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Das Ornament im Wolfenbütteler Psalter 1

Untersuchungen zur Rahmen- und Initialornamentik in den Handschriften aus St. Bertin um die Mitte
des 9. Jahrhunderts

  • Stefanie Westphal: Der Wolfenbütteler Psalter Cod. 81.17 Aug. 2. Eine ornamentgeschichtliche Studie. (Wolfenbütteler Mittelalter-Studien 19) Wiesbaden: Harrassowitz 2006. 259 S. 107 s/w, 90 farb. Abb. Gebunden. EUR (D) 98,00.
    ISBN: 978-3-447-05473-7.
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Die im Rahmen der angesehenen Schriftenreihe der Wolfenbütteler Mittelalter-Studien als Band 19 vorgelegte Studie zur Ornamentik des Wolfenbütteler Psalters ist aus einer von Prof. Ulrich Kuder betreuten Kieler Dissertation hervorgegangen und steht – weitestgehend identisch – auch als PDF-Datei im Internet zur Verfügung. 2 Ihr wesentlicher Gegenstand ist die reiche, dabei sehr charakteristische Rahmen- und Initialornamentik dieses Codex der innerhalb der so genannten »Franco-sächsischen Schule« als Untergruppe geführten Schule von Saint-Omer.

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Die Handschriftengruppe um den Wolfenbütteler Psalter.
Forschungsgeschichte – Gruppierung – Lokalisierung

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Im Mittelpunkt dieser ornamentgeschichtlichen Untersuchung steht neben der titelgebenden Psalter-Handschrift in Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek, Cod. Guelf. 81.17 Aug. 2°, eine Gruppe von weiteren fünf Codices, die aus Gründen der »Übereinstimmungen in der ornamentalen Ausstattung« (S. 11) von der Verfasserin als zusammengehörig betrachtet werden. Im Einzelnen handelt es sich bei den Vergleichshandschriften um den so genannten »Ludwigspsalter« in Berlin (Staatsbibl. Preuß. Kulturbesitz, Ms. theol. lat. fol. 58), zwei Evangeliare in Prag (Knihovna Metropolitní Kapituli, B 66) und Rom (Bibl. Vat., Palat. lat. 47), die Moralia in Job des Gregorius in Boulogne-sur-Mer (Bibl. mun., Ms. 71) sowie die Varia Opera des Augustinus in St. Omer (Bibl. mun., Ms. 254). Alle diese Handschriften zeichnen sich zwar durch üppigen Buchschmuck aus, der ausschließlich aus teilweise gerahmten Initialzierseiten und rahmenlos in den Text eingestellten Ornamentinitialen besteht, zu denen nur im Falle des Evangeliars der Biblioteca Vaticana eine Reihe von Kanonbögen hinzutritt, während jede weitere Form szenischer Illustration in allen Fällen unterbleibt.

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Dem Einleitungskapitel des Bandes zugewiesen ist ein knapper Überblick über die Forschungsgeschichte zur Handschriftengruppe, deren Gruppierung und Lokalisierung in das Kloster St. Bertin in St. Omer auf Carl Nordenfalks frühen Aufsatz »Ein karolingisches Sakramentar aus Echternach und seine Vorläufer« 3 zurückgeht. Nordenfalk sah in der Handschriftengruppe zunächst eine Vorstufe zur so genannten frankosächsischen Buchmalerei der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts. Inzwischen sind weitere Untersuchungen hinzugekommen, die Nordenfalks anfängliche Beurteilung in Teilbereichen, insbesondere in Bezug auf die Zugehörigkeit einzelner Handschriften zur Gruppe St. Bertin, modifizieren. Dabei ist die Lokalisierung der Codices in das nordfranzösische Kloster St. Bertin bei St. Omer weitgehend unbestritten; ihre Entstehungszeit reicht von der ersten Hälfte der 30er Jahre des 9. Jahrhunderts (für den Ludwigspsalter) über das Jahrzehnt zwischen 835–845 (für den Wolfenbütteler Psalter und das Prager Evangeliar) und die Jahrhundertmitte (für das Evangeliar der Biblioteca Vaticana) bis in die zweite Hälfte des 9. Jahrhunderts (für die exegetische Handschrift in Boulogne). Ein konkreter Datierungsvorschlag für die durch den Priester und Mönch Regnolfus dem Kloster St. Bertin gestiftete Augustinushandschrift in St. Omer bleibt offen, was letztlich auch darauf zurückzuführen sein dürfte, dass der Stifter Regnolfus lediglich in der undatierten Widmungsinschrift auf fol. 1v des Bandes namentlich genannt ist, aber weitere Nennungen in den Quellen fehlen, die eine konkrete zeitliche Einordnung hätten ermöglichen können.

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Historisch-topographische Einblicke

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Zur näheren Situierung der zu untersuchenden Handschriften folgt ein knapper topographischer und historischer Überblick über die Geschichte der Abtei St. Bertin auf der Grundlage der Quellenüberlieferung (S. 15–22). Bereits die geographische Lage des Klosters im äußersten Nordwesten Frankreichs deutet an, in welchem politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Beziehungsfeld die um 649 gegründete und bereits sehr früh mit königlichen Privilegien ausgestattete Abtei anzusiedeln ist. Im 9. Jahrhundert standen dem Kloster bedeutende Äbte vor, die auf mancherlei Weise mit dem Hof Ludwigs des Frommen und Karls des Kahlen in verwandtschaftlicher Verbindung standen, in der Hofkanzlei als Leiter fungierten beziehungsweise durch die gleichzeitige Ausübung eines weiteren Abtamtes in engstem Austausch mit bedeutenden klösterlichen Einrichtungen der Zeit wie Tours und St. Amand standen. In der Zeit ihres Wirkens, das nach den Wikingereinfällen des frühen 9. Jahrhunderts einsetzt und mit der Zerstörung des Klosters durch die Normannen 860 ein vorläufiges Ende findet, ist die Entstehung der Handschriftengruppe im klostereigenen Skriptorium anzusetzen.

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Die materiellen Gegebenheiten

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Die eingehende Auseinandersetzung mit der Zierausstattung des Wolfenbütteler Psalters beginnt mit einer Zusammenstellung der materiellen Gegebenheiten der Handschrift im Sinne einer katalogmäßigen Erfassung. Dabei ist bei der Frage der Binnengliederung des Textes zunächst die Einteilung des Psalmenbestandes in 15 Dekaden festzuhalten, die – bei Akzentuierung der jeweiligen Teilungsinitiale durch eine gerahmte Initialzierseite – konsequent durchgeführt wurde, wobei allerdings heute das Blatt mit der Zierseite zu Ps. 120 zwischen fol. 79 und fol. 80 fehlt. Gleichsam als »Titelblatt« ist auf fol. 1v dem Textcorpus eine zweispaltig angelegte und entsprechend gerahmte Incipitseite vorangestellt. Auf die Psalmen (fol. 1v-90v) folgen auf fol. 91r bis fol. 98v die biblischen Cantica in zeitüblicher Textabfolge. Der Text selbst wurde zweispaltig in karolingischer Minuskel geschrieben, für die herausgehobenen Psalminitialen werden Unzialen verwendet; die Auszeichnungsschrift der Incipitseite hingegen ist die Capitalis.

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Nach kurzem Hinweis auf eine im 18. Jahrhundert erfolgte Erneuerung des Einbandes, aus dem freilich nicht hervorgeht, ob dabei der originale Einband weiterverwendet wurde und wie er gestaltet war beziehungsweise ist, folgen Hinweise zu den wenigen bekannten Stationen der Besitzgeschichte des Codex, die nur bis in die Jahre zwischen 1651–1665 zurückreicht, als die Handschrift durch Herzog August den Jüngeren von Brandenburg-Lüneburg-Wolfenbüttel erworben wurde.

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Klassifizierung der Gestaltungselemente

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Die weiteren Ausführungen beziehen sich direkt auf die spezifische Fragestellung der Studie: das Ornamentrepertoire der Handschrift, das sich einerseits in den Binnenfüllungen der Rahmenleisten, deren Eckgeflechtmotiven und sonstigen Seitengliederungselementen, andererseits in der fallweise zoomorphen wie geometrischen Ornamentik der Initialen selbst zu erkennen gibt. Alle klassifizierten Gestaltungselemente werden in ihren wesentlichen Zügen beschrieben und in einen Gesamtzusammenhang gebracht. Auf gleiche Weise wird sodann das Ornamentrepertoire der Vergleichshandschriften vorgestellt und bereits mit dem Wolfenbütteler Psalter in Beziehung gesetzt. Erst dann setzt die eingehende Analyse aller aus den Handschriften isolierbaren Ornamentformen in einem hoch differenzierten System von Untergliederungen in strukturelle Einzelformen ein mit dem Ziel, jedes Einzelmotiv auf seine Herkunft und seine Verbreitung in karolingischer Zeit zu befragen, um daraus vertiefte Erkenntnisse über die Einflüsse auf das Ornamentrepertoire der Handschriftengruppe einerseits und deren Ausstrahlung auf die Buchmalerei ortsfremder Skriptorien andererseits zu gewinnen.

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Dabei nähert sich die Verfasserin ihrer spezifischen Fragestellung auf zweierlei Weise. Zum einen wird ein akribisch genau geführter Katalog aller im Wolfenbütteler Psalter und in den fünf Vergleichshandschriften vorkommenden Motive und Muster erstellt (S. 143–173). Er gliedert sich in drei Abteilungen, in denen nacheinander die vegetabile, sodann die geometrische und schließlich die zoomorphe Ornamentik mit allen ihren Untergliederungen erfasst und beschrieben wird. Dabei wird ihr Vorkommen in den einzelnen Handschriften nicht nur durch Folio-Angaben genau lokalisiert, sondern zudem eigens mitgeteilt, in welcher Funktion das jeweilige Element zum Einsatz gelangt: etwa als Bestandteil der Initiale selbst (IO), als freistehendes Ornament (FO), als Gliederungsmotiv oder Besatzornament der Rahmenleisten und Eckelemente (RO) sowie schließlich als Zierbestandteil der Kanontafeln (KO), wofür freilich nur das Evangeliar der Biblioteca Vaticana in Frage kommt.

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Umzeichnung und Motivbeschreibung als
Voraussetzung einer übergreifenden Ornamentanalyse

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Für die Lesbarkeit dieser Motive leisten die beeindruckend klaren, angemessen großen Umzeichnungen von 367 einzelnen Motiven auf 26 Tafeln – unter anderem Blätter, Blüten, Stauden, Friese, Ranken, Bäume, geometrische Muster, Flechtband und eigenständige Verflechtungen sowie einige zoomorphe Motive und Muster – unschätzbare Hilfestellung (S. 177–208; mit Nachweis der Fundstelle, nach der die Nachzeichnung durch die Autorin selbst angefertigt wurde). Sie tragen Wesentliches nicht nur zur Identifizierung einzelner Motive, sondern auch zur Klärung und Unterscheidbarkeit der Ornamentvielfalt bei.

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Damit ist die Ausgangsbasis geschaffen, auf der die eigentliche Ornamentanalyse erfolgen kann. Jedes Motiv wird einzeln besprochen und dabei auf sein Vorkommen und seine besondere Funktion innerhalb der Handschriftengruppe untersucht, wofür vielfach Tabellen mit den verkleinerten Umzeichnungen, dem Verweis auf die jeweilige Klassifizierungsnummer im Katalog und die Verwendung in den einzelnen Handschriften Erinnerungshilfe und klärenden Überblick verschaffen. Erst damit werden für den spezifischen Ornamentgebrauch konkrete Aussagen über »die Herkunft und Verbreitung im vorliegenden Handschriftenmaterial des frühen Mittelalters« (S. 95) möglich. Hierbei werden – als eines der wesentlichen Forschungsergebnisse – insbesondere Einflüsse aus der kontinentalen Buchmalerei, vornehmlich der Hofschule Karls des Großen, die ihrerseits auch mediterrane Anregungen verarbeitete, sowie der Skriptorien in Reims und Tours fassbar, außerdem aus dem insularen Bereich, schließlich auch Rückgriffe auf künstlerische Traditionen der Handschriftenausstattung aus vorkarolingischer Zeit im nordfranzösischen Raum.

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Abschließend – und gleichsam zur Komplettierung – richtet sich in einem weiteren Kapitel der Blick auf die Initial-, Rahmen- und Bogenstruktur sowie deren Farbgebung (S. 107–117), die neben Strukturen aus insularen Handschriften insbesondere mit solchen karolingischer Buchmalerei aus der Hofschule Karls des Großen, aus Tours und aus frankosächsischen Codices verglichen werden. Lediglich die sporadischen Ausführungen zur Farbigkeit, die in den untersuchten Handschriften freilich neben der häufig üppigen Verwendung von Gold eine untergeordnete Rolle spielt, bleiben auffällig unverbindlich. Hier kann ein Blick in den großzügig ausgestatteten Bildteil, der 90 farbige Reproduktionen ganzer Seiten und einzelner Initialen der Handschriftengruppe sowie 106 manchmal leider etwas flaue Vergleichsabbildungen und zwei Übersichtskarten bietet, eine gewisse Abhilfe schaffen.

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Ein Literatur- und Quellenverzeichnis am Ende des Textteiles, dazu Aufnahmetabellen mit Übersichten über den Einsatz von Motiven auf jeder einzelnen ornamental ausgestatteten Seite der Handschriftengruppe, Orts- und Personenregister sowie ein Verzeichnis der erwähnten Handschriften gewährleisten eine leserfreundliche Benutzbarkeit der soliden Studie, die nicht nur neues Licht in eine noch immer wenig bekannte Handschriftengruppe des mittleren 9. Jahrhunderts aus dem Skriptorium im Kloster St. Bertin bringt, sondern auch methodisch vorbildhaft für ähnliche ornamentgeschichtliche Studien sein kann. Nicht zuletzt in begrifflicher Hinsicht kann Stefanie Westphals materialreiche Untersuchung für jeden Bearbeiter illuminierter Handschriften künftig von erheblichem Nutzen sein.

 
 

Anmerkungen

Die vorliegende Rezension ist zuerst erschienen in: Bericht des Historischen Vereins Bamberg 143 (2007), S. 637-639. Für die Erlaubnis zum weitgehend unveränderten Wiederabdruck gilt dem Herausgeber, Herrn Archivdirektor Dr. Robert Zink (Bamberg), herzlicher Dank.   zurück
In: Acta Archaeologica 2, 1931, S. 233–254.   zurück