden Tourismus ins »heilige Land«, der sich in unzähligen Reiseberichten niederschlägt, andererseits im Zuge des einsetzenden zionistischen Interesses. Die neue Aufmerksamkeit für die Stätten des biblischen Geschehens ist motiviert durch Orientalismus, die Sehnsucht nach dem Ort des Anderen – der aus jüdischer Perspektive gerade als Ort des Eigenen und des Eigentlichen wahrgenommen wird. In dieser Dialektik liegt die außerordentliche Faszination und die literarische Produktivkraft begründet, die von »Jerusalem« ausgeht.

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Eine »Untersuchung der Imaginationen Jerusalems in der deutsch-jüdischen Literatur« (S. 30) war deshalb ein Desiderat der Forschung, das das anzuzeigende Buch von Stefanie Leuenberger auf elegante und sehr anregende Weise erfüllt. Die am Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der FU Berlin und teilweise im Rahmen des Graduiertenkollegs »Makom. Ort und Orte im Judentum« an der Universität Potsdam entstandene Studie widmet sich dem »Schrift-Raum, in dem die Frage der ›deutsch-jüdischen Identität‹ erörtert und verkörpert wird.« (S. 1–2) Es handelt sich also glücklicherweise nicht um eine bloße Motivgeschichte. Leuenbergers Lektüren zu Leopold Kompert, Stefan Zweig, Else Lasker-Schüler, Franz Werfel und Arnold Zweig sind Modellstudien, die zusammengehalten werden durch die Frage, welchen Inhalt die Autoren jeweils in jenen Metaphern-Container packen, der als »Jerusalem« Raum und Zeit zu durchqueren, aufzuheben und neu zu definieren scheint. Der Ort des Schreibens wird durch die Ausrichtung auf und an »Jerusalem« im Spannungsfeld von »Heimat« und Exil, Ankommen und »Wanderschaft« jeweils neu bestimmt.

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Aufbruch und Skepsis im Ghetto

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Wie für Moses Hess und Heinrich Heine war das Jahr 1840 mit den Ritualmordbeschuldigungen von Damaskus auch für den jungen Leopold Kompert (1822–1886) entscheidend für die Erkundung der eigenen Identität. Gegen die zu einfache Annahme, dass es sich bei Komperts 1848 veröffentlichtem Erzählband Aus dem Ghetto um ein sentimentales, verklärendes Schreiben handle, zeigt Leuenberger sehr überzeugend dessen sozialkritische und politische, zum Teil scharf gegen die nichtjüdische Umwelt gerichteten Dimensionen auf. Im »Ghetto« würde es sich um eine Metapher der deutsch-jüdischen Lebensverhältnisse handeln und um »einen Raum, in dem die Verhandlungen von Identitätskonzepten im Zuge der Modernisierung stattfand [...].« (S. 43) Diesem Raum des Ghettos stellt Kompert – äußerst skeptisch, was dessen Realisierung betrifft – einen anderen, utopisch jüdischen Raum gegenüber: »Jerusalem«.

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In der Erzählung Die Kinder des Randars sind es ein Kind und ein Schnorrer, Außenseiter noch der jüdischen Gemeinschaft, die den Traum von der Rückkehr nach Jerusalem hegen. Den Knaben Moschele deutet Leuenberger als Symbol einer traditionellen Zionssehnsucht, Mendel den Narren dagegen als säkulare Transformation dieser Tradition. Denn Mendel verkörpert Jerusalem wortwörtlich: Er schneidet sich in »blutrünstigen hebräischen Buchstaben« das Wort »Jeruschalaim« »in das Fleisch« seines linken Unterarms. Die lebendige Schrift ist ein Bruch mit der Tradition, sie verkörpert gemäß Leuenberger den zionistischen Ruf nach »Selbst-Emanzipation«. Mendel jedoch bricht ohne Moschele auf und der Traum vom Ausbruch aus den bürgerlichen Verhältnissen unter den Bedingungen der Assimilation bleibt unverwirklicht.

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In den Kapiteln (von Die Kinder des Randars) Wo ist des Juden Vaterland und Rückkehr thematisiert Kompert die Vergeblichkeit jüdischer Emanzipations- und Assimilationsbemühungen, aber auch die Unmöglichkeit einer Rückkehr in ein traditionell jüdisches Leben.

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Indem der Autor hier den Protagonisten rationale Prinzipien der Aufklärung anwenden lässt, um Vorurteile zu entkräften, und literarische Formen und Motive der Romantik, [...], weist er dadurch, dass beide Epochen einer anderen Zeit angehören, auf die Überholtheit und Ausweglosigkeit dieser Versuche hin. (S. 57)
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Jerusalem bleibt ein »einzelnes Wort«: Im »Haus der Assimilation« glaubt man »an die Existenz eines solchen Orts im Grunde nicht [...].« (S. 58) Komperts Texte bündeln im Namen Jerusalem verschiedene Entwicklungen. »Jerusalem« erscheint nicht mehr bloß als religiöser Raum der Erlösung jenseits der Lebenswelt, sondern löst sich von seiner Örtlichkeit und wird zum Horizont einer Frage nach Ursprünglichkeit.

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Ursprung Jerusalem

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Die Jerusalem-Bezüge Stefan Zweigs (1881–1942) und Else Lasker-Schülers (1869–1945) sind eng mit den Motiven »Wanderschaft« und »Gemeinschaft« verbunden. Während Lasker-Schüler – da ihr die Wiedereinreise in die Schweiz fremdenpolizeilich untersagt wurde – ihre letzen Lebensjahre in Palästina verbrachte, hat Stefan Zweig das reale Jerusalem nie betreten. Seine kritische Auseinandersetzung mit dem Zionismus verdankt sich vor allem der Zusammenarbeit mit dem Künstler Ephraim Moses Lilien. Die Einleitung Zweigs in einen Bildband Liliens liest Leuenberger als »Versuch, sich vom kulturzionistischen Diskurs zu lösen, eine eigene Position einzunehmen [...]« (S. 77). Diese Position stilisiert den Tempel in Jerusalem zum

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Symbol der Schönheit und künstlerischen Vollendung [...], als Zeichen des vollkommenen Sprachkunstwerks. Eine ästhetische Perspektive wird somit dem Streben nach einer politisch-kulturellen Ausrichtung entgegengestellt (S. 78).
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Stefan Zweig ist Teil jener Avantgarde, die eine Re-Sakralisierung der Kunst und eine Ästhetisierung des Sakralen im Zeichen der Autonomie der Kunst betreibt. Der Weg führt nicht in ein reales Territorium, sondern in die Virtualität der Literatur.

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Exemplarisch verdeutlicht Leuenberger das anhand der Erzählung Die Wanderung. Die Fußreise eines jungen Mannes durch die neoromantisch dargestellte Szenerie des antiken Palästinas kann symbolisch gelesen werden als »Identitätsverfahren« – ein Begriff, der hier nicht definiert wird und zum Beispiel in Bankgeschäften den Prozess bezeichnet, sich gegen Vorlage von Identitätspapieren auszuweisen, sich als den zu erweisen, der man behauptet zu sein. In Leuenbergers Studie steht er – zur Problematik des Begriffs komme ich weiter unten – für die Textstrategie, einen kulturellen, politischen und religiösen Standpunkt literarisch zu verorten. 3 Der Protagonist der Erzählung ist

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eine ›hybride‹ christlich-jüdische Figur, die in beiden Welten keinen Platz findet und als Fremder weiterzuwandern gezwungen ist. Die Stadt Jerusalem erscheint als der historische Entstehungsort und Ausgangspunkt dieser doppelten Bedingtheit und auch als Projektionsfeld für einen Ausweg: Jerusalem trägt das Antlitz der ›Erlösung‹ in ihrer Zukünftigkeit und gleichzeitig behaupteten Unmöglichkeit (S. 85).
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Hatte für Stefan Zweig Europa als intellektuelle Gemeinschaft den Status eines neuen Jerusalems, so stellt der Erste Weltkrieg einen Bruch dar. Vergeblich versuchten Juden sich durch den Militärdienst als gleichberechtigte Bürger ihrer jeweiligen Vaterländer zu erweisen. Zweigs Drama Jeremias von 1918 stellt denn auch den antiken Untergang Jerusalems dar, das als zerstörter Ort des Ursprungs in eine metaphysische Seins-Verfassung der Ursprungslosigkeit transformiert wird. Damit wird der Heimatlosigkeit des jüdischen Dichters gegenüber antisemitischen Argumentationen eine positive Interpretation gegeben.

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Der Sakralisierung des ›Orts‹ wird der ›Weg‹ gegenübergestellt, das Wirken in der Sprache [...], denn die Sprache ist der Ort des Anderen [...]. In der Sprache liegt die Möglichkeit der Begegnung, der Anteil an der Gemeinschaft, wie der Tempel sie einmal gestiftet hatte. (S. 99–100)
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Ein »Ort im Sinn von Sprache« ist Jerusalem auch für Else Lasker-Schüler. Doch die in ihm begründeten ethischen Möglichkeiten haben sich stark verengt. Das nichtlineare Schreiben in Hebräerland, einer Reisebeschreibung im Stil eines Traumprotokolls, hat ein zersplittertes Zentrum: Ein »Jerusalem in Fetzen« (S. 110) und somit eine zentrumslose Struktur namens »Jerusalem«, ein rhizomartiges Geflecht von Bezügen. Diese »Momente Jerusalems« (S. 120) sind immer auch Augenblicke einer heiligen Sprache, das Exil und seine Sprachlosigkeit durchbrechende Augenblicke des Erlöstseins. Bei Lasker-Schüler bricht »Jerusalem« die Dichotomie von Heimat-Exil auf, indem auf eine heterotope Sprachlichkeit der Poesie hingeschrieben wird, die als Imagination eines anderen Ortes jenseits logozentrischer Logik auch eine politische Dimension aufweist. Das Aufzeigen dieser impliziten Poetik macht den Teil zu Lasker-Schüler zum wohl gelungensten – und aktuellsten des Buches.

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Wunde Jerusalem

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Der politische Zionismus, der Palästina als jüdischen Lebensmittelpunkt forderte, lehnten auch Franz Werfel (1890–1945) und Arnold Zweig (1887–1968) zum Teil vehement ab. Als eine Art »Wunde« können damit im Werk beider Autoren »Momente Jerusalems« als Problematisierung der eigenen Identität gelesen werden. Im Drama Paulus unter den Juden von 1926, das nach eingehendem Hebräisch-Studium und Beschäftigung mit Bibel, Talmud und jüdischer Geschichte entstand, schildert Werfel die schmerzhafte Geburt des Christentums aus dem Geist des Judentums. Paulus »findet keinen Platz mehr am alten Ort des Judentums und muss, ein Fremder, weiterwandern« (S. 159). Damit ist Werfels Paulus eine weitere Allegorie des Heimatlosen, einer hybriden jüdisch-christlichen Identität. Diese Gestalt ist verbunden mit der Idee einer messianischen Aufgabe, was dem dichterischen Selbstverständnis nicht nur Werfels, sondern einer Reihe deutsch-jüdischer Autoren entspricht. Zion wird gleichzeitig die »Todes- und Geburtswunde innerhalb der jüdischen Geschichte« (S. 159) eingeschrieben, eine offene Frage nach der Ankunft des Messias. Jerusalem ist bei Werfel nicht ein fernes Ziel, sondern wie etwa im Bibelspiel Der Weg der Verheißung, 1934/35 für das Manhattan Opera House in New York entstanden, ein Erinnerungsbild, das im »Dunkel der Zeit« aufblitzt »um gleich wieder zurückzuversinken« (S. 161).

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Im späten Roman Höret die Stimme schließlich erblicken die Protagonisten Jerusalem nicht von Westen her, wie es in der zionistischen Ikonographie dargestellt wird, sondern von Osten, vom Ölberg her, was gemäß Leuenberger der Perspektive vieler christlicher Maler entspreche (S. 171). Jerusalem ist Bild einer zeitlosen Zeit, einer unvergänglichen messianischen Dimension, der jedoch eine ebenso unheilbare Wunde eingeschrieben ist.

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Die Ambivalenz dieses Bildes gewinnt bei Arnold Zweig noch an Drastik:

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Jerusalem als Ort des Widerspruchs, der Anforderung, Unruhe und Konfusion, des Streits und Wahns, des Wahnsinns und des Mordes, als Ort, den man verlässt, zieht sich motivisch durch mehrere Werke [Arnold] Zweigs [...]. (S. 184)
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Großartig verdichten sich diese Motive in der Klimax des Romans De Vriendt kehrt heim von 1932, einer Traumsequenz, in der sich die Gestalt des biblischen Isaaks über die Figur des Dichters und Politikers De Vriendt schiebt, eines modernen orthodoxen Juden. In dessen geträumtem Widerstand gegen die tyrannische Zerrfigur Abrahams entdeckt Leuenberger ein Bild des »versuchten Ausbruchs aus dem Judentum des Vaters, für dessen ›Aufgezwungenheit‹ Zweig das Zeichen der Beschneidung einsetzt.« (S. 217) Hier ist die Rede von der Wunde nicht mehr metaphorisch; mit der Beschneidung ist eine ganz reale Wunde – ähnlich jener »blutrünstigen« Schrift bei Kompert – angesprochen, die das Jüdisch-Sein am Körper festschreibt. Der Skandal des Romans, dass De Vriendt von einem Juden ermordet wird, zeigt die Vergeblichkeit des Versuches, ein Anderer werden zu wollen, oder dass es ebenso unmöglich ist, »Jerusalem« zu verlassen wie in ihm anzukommen. Die Beschneidung hätte in diesem Kontext wohl verdient, etwas ausführlicher diskutiert zu werden, hat sie doch eine kardinale Bedeutung in Diskursen über jüdische Identität, Körperlichkeit und Antisemitismus. Aber wenn »die Arbeit mit dem Motiv Jerusalem« nach Leuenberger ein Versuch ist, »die Räume des Judentums in der Moderne nicht nur zu dokumentieren, sondern auch sich ›Umwege‹ und ›Auswege‹ zu erschreiben« (S. 225), sich in »Jerusalem« Traditionen zu erfinden, alternative Gemeinschaften zu imaginieren und »Gegenleben« zu schaffen, dann wird hier bedrückend deutlich, dass bei Arnold Zweig von diesem Versuch nicht viel übrig geblieben ist. Jerusalem ist ein Ort der Gewalt. Nach dem Zweiten Weltkrieg lebte und arbeitete Zweig konsequenterweise in der DDR – doch auch der Sozialismus kann die Wunde Jerusalem nicht heilen.

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Ort des Schreibens

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Der Gedankengang von Leuenbergers Studie entwickelt sich im Zusammenhang mit den Texten. Sie besticht nicht nur durch eine Fülle von erhellenden Beobachtungen, sondern auch durch den sorgfältig gearbeiteten Rahmen, in den die einzelnen, nie aufgepfropft wirkenden Lektüren eingebettet sind: Die immer wieder neu formulierte Frage nach der Funktion der »Momente Jerusalems« für den jeweiligen Text. Vor diesem Fragehorizont gewinnt man einen faszinierenden Ausblick auf individuelle Passagen 4 im haltlosen Terrain deutsch-jüdischer Identität. In der theoretischen Anlage ergeben sich für den Rezensenten dennoch zwei kritische Nachfragen, die hier im Sinne eines Diskussionsbeitrages verstanden sein sollen.

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Die erste Frage betrifft den Begriff des »Identitätsverfahrens«, das sich gemäß Leuenberger an den Figuren und Topoi deutsch-jüdischer Autoren ablesen lässt. Nicht nur ist Sprache durch Politik geprägt, politische, ethnische oder kulturelle Gemeinschaft ist immer schon sprachlich konstituiert. Gemeinschaft und Sprache, Identität und Davon-Sprechen bezeugen und erzeugen sich wechselseitig in einem ständigen, performativen Prozess. Im Namen »Jerusalem« wird eine »imaginäre Institution des Sozialen« bestimmt und damit »ein Raum einer wirkungsvollen Irrealität« besetzt, der, so hat es Joseph Vogl mit Bezug auf Cornelius Castoriadis ausgeführt,

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sich den Urteilen von wahr und falsch entzieht und dennoch all die Bilder speichert, die als unmittelbare Antwort auf die Frage nach Identität und Zusammenhalt einer Gesellschaft ausfließen. 5
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Das Politische manifestiert sich im Kampf um die Darstellung oder Nichtdarstellung dieses Ortes der Gemeinschaft und gleichzeitig manifestiert sich das Literarische im Innersten des Politischen selbst, in den Ursprungs-Imaginationen von Gemeinschaften. Die vorliegende Publikation zeigt, wie »Identitätsverfahren« innerhalb dieses Prozesses konkret funktionieren und ihn thematisch machen – bleibt dem Leser aber dessen Theorie schuldig.

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Daran anschließend stellt sich die zweite Frage nach dem Status des Wortes »Jerusalem« selbst. Ebenso überzeugend wie behutsam deutet es Leuenberger an den Texten als jeweils sich neu ausrichtende Verortung von Identität zwischen Exil und Heimat, Aufbruch und Ankommen. Diese sind aber gleichzeitig nicht nur »Identitätsverfahren«, sondern ebenso Schreib-Verfahren. Ist in der im Wort »Jerusalem« angezeigten Politik oder Ethik nicht jeweils eine Verortung des Schreibens selbst, also eine implizite Poetik, angesiedelt? Leuenberger weist in der Einleitung darauf hin, dass »Jerusalem« »allein in der Poesie, in den Träumen und Tränen der Dichter« (S. 11) existiert und »stets von einem bestimmten Standpunkt aus konstruiert ist.« (S. 18) In der Thematisierung »Jerusalems« stößt man somit auf das Mit-Sich-Ringen einer Literatur, die sich als deutsche und jüdische, ob willentlich oder nicht, immer auf dem Weg zu einer anderen Ethik befindet, einer Ethik, die sich nicht von einem »Standpunkt« aus begründen lässt, sondern sich aus der Differenz zwischen zwei Punkten herschreibt. Damit aber brechen in den Augenblicken »Jerusalems« Passagen zum Ort des Schreibens selbst auf. Literaturtheoretisch heißt dies, dass im Schreiben über »Jerusalem« nicht nur politische oder kulturelle Identität verhandelt wird, sondern dass darin das Schreiben selbst aus einem Schriftraum erzeugt wird. Damit gibt es für deutsch-jüdisches Schreiben immer nur die jeweilige Passage zu einem unerreichbaren Ort des Schreibens, von dem her es doch angetrieben wird. Die selbstreferentielle Struktur dieser Bewegung auf der poetologischen Ebene wird in der Studie kaum beleuchtet, entspricht aber genau der Struktur auf der politischen Ebene, die mit sehr präzisem Blick analysiert wird. Meine beiden Bemerkungen richten sich auf die Abstraktion von der Ebene des Kontextes der deutsch-jüdischen Moderne und fragen nach dem, was daran gerade modellhaft für eine Theorie der interkulturellen Literaturwissenschaft zu gewinnen wäre. Diese kann natürlich nicht das Ziel einer Untersuchung deutsch-jüdischer »Identitätsdiskurse« sein, wie sie hier beispielhaft vorliegt, doch eine vom unmittelbaren Gegenstand der Untersuchung abhebende und gleichzeitig präzisere theoretische Anlage würde auch deren Resultate nachdrücklicher vermitteln.

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Die kritischen Nachfragen, das soll als Fazit festgehalten werden, sind nicht von Außen herangetragene Einwände; sie entzünden sich erst am eindrücklich dargelegten Material. Vielleicht sind die erstaunlichsten Texte, auf die hier eingegangen wird, nicht literarische Dokumente, sondern Briefe Ephraim Moses Liliens aus Palästina an seine Frau. Im Nachwort weist Leuenberger auf eine der ältesten Liebesgeschichten der Weltliteratur hin, die sich auf »der Bühne Jerusalems« (S. 237) abspielt: Das shir ha-shirim oder das Hohelied. Diese Folie ist den euphorischen Briefen Liliens, der 1906 am Aufbau der Bezalel-Schule in Jerusalem mitarbeitete, unterlegt. Auf einer weiteren Palästina-Reise, acht Jahre später, überwiegt in den Briefen jedoch die Empfindung der Fremdheit. Vom Ausbruch des ersten Weltkriegs überrascht, war Lilien »der Rückweg abgeschnitten«, er wird in Palästina festgehalten und die ganz reale Passage nach Europa ist nicht möglich. Beglückende und inspirierende Liebe ebenso wie Isolation und Resignation: Dazwischen bewegt sich – wie am Schluss noch einmal deutlich wird – deutsch-jüdisches Schreiben über, in und gegen Jerusalem. In diesem Sinn bedankt sich der Rezensent für die spannende Lektüre und die inspirierenden Einsichten, die diese in das weite Feld deutsch-jüdischer Literatur eröffnet.

 
 

Anmerkungen

Vgl.: Leora Batnitzki: Strauss and Lévinas between Athens and Jerusalem. In: Ders.: Leo Strauss and Emmanuel Lévinas: Philosophy and the Politics of Revelation. Cambridge: Cambridge University Press 2006, S. 5–7.   zurück
Vgl.: Paul Mendes Flohr: German Jews. A dual Identity. Yale: Yale University Press 1999.   zurück
Hier und an anderen Stellen bezieht sich die Studie auf: Galili Shahar: theatrum judaicum. Denkspiele im deutsch-jüdischen Diskurs der Moderne. Bielefeld: Aisthesis 2007.   zurück
Leuenberger orientiert sich an Gert Mattenklott: Passagen. In: Hendrik Budde (Hg.): Die Reise nach Jerusalem. Eine kulturhistorische Exkursion in die Stadt der Städte. Berlin: Argon 1995, S. 96–103.   zurück
Joseph Vogl: Einleitung. In: Ders. (Hg.): Gemeinschaften. Positionen zu einer Philosophie des Politischen. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1994, S. 7–27, hier S. 15.   zurück