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Körper auf zweiter Stufe

Gedächtnis, Leib- und Sprachprozesse
in den skandinavischen Gegenwartsliteraturen

  • Hanna Eglinger: Der Körper als Palimpsest. Die poetologiosche Dimension des menschlichen Körpers in der skandinavischen Gegenwartsliteratur. (Nordica 14) Freiburg/Br.: Rombach 2007. 243 S. Kartoniert. EUR (D) 44,00.
    ISBN: 978-3-7930-9507-1.
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Körperlektüren

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Spätestens seit den 1980er Jahren ist das Thema des Körpers in den Literaturwissenschaften virulent. Während der Körper in den frühen Abhandlungen noch als das (ahistorische und universale) Andere der Sprache oder das Jenseits der Zeichen fungierte, von dem man sich eine Subversion diskursiver Gewalten erhoffte, interessierte man sich ab den 1990er Jahren eher für die Geschichte des Körper, die sich in unterschiedlichen Diskursen manifestiert. Daneben lässt sich ein fortlaufendes Interesse an Fragestellungen der Psychoanalyse und Phänomenologie verfolgen, das Autoren unterschiedlicher methodologischer Prägung dazu veranlasst hat, nach Konzepten von Leiblichkeit in der Literatur zu fragen. Schließlich laborieren auch wahrnehmungstheoretische und medienhistorische Lektüren mit unterschiedlichen Körperkonzepten, die sich unter anderem in einem Interesse für die literarische Geschichte des Sehen, Fühlens, Schmeckens oder Tastens äußern.

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Kurz und gut: Mit ihrer Dissertation zum Thema der Körperpoetik in der skandinavischen Gegenwartsliteratur lässt sich Hanna Eglinger nicht nur auf einen weiten Themenbereich ein, sondern auch auf eine schwer überschaubare Vielfalt von methodischen Ansätzen. Dass ihre Arbeit dennoch überzeugt, hat drei Gründe. Zum einen bewegt sich Eglinger mit einer erstaunlichen Sicherheit in den unterschiedlichen diskursiven Traditionen, die mit der theoretischen Problematik verknüpft sind. Zum anderen gelingt es ihr, diese Problematik auf die Frage nach dem Zusammenhang zwischen der Körperthematik und den spezifisch poetologischen Problemen zuzuspitzen, die mit dem Begriff des Palimpsestes verknüpft sind. Aufgrund dieser theoretischen Zuspitzung entfernt sie sich drittens völlig von einer motivgeschichtlichen Überblicksdarstellung und kann sich auf eingehende Analysen von sechs exemplarischen Körperpoetiken beschränken.

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»hudens to sider« – Zur Philosophie der Körpergrenze

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Mit dem Cover ihrer Arbeit spielt Eglinger auf ein dänisches Tanzprojekt von Kitt Johnson an, das im Frühjahr 2006 in Kopenhagen aufgeführt wurde. Zu sehen ist der Ausschnitt eines Plakates, das die Veranstaltung Palimpsest als »En kortlægning af hudens to sider« (»Kartierung der zwei Seiten der Haut«) ankündigt. Eglinger übernimmt das zentrale Motiv des Plakates, auf dem eine anatomische Abbildung aus Juan de Valverde de Hamusco’s Historia de la composicion del cuerpo humano (1556) mit einer modernen fotografischen Vergrößerung eines Hautauschnittes zusammengestellt wurde. Auf dem Holzschnitt sieht man eine Ganzkörperfigur, die, indem sie ihre eigene, abgetrennte und nach oben gezogene Bauchhaut mit den Zähnen festhält, nicht nur einen Blick auf den Verdauungstrakt gewährt, sondern auch auf die innere Seite der Haut selbst, welche von einem schematischen Adersystem durchzogen wird.

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Mit dieser Inszenierung der doppelten Körpergrenze ruft das Plakat unwillkürlich all jene Dichotomien in Erinnerung, welche die abendländische Auseinandersetzung mit dem Körper geprägt haben. Dies gilt für die Grenze zwischen Innen und Außen des Körpers gleichermaßen wie für daran orientierten Dichotomien von Sichtbarem und Unsichtbarem, Leib und Seele, Objekt und Subjekt oder Materie und Geist.

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Im ersten Abschnitt ihrer Arbeit liefert Eglinger eine fulminante Einführung in die Thematik, indem sie die Geschichte des Körperdenkens seit dem 17. Jahrhundert von dem Hintergrund des grundlegenden Problems rekapituliert, den Körper in der binären Struktur dieser Gegensatzpaare zu verordnen (Kapitel 1.1.). Dabei zeigt sie, dass auch die unterschiedlichen Versuche, diese Gegensätze zu überwinden und den Körper als Figur komplexer Wechselwirkungen zwischen Subjekt und Objekt, Leib und Körper zu begreifen, mit immer neuen Grenzziehungen laborieren. Auch Bemühungen, den Körper als das zu repräsentieren, was sich den sprachlichen Differenzsetzungen entzieht, münden – indem sie eine sprachliche Grenze definieren – immer wieder in Aporien und Paradoxien. Das Bild der doppelseitigen Haut, die sich als Grenzlinie nicht auf einer Seite der Differenz verorten lässt, entpuppt sich auf diese Weise als Metonymie für den Körper selbst. Es dient in dieser Hinsicht als Illustration für die unbeständigen Differenzen, die das Denken über den Körper prägen und die dazu geführt haben, dass die fundamentale Grenze zwischen Innen und Außen ständig remarkiert und neu verhandelt wird. Über den Körper ziehen sich ganze Palimpseste von sprachlichen Differenzmarkierungen.

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Trotz dieses weiten historischen Abrisses über die Philosophiegeschichte des Körperdenkens gelingt es Eglinger zielgerichtet auf die theoretische Fragestellung ihrer eigenen Arbeit zuzusteuern, die sie ausgehend von dem komplexen Verhältnis zwischen Körper, Sprache und Schrift entwickelt (Kapitel 1.2.). Dabei grenzt sie sich von diskursanalytischen Abhandlungen ab, in denen bisweilen der Eindruck entsteht, dass der Körper ein reines Produkt sprachlicher und medialer Regulierungen darstellt. Ohne hinter die entsprechenden sprachreflektierten Einsichten zurückzufallen, versucht sie den Körper als Feld der komplexen Wechselwirkungen zwischen einer grundlegenden körperlichen Widerständigkeit und Alterität (Vitalfunktionen, Zellinformationen, Wunde, Tod etc.) sowie den diskursiven Rahmungen zu verstehen, die den Körper performativ hervorbringen (Kapitel 1.3.).

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Neukartierung der Haut – Mnemo-Somatik und Körperpoetik

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»Der Nominativ ist das Unzeichen des Abziehbildes, welches die Sprache mit dem Druck ihres Körpers auf der papierenen Haut des Menschen hervorruft« 1 – Dieses Zitat aus Dieter Roths Mundunculum (1967) bietet eine schöne Illustration für die chiastischen Figuren, über die auch Eglinger das Verhältnis zwischen Körper und Sprache, Sprachkörpern und beschriebenen Körpern zu definieren versucht. Dabei versteht sie die entsprechenden Reflexionen wohlgemerkt nicht als Lösung eines philosophischen Grundlagenproblems, sondern nutzt sie ausschließlich, um eine konkrete Interpretationsgrundlage für die folgenden Lektüren zu erarbeiten. Den entscheidenden Übergang von den körperphilosophischen Spekulationen zur Körperpoetik bildet die Reflexion über die Gedächtnismetaphorik des Körpers (Kapitel 1.4.), die auch in Roths Bild des sich auf die Haut einprägenden Sprachkörpers mitschwingt.

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Immer wieder ist das Gedächtnis des Körpers mit Metaphern beschrieben worden, die aus dem Feld des Schreibens stammen. Dies gilt zunächst für den Versuch, die Funktionsweise des Gedächtnisses mit dem Schreiben auf Wachstäfelchen, Siegeln, Wunderblöcken oder anderen Datenverarbeitungsgeräten zu vergleichen. Gerade Freuds Konzeption des Wunderblocks eröffnet darüber hinaus ein komplexes Denken des Körpers, der sich zwar immer erst nachträglich über Spuren vielfältiger Überschreibungsprozesse konstituiert, der die Dynamik dieser Überschreibungsprozesse selbst aber immer schon von innen her mitreguliert.

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Als Schlüsselbegriff ihrer Argumentation verwendet Eglinger den Begriff des Palimpsestes, der sich nicht nur konkret auf die historische Überlagerung von Schriftspuren auf der Haut des Pergaments beziehen lässt, sondern auch auf das historisch gewachsene Palimpsest von Textspuren, das fortlaufend zur Konstitution des Körpers beiträgt. Schließlich deutet der Begriff auf die Funktionsweise des Gedächtnisses selbst hin, für die die Metapher des Wunderblocks steht. Vor allem aber nutzt Eglinger den Begriff, um die poetologische Relevanz der Körperthematik zu entfalten (Kap. 1.5.).

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Texte, die das komplexe Verhältnis zwischen Körper, Sprache und Schrift thematisieren, operieren zwangsläufig vor dem Hintergrund des weiten intertextuellen Text-Gedächtnisses, das Eglinger in den einleitenden Kapiteln zu entfalten versucht. Darüber hinaus lassen sie sich automatisch auf eine Reflexion gedächtnistheoretischer Fragen ein, welche nicht zuletzt die Funktionsweise der Texte selbst betreffen. Die Beschäftigung mit der Relation zwischen Körper, Gedächtnis und Palimpsest ist somit nahezu zwangsläufig mit der poetologischen Grundlagenfrage nach »Wesenhaftigkeit und Möglichkeiten der Schrift selbst« (S. 41) verknüpft.

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Wie eingangs erwähnt, nutzt Eglinger die methodische Fokussierung auf das Verhältnis von Körper, Schrift und Gedächtnis aus, um ihre Textauswahl einzuschränken. Dabei lässt der gewählte mnemo-somatische Blickwinkel erfreulicherweise eine ganze Bandbreite von methodischen Zugängen offen, die von den Begriffen des Traumas und des Symptoms in der klassischen Psychoanalyse über text- und schrifttheoretische bis hin zu rhetorischen Fragestellungen reichen.

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In drei Kapiteln, die je zwei Texte behandeln, beleuchtet Eglinger die entsprechenden körperpoetischen Konzepte an den drei grundlegenden Figuren von somatischer Verdrängung, Einschreibung und Innervation. Behandelt werden dänische, isländische, norwegische und schwedische Texte aus dem Zeitraum zwischen 1987 und 2004.

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Pygmalion in den 1990ern – Symptomale Schreibweisen

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Zunächst greift Eglinger auf zwei Romane aus den 1990er Jahren zurück, die im Rückgriff auf das klassische Pygmalion-Motiv über Fragen des Leib-Seele-Dualismus reflektieren. Dabei werden die wesentlichen Macht- und Genderkonstellationen, welche die Texte verhandeln, schon durch den grundlegenden intertextuellen Bezug zu den entsprechenden antiken Quellen vorgegeben. Das Pygmalion-Motiv wird in beiden Texten vor allem durch das Insistieren auf eine andere Form der Körperlichkeit erweitert, die das imaginäre, geschlossene Körperbild der Statue im Interesse für die offene, pulsierende Welt der Abjekte sprengt. Das Interesse für diese verdrängte Form von Körperlichkeit äußert sich bezeichnenderweise nur in den Symptomen, die in den absurden und grotesken Aktionen der Protagonisten zum Ausdruck kommen.

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Vigdís Grímsdóttirs Stúlkan í skóginum (1992; Das Mädchen im Wald) bietet eine besonders drastische Umsetzung dieser Thematik (Kap. 2.1.). Denn die eine Protagonistin des Textes wird den Körper der anderen buchstäblich als Puppe in Anspruch nehmen und von innen her besetzen. Mit ausführlichen Beschreibungen ekeliger korporaler Substanzen nutzt der Text diesen verwirrenden Körperwechsel nicht nur motivisch, sondern auch narratologisch aus. Da die eine Erzählinstanz nachträglich (oder vorweggenommen) durch die Stimme der anderen spricht, kollabieren die unterschiedlichen Erzählstimmen im Verlauf des Textes, der am Ende weder einer kohärenten Erzähl- noch einer Autorinstanz zugeordnet werden kann.

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Dieses Spiel mit den Erzählinstanzen verdeutlicht ein Eigenleben des Text-Korpus, das mit der Thematisierung der körperlichen Abjekte auf inhaltlicher Ebene korrespondiert. Auf der einen Seite lässt der Text den aneignenden Zugriff auf diese außersprachliche Körperlichkeit an der Prozessualität der Sprache scheitern, auf der anderen Seite nähert sich die Sprache auf diese Weise selbst der verdrängten Prozessualität des Körpers an.

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Auch Bodil Malmstens Nästa som rör mig (1996; Der Nächste, der mich berührt) behandelt das Verhältnis von Sprache und Körper anhand einer Machtkonstellation, die um die Beherrschung fremder Körper kreist (Kap. 2.2.). Dieses Mal begnügt sich der Text jedoch mit dem klassischen Motiv eines Models, deren Körper von dem männlichen Blick eines Fotografen strukturiert und seziert wird. Diese Machtkonstellation, die an den klassischen Mythos erinnert, wird im Verlauf des Textes invertiert. Dem symbolischen Mord durch den Fotografen folgt die reale Ermordung des Fotografen durch das innerlich versteinerte Model. Dabei wird der Mord mit einem traumatischen Kindheitserlebnis der Protagonistin in Zusammenhang gebracht, wodurch die körpertheoretische Thematik eine weitere gedächtnistheoretische Wendung erfährt. Der Körper erscheint dabei als Chiffre für das, was sich nicht aneignend aufheben lässt, aber was gleichzeitig zur fortlaufenden Gedächtnisarbeit zwingt.

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Moderne Kainszeichen – Zur Poetik der Tätowierung

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Wenn man sich mit der mit dem Begriff Palimpsest umrissenen Themenkonstellation von Körper, Schrift und Gedächtnis auseinandersetzt, dann fühlt man sich unmittelbar an Peter Greenaways 1996 vollendetes Filmepos The Pillow Book erinnert, in dem die Motive des beschriebenen Körpers mit den heterogenen Themenkomplexen von literarischem Gedächtnis, Begehren und Tod enggeführt werden. Angesichts der gewählten Perspektive überrascht es nicht, dass auch Eglinger das Thema der Körperschrift ins Zentrum ihrer Arbeit stellt. Dabei entdeckt sie zwei literarische Texte, die das heutige Modethema der Tätowierung schon in den 1980er Jahren aufgreifen und für eine eingehende Reflexion der Körper-Gedächtnis-Relation verwenden.

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Wie Vigdís Grímsdóttir und Bodil Malmsten greift auch Gene Dalby in seiner Kurzerzählung bzw. seinem Prosagedicht Tatoveringen (1987; Die Tätowierung) auf eine bizarr anmutende Handlungsfolge zurück, um ein abstraktes Körperkonzept zu diskutieren (Kap. 3.1.). Zwei Kontrahenten versuchen sich in einem absurden Wettstreit mit dem Aufweisen von Zahlen zu überbieten, die sie in Form von aufgenähten Kleidergrößen, Bustickets, Münzprägungen etc. bei sich tragen. Wer keine Zahl mehr aufweisen kann, verliert. Der Triumph des Gewinners schlägt am Ende des Textes in eine symbolische Niederlage um, als er entdeckt, dass sein Gegner ihm eine Zahlenfolge verheimlicht hat, mit der er den Sieg hätte erringen können. Es handelt sich um eine sechsstellige Zahl, die in den Unterarm seines Gegenübers tätowiert ist.

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Schon das Spiel mit den Zahlen, die als die am weitesten vom Körper entfernten, abstrakten Zeichen interpretiert werden können, verdeutlicht, inwieweit Dalbys Text als Parabel über das Verhältnis von Zeichen und Körpern gedeutet werden kann. Der Hinweis auf die KZ-Tätowierung, die als traumatische Einschreibung verdrängt wird, verdeutlicht einen »Eigen-Sinn des Körpers«, der sich dem semiotischen System per se entzieht (sobald das Körperzeichen gelesen wird, wird es in seiner Körperlichkeit negiert), der sich diesem aber gleichzeitig – etwa in Form einer körperlichen Rhetorik – wieder einschreibt.

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In Kirsten Thorups Hörspiel Længslen efter Tatovørens nål (1989; Die Sehnsucht nach der Nadel des Tätowierers) wird das Thema der Tätowierung aus einem etwas anderen Blickwinkel verhandelt, der wieder an die Thematik der Gender- und Machtkonstellationen anknüpft, die Eglinger im zweiten Abschnitt ihrer Arbeit diskutiert (Kap. 3.2.). Zu hören sind die Dialoge zwischen der Prostituierten Lili und dem Tätowierer John, sowie zwischen John und einem ehemaligen Liebhaber Lilis, dem sogenannten »Reichen Mann«.

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Die Figurenkonstellation könnte vermuten lassen, dass der im Rotlichtmilieu spielende Text eine schlichte Sozialkritik transportiert. Dagegen zeigt Eglinger, dass im Titel und durch die Akustik des Hörspiels bewusst auf den Akt des Tätowierens hingewiesen wird. Auch dieser Text handle von dem Spannungsverhältnis zwischen Körper und Zeichen, das in diesem Fall sehr konkret mit einer Gedächtnisproblematik verknüpft werde. Denn Lili versucht mit den Tattoos, die jedes für sich eine ihrer Liebesaffären symbolisieren sollen, die Erinnerung an eben diese Affären zu löschen. Die buchstäbliche Umsetzung der Vorstellung eines sich in den Körper einbrennenden Gedächtnisses dient in diesem Fall also merkwürdiger Weise dem Vergessen. Allerdings werden auch in diesem Fall die Grenzen des Vergessens thematisiert, denn der Tätowierer wird von dem Reichen bestochen und graviert ausgerechnet das Bild dessen in den Körper der Prostituierten ein, vor dessen Zugriff sie sich durch den Akt des Tätowierens selbst zu entziehen suchte.

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Somatische Innervationen – Mnemotechniken
des Körpers

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Die Begriffe der somatischen Innervation bezeichnet bei Freud nicht nur die Übertragung von Affekten auf Organe, sondern auch die buchstäbliche Übertragung von rhetorischen Redewendungen auf den Körper (Patienten, die buchstäblich ›nicht mehr von der Stelle‹ kommen). In diesem Sinne bietet der Begriff der Innervation, der sich sowohl in Freuds Konzeption der Trauerarbeit als Verdauungsprozess wie in seinen Überlegungen zu Hysterie und Schizophrenie niederschlägt, ein paradigmatisches Beispiel für die komplexen Wechselwirkungen zwischen Körper und Sprache. Denn während sich die entsprechenden metaphorischen Wendungen unbewusst auf ein körperliches Erleben abstützen, schlagen sie sich selbst ebenfalls unbewusst wieder in körperlichen Handlungen nieder. Im letzten Kapitel ihrer Arbeit untersucht Eglinger zwei Texte, die, indem sie sich selbst in eine palimpsestuöse Erinnerungsarbeit verstricken, genau diesen Wechselwirkungen nachgehen.

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Der Eigenname Minna verweist im Schwedischen direkt auf das Wortfeld ›Gedächtnis‹ (schwed. »minnas«, »minne«). Wenn in einem Roman gleich zwei Protagonisten – eine Katze und eine Frau – dieses Namens versterben, dann kann man davon ausgehen, dass er sich auf eine theoretische Reflexion der Problematik von Gedächtnis und Trauerarbeit einlässt.

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In Torgny Lindgrens Hummelhonung (1995; Hummelhonig) wird diese Reflexion sehr konkret mit einer Reflexion des körperlichen Gedächtnisses verknüpft (Kap. 4.1.). Denn die beiden gegensätzlichen Brüder, die um Minna trauern, verkörpern buchstäblich zwei unterschiedliche Prinzipien der Trauerarbeit. Während der eine die Trauer in sich hineinfrisst und an Fettleibigkeit leidet, wird der andere vom Kummer zerfressen und von einem Krebsleiden innerlich verzehrt. In ihrer Lektüre zeigt Eglinger sehr schön auf, wie diese Behandlung des körperlichen Gedächtnisses auf inhaltlicher Ebene, mit der Inszenierung einer Gedächtnisarbeit auf diskursiver Ebene korrespondiert. Denn der Text stellt in erster Linie die Bemühungen einer Schriftstellerin dar, die das Geschehen um den Tod Minnas aus den fragmentarischen und schwerverständlichen Äußerungen der Brüder zu rekonstruieren versucht.

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Per Olov Enquists Roman Boken om Blanche och Marie (2004; Das Buch von Blanche und Marie) entwickelt ein durchaus vergleichbares Verfahren, das allerdings weitaus raffinierter wirkt als der Text Lindgrens (Kap. 4.2.). Wie auch in anderen Büchern Enquists wird der Leser lediglich mit einer ungeordneten Menge fragmentarischer Aufzeichnungen konfrontiert, die es ihm erlauben, ein vergangenes Geschehen aus unterschiedlichen Perspektiven zu rekonstruieren. Die Poetik der Verstümmelung, die in der Aneinanderreihung dieser durch einen distanzierten Erzähler kommentierten Textfragmente zum Ausdruck kommt, korrespondiert mit der Thematisierung der Körpermetaphorik in den Texten selbst.

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Dabei erscheint es keineswegs zufällig, dass sich weite Teile der Handlung in Charcots Salpětrière ausspielen. Blanches Hysterie findet ihren Ausdruck letztendlich in einer verhängnisvollen Innervation, in der sich die sezierende medizinische Betrachtung ihres Körpers in dessen buchstäblicher Fragmentierung niederschlagen wird. Das Thema der Gedächtnisarbeit wird also inhaltlich, strukturell und metaphorisch mit den körperlichen Phänomenen von Amputation und Fragmentierung verknüpft. Dabei mündet Enquists reflektierte metaphorische Reflexion schließlich in die spannende Frage nach dem Status der Phantomerinnerung, welche die Leser in ihrer Wut des Verstehens aus dem präsentierten Textmaterial zu rekonstruieren versuchen und mit deren Hilfe sie die disparaten Teile des Textkorpus metaphorisch zu einer Ganzheit verdichten.

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Körperpoetik und Gegenwartsliteratur – Ein Fazit

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Die Paraphrase der Lektüren sollte noch einmal verdeutlichen, dass der enge Fokus auf den Begriff des Palimpsestes, mit dem die Autorin den Zusammenhang zwischen Körperpoetik und Gedächtnistheorie zu umreißen versucht, keineswegs zu monotonen Lektüren der behandelten Texte führt. Ganz im Gegenteil gelingt es Hanna Eglinger auf ein ganzes Spektrum von Reflexionen aufmerksam zu machen, mit denen skandinavische AutorInnen ihre unterschiedlichen Körperpoetologien zu begründen versuchen.

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Auch wenn die Themen des Körpers und der Körperpoetologie inzwischen Eingang in die Skandinavistik gefunden haben, 2 liefert Eglinger mit ihrer Arbeit einen wichtigen methodischen Impuls für weitere ähnliche Studien im Fach. Insbesondere ihr Versuch, das Konzept der Körperpoetik über die enge Relation der Körper- und Gedächtnisthematik zu fassen und mit dem Begriff des Palimpsestes texttheoretisch zu konkretisieren, wirkt – nicht zuletzt aufgrund der eingehenden Diskussion der entsprechenden theoretischen Studien aus der Philosophie und Germanistik – überzeugend und würde es in jedem Fall verdienen, auch über die Grenzen des Faches wahrgenommen zu werden.

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Zum Teil fallen die Textlektüren hinter die theoretischen Ambitionen des Einleitungsteils zurück. Dies liegt allerdings weniger an den analytischen und interpretatorischen Fähigkeiten Eglingers als an den behandelten Texten selbst, welche den ausgeklügelten theoretischen Konzepten der Interpretin nicht immer gerecht werden. Bisweilen fragt man sich, ob die Autorin sich nicht noch kritischer von den Banalitäten der behandelten Texte hätte distanzieren können, die etwa die ausgelaugte Figurenkonstellation von Model und Fotograf, das überstrapazierte Motiv der KZ-Tätowierung oder allzu symbolträchtige Eigennamen wie »Minna« bedienen, um ihre Körperpoetiken zu entfalten.

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Dies mag natürlich ein unberechtigter Vorwurf an eine wissenschaftliche Abhandlung sein, die bewusst keine Literaturkritik betreibt. Dennoch sei die Frage erlaubt, ob das theoretische Potenzial der Einleitung bei einer anderen – vielleicht sogar historisch etwas vertiefenden – Textauswahl nicht noch besser hätte zur Geltung kommen können. 3 So wäre es durchaus interessant gewesen, die Frage zu untersuchen, wie sich die zum Teil zahm anmutenden Körperpoetiken der 1990er Jahre zu den doch bei weitem unkorrekteren und verstörenderen Körperpoetiken der 1960er und 1970er Jahre verhalten (zu denken wäre zum Beispiel an Lars Noréns 1968 erschienenen Tätowierungsroman Salomé, Sfinxerna. Roman om en tatuerad flicka).

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All dies sind aber nur kleine Kritikpunkte, die schlicht aus dem Bedürfnis resultieren mögen, noch mehr über die von Eglinger aufgedeckte thematische Konstellation von Gedächtnis, Leib- und Sprachprozessen zu erfahren.

 
 

Anmerkungen

Dieter Roth: Mundunculum. Ein tentatives Logico-Poeticum. Köln 1967. S. 210.   zurück
Vgl. vor allem die grundlegende Abhandlung von Unni Langås: Kroppens betydning i norsk litteratur 1800–1900. Bergen: Fagbokforlaget 2004.   zurück
Zu denken wäre etwa an Jon Fosses Roman Melancholia (1995/96) oder Solvej Balles Ifølge loven (1993), dem Eglinger allerdings schon in einem anderen Kontext eine sehr überzeugende Lektüre gewidmet hat.   zurück