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Ausgangspunkt
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Die 2006 an der Universität Hamburg vorgelegte Dissertation von Maike Claußnitzer setzt sich mit dem Redentiner Osterspiel
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als einem für Lübeck geplanten Aufführungstext auseinander.
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Die Forschung orientiert sich seit der überzeugenden Argumentation Hellmut Rosenfelds
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hinsichtlich der Lokalisierung vor allem auf Lübeck. Im Vordergrund steht dabei die textinterne Äußerung des Teufels, es lohne sich, auf Seelenfang nach Lübeck zu gehen, denn dort werde es bald ein großes Sterben geben (ReO 1296 ff.).
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Bereits in zwei früheren Publikationen hat die Autorin, jeweils in Zusammenarbeit mit Hartmut Freytag und Susanne Warda, ausgearbeitet, dass Ostern 1464 für genanntes Spiel die Aufführungszeit und St. Marien in Lübeck der Aufführungsort hätten sein können.
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Noch genauer möchten die Autoren sich bei der Lokalisierung festlegen, indem sie die Totentanzkapelle der Bürger- und Marktkirche als passende Entourage für die Aufführung sehen, wobei sie den dortigen Totentanzfries vom Jahre 1463 als Voraussetzung für den Text und als Kulisse für das Spiel annehmen.
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Diese Annahmen eröffnen im Hinblick auf das Redentiner Osterspiel für Claußnitzer »[…] die Möglichkeit zu neuen interpretatorischen Ansätzen« (S. 11), die sie mit der hier besprochenen Studie ausloten möchte.
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Vorgehen
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Die Autorin betont, dass das Studium eines Schauspiels aus dem Mittelalter, erst recht das Studium des Redentiner Osterspiels, nicht anders als interdisziplinär angegangen werden könne.
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Durch die als gegeben angenommenen örtlichen und zeitlichen Vorgaben seien etwa die »besondere historische Situation aufzuzeigen« (S. 11), mache »die Analyse der im Osterspiel evozierten Bildvorstellungen den Rückgriff auf kunsthistorische Betrachtungen notwendig« (S. 12) und spiele schließlich »für die Untersuchung der heilsgeschichtlichen Bezüge auch Theologisches eine Rolle« (S. 12).
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Claußnitzer behandelt in Folge:
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• die städtische Situation Lübecks zur Entstehungszeit;
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• den Szenenbestand des Redentiner Osterspiels;
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• die heilsgeschichtliche Ausrichtung des Textes;
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• die Anspielungen auf realhistorische Örtlichkeiten, Personen und Begebenheiten;
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• die Interaktion zwischen dem Redentiner Osterspiel und dem Lübecker Totentanz von 1463;
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• die Interpretation der einzelnen Spielabschnitte;
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• die Rezeption des Spieltextes im Lübecker Buchtotentanz von 1489.
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Gegliedert ist die Untersuchung in insgesamt 10 Kapitel mit zahlreichen Unterkapiteln. Für den Leser ist diese extreme Auffächerung nicht unbedingt notwendig, sind doch die Kapitel alle überschaubar lang und die jeweiligen Überschriften ausreichend deutlich.
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Die exorbitante Unterteilung führt sogar eher in die Irre, denn durch sie verliert sich zum einen der Gesamtüberblick. Zum andern scheint auch die Autorin mit ihr nicht recht klar zu kommen, denn in ihren, ebenfalls sehr zahlreichen, Querverweisen finden sich fast ebenso zahlreiche Fehler.
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Wie bei den Subkapiteln kann man sich fragen, ob Querverweise überhaupt unabdingbar gewesen wären,
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zumal einige Register (Bibelstellen; Verse des Redentiner Osterspiels; Orte, Personen und Sachen) den Text bei Bedarf punktgenau erschließen könnten. Der Autorin wäre viel Arbeit, dem Leser viel Irritation erspart geblieben.
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Pest
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Sowohl der Lübecker Totentanz von 1463 als auch das Redentiner Osterspiel werden mit der großen europäischen Pestwelle in Verbindung gebracht, die Anfang der sechziger Jahre des 15. Jahrhunderts von Süden her auch Lübeck erreichte, und zwar Pfingsten 1464 (S. 30). Lübeck hatte zu dieser Zeit wohl »23.000–25.000 Einwohner« und war »nach […] Köln eine der größten deutschen Städte« (S. 17), also bei Seuchen entsprechend gefährdet.
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Claußnitzer bringt nun, in Fortsetzung ihrer früheren Arbeiten zu dem Thema,
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die Entstehung des Spieltextes mit der Furcht vor dem großen Sterben zusammen. Die Auftraggeber, die Claußnitzer in den Kreisen des Lübecker Rats sucht (S. 19), hätten ein dreifaches Interesse daran, ein Spiel aufführen zu lassen:
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1. mit der kapitalkräftigen Stiftung desselben leisteten sie angesichts des herannahenden Unheils ein Gott gefälliges Werk;
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2. das Spiel sei durch seine Erlösungsfreude ein geistlicher Trost;
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3. die Aufführung wirke in Zeiten sozialer Unruhe stabilisierend (S. 19).
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Vor allem der letztgenannte Grund setzt die bedingungslose Annahme, das Spiel sei aufgeführt worden, voraus.
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Aufführungstext – Lesetext
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Mit keiner einzigen Silbe ist allerdings in irgendeiner Quelle die Aufführung des Redentiner Osterspiels belegt, weder in Lübeck noch in Redentin.
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Der Name des Spieltextes ist von dem am Schluss der Aufzeichnung genannten Ort Redentin hergeleitet. Der Schreiber vermerkt, dass er hier am Tage nach St. Elisabeth, also am 20. November des Jahres 1464, den Text beendet habe.
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Einstimmig geht die Forschung davon aus, dass der überlieferte Text nicht bei einer Aufführung benutzt wurde.
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Trotz fehlender Belege einer Aufführung geht die Forschung seltsamerweise nahezu genauso einstimmig davon aus, dass der Abschrift eine Aufführung vorangegangen sei.
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Deshalb wird die Abschrift immer als Aufführungstext ausgelegt. Davon zeugt zuletzt die von Claußnitzer vorgelegte Studie. Hier liest man nicht nur in Kapitel II.2.2. (S. 20 – S. 33) im Rahmen der Erörterungen über die Lübecker Spieltradition von den zahlreichen Gewährsleuten dieser Überzeugung, sondern die ganzen hier vorgelegten Interpretationen stützen sich ausschließlich auch auf diese Annahme und konzentrieren sich auf die Spielaufführung. Das befremdet, denn beispielsweise kommt zuletzt Ute Obhof bei ihrer kodikologischen Beschreibung zu dem Schluss: »Nach Art der Anlage handelt es sich um die Abschrift eines Aufführungstextes aus einem archivarisch bewahrenden Interesse und zur Lektüre.«
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Dass diese letztgenannte Zweckbestimmung in der Interpretation Beachtung findet, bleibt leider nach Claußnitzers Monographie nach wie vor ein Desiderat, auch wenn sie meint, dass der Spieltext »für eine Lektüre auch nach dem Vorübergehen des Pestjahrs 1464 und möglicherweise anderswo als in Lübeck attraktiv« wäre, weil er trotz aller Ortsbezogenheit doch auch allgemein gültig bliebe (s. 127).
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Kontexte: Topographien
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Es ist das dezidierte Ansinnen der Autorin, das Spiel und seine Wirkung besser zu verstehen, indem das Lübecker Umfeld der angenommenen Aufführung mit einbezogen wird. Dazu befragt Claußnitzer zum einen den überlieferten Text nach seinen Realia (Kapitel VI), zum andern bringt sie ihn mit dem Lübecker Totentanz von 1463 zusammen (Kapitel VII).
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Vor allem durch die Nennung von Orten, die zum direkten Entstehungsumfeld gehören – und nicht, wie das häufiger vorkommt, durch solche, die bloß eine heilsgeschichtliche Bedeutung oder aber eine geographische Ausdehnung oder die Gelehrtheit des Autors illustrieren sollten –, wurde das Redentiner Osterspiel immer schon gerne auf seinen Gegenwartsbezug hin untersucht.
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Claußnitzer vergleicht – mit ganz knapper Angabe von Auswahlkriterien – einige Osterspiele und kommt zu dem Schluss, dass »gewöhnlich in Osterspielen die Auswahl an Ortsnamen innerhalb gewisser Grenzen eine relative Beliebigkeit aufweist« und dass daher ihre »Relevanz für Inhalt und Handlung« gering bliebe (S. 107). Dagegen regionalisiere das Verfahren, textnahe Ortsnamen wie Lübeck, Møn, Hiddensee und Poel mit in den Text einzuflechten, das Spiel regelrecht, was zu den beliebten didaktischen Verfahren zähle, beziehe es doch den Rezipienten sofort als zugehörig zum Heilsgeschehen mit ein (S. 112). Darüber hinaus sieht die Autorin darin noch »eine Form von Repräsentationsstreben« (S. 113) des Rates und betont, dass die »Kombination von Selbstbewusstsein und christlicher humilitas« (S. 113) lediglich heute befremdlich sei.
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Man kann sich fragen, ob die von der Autorin vermuteten Effekte der Regionalisierung sich nicht auch zum Teil einstellen, wenn Ortsnamen genannt werden, die nicht im direkten Umfeld des Rezipienten liegen. Die heilsgeschichtliche Bedeutung ist für einen erbaulichen Text i m m e r für Inhalt und Handlung relevant und bezieht den gläubigen Benutzer alleine schon d u r c h diese heilsgeschichtliche Bedeutung mit in das Geschehen ein: Jerusalem ist überall.
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Auch bei einer angeblich beliebigen Reihung von geographischen Namen ist der Repräsentationseffekt nicht unerheblich, denn häufig wird die Macht eines Herrschers, das Wissen eines Gelehrten versinnbildlicht, indem viele geographische Namen die Weite seines Reiches, das Umfassende seiner Gelehrtheit angeben.
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Es wäre vielleicht ein lohnenswerter Ansatz, bei der im Redentiner Osterspiel beobachteten Regionalisierung einmal den Blickwinkel umzukehren und die Frage zu stellen, für wen der Text eigentlich geschrieben wurde. Sollte es vielleicht angesichts der herannahenden Pest ein Gott gefälliges Werk werden? Sollte womöglich die so deutlich prononcierte eigene Örtlichkeit weniger einen Lehreffekt haben als vielmehr eine Widmung sein? Wird der Ort Gott zugeeignet? Die Idee der christlichen humilitas stünde bei einer solchen Lesart jedenfalls gänzlich außer Frage.
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Kontexte: Turmwächter
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Der Turmwächter ist in der Osterspieltradition ebenfalls eine Einzigartigkeit des Redentiner Osterspiels. Er hat handlungsintern die Aufgabe, die vier Grabwächter, die die Auferstehung Christi verhindern sollten, zu wecken, falls ihm irgendetwas Ungewöhnliches auffalle. Ein Versprechen, das er auch hält, denn er versucht die Ritter wach zu machen, als er ein Schiff mit zwei sonderbaren Gestalten zwischen Hiddensee und Møn sichtet (ReO 205 – 210). Ein zweiter Weckversuch unterstreicht noch das Ungewöhnliche der Gestalten, denn nun würden, wie der Turmwächter sagt, die Hunde jaulen und bellen, obwohl es Mitternacht sei (ReO 215 – 220). Zwar lassen sich die Wächter durch die Warnungen nicht in ihrem Schlaf stören, doch immerhin ist einer von ihnen so unruhig, dass ihm die Luft wegbleibt (ReO 121 – 228). Danach erfolgen die Auferstehung Christi sowie die Befreiung der Seelen aus der Hölle. Nun ist wieder der Turmwächter an der Reihe, der endgültig den Tag ankündigt (ReO 755 – 771).
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Ausführlich geht Claußnitzer auf dieses faszinierende Spezifikum ein, denn zum einen ist die Regionalisierung nicht zuletzt durch den die Ostseeinseln erwähnenden Spruch des Turmwächters bewirkt. Zum andern nimmt dessen Amt in Lübeck eine hervorgehobene Position ein, so dass »nicht zuletzt der Turmwächter selbst […] eine stadtbekannte Gestalt« gewesen sei (S. 118).
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In übertragenem Sinn könnte er sogar als Türmer der Marienkirche »zu einem Wächter Jerusalems« werden» (S. 95). In ihren Ausführungen über die „Übergänge zwischen irdischer und jenseitiger Wirklichkeit« (Kapitel V) spielt daher diese Figur eine wichtige Rolle. Umsichtig argumentierend kommt Claußnitzer zu dem Schluss, dass der Türmer als »Mittler zwischen Irdischem und Göttlichem« zu sehen sei (S.103), der zur »geistlichen Wachsamkeit« aufrufe und »Lübeck zum Ort der Auferstehung« mache (S- 104).
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Kontexte: Berufe
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Knapp die Hälfte des Redentiner Osterspiels besteht aus der Seelenfanghandlung: Die durch Jesu Befreiung der Seelen geleerte Hölle soll wieder bevölkert werden, weshalb Luzifer seine Unterteufel in die Welt, insbesondere nach Lübeck schickt, um dort neue Seelen für sein Reich zu gewinnen.
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Claußnitzer beobachtet, dass es sich namentlich um Vertreter von Berufsgruppen handelt, die durchweg der Unter- und Mittelschicht der Lübecker Gesellschaft angehören (S. 120); die Oberschicht dagegen werde ausgelassen (S. 117). Als Erklärung hierfür sieht die Autorin das Ansinnen der Stadtoberen, durch die Aufführung des Spiels die soziale Stabilisierung der städtischen Gemeinschaft in den unruhigen Pestzeiten zu fördern und die bestehende Ordnung zu bestätigen (S. 129).
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Sollte der Text tatsächlich in dem angenommenen Kontext in ein Spiel umgesetzt worden sein, dürfte das ein nicht zu vernachlässigendes Neben-, womöglich gar das Hauptansinnen der Veranstaltung gewesen sein.
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Die Vergehen der Sünder, durch die sie in die Fänge der Teufel geraten, sind eher dem alltäglichen Bereich zuzuordnen. Die Autorin sieht darin den Geist der Predigten des Franziskaners Bertold von Regensburg vergegenwärtigt, was die Vermutung nährt, der Autor des Redentiner Osterspiels sei ein Franziskaner gewesen (S. 128). Diese Vermutung werde noch dadurch erhärtet, dass der Rat in enger Verbindung mit den Franziskanern des Katharinenklosters gestanden habe (S. 20; S. 128; S. 160).
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Kontexte: Redensarten
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Der Hauptteil der Dissertation findet sich wohl im VIII. Kapitel: »Das Redentiner Osterspiel Szene für Szene« (S. 161 – S. 206).
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Hier geht die Autorin, bald mehr, bald weniger ausführlich, auf jeden einzelnen Abschnitt des Spiels ein. Sie verwendet dabei den von ihr vorgestellten Gliederungsvorschlag (S. 42), der den Text in kleinere Einheiten teilt, als das etwa in der Ausgabe von Schottmann
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der Fall ist. Der erste Teil umfasst das eigentliche Auferstehungsspiel, das allerdings ohne Krämerszene und Besuch der Marien am Grab auch ganz eigenwillig ist. Der Seelenfang durch die Unterteufel Luzifers bildet den zweiten Teil. Während das Auferstehungsspiel durch seine vielen Gesänge (S. 43, Anm. 155) in stärkerem Maße der Liturgie verpflichtet ist, spielt im Seelenfang das Hier und Jetzt eine viel deutlichere Rolle.
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Im Gespräch der Teufel, das diese führen, nachdem durch die Befreiung der Seelen die Hölle leer zurückgeblieben ist, berühren sich die beiden Teile am stärksten. Treffend stellt die Autorin fest, dass die Teufel zu Recht verdutzt sind, denn die Menschheit wäre bis zum Opfertod Christi ja nicht erlösungsfähig gewesen, weshalb »bis zur Auferstehung ohnehin jeder verstorbene Mensch der Hölle verfallen« war (S. 195).
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Aus diesem Bereich stammt der Abschnitt, auf den hier näher eingegangen werden soll, denn in seiner Scheltrede an den Höllenfürsten benutzt der Unterteufel Puk einige Sprichwörter, die Claußnitzer als Zeugnisse eines zeitgenössischen Alltags sieht und im Hinblick auf das Spiel interpretiert (S. 186 f.). So meint sie, dass sich im Sprichwort de elrene here bedwynget den ekenen knecht (ReO 656) [der Herr aus Erlenholz bezwingt den Knecht aus Eichenholz] das Bild des erlenhölzernen Herrn auf Christus beziehe, während der eichenhölzerne Knecht wohl für den durch die Erlösung bezwungenen Luzifer stehe. Das weichere Erlenholz versinnbildliche Christi Duldsamkeit im Leiden, während das Bild des Eichenholzes für Luzifers Prahlerei stehe.
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Diese Interpretation trägt nicht in ganzem Umfang den übertragenen Bedeutungen der im Sprichwort benutzten Holzarten Rechnung: Die Erle gilt »vielfach als unheimlicher, ja als böser Baum […] die Erle ist ein Baum des Teufels«
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. Wohl daher wurde mitunter davon ausgegangen, dass »das Kreuz Christi aus Erlenholz gewesen«
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sei. Die Eiche dagegen wurde immer mit guten Eigenschaften wie stark, unbeugsam etc. belegt.
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In der Verlängerung dieser letzten Denkweise wäre wohl auch eine andere Lesart möglich.
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Verkehrung
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Aus dem Blickwinkel des Unterteufels Puk ist Luzifer der Herr, der sich jedoch als Schwächling zeigt, weil er nicht hat verhindern können, dass die Teufel Tutevillus und Satan angesichts der leeren Hölle falsch handelten.
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Puk moniert also den schwachen Führungsstil seines Herrn in dieser Krisensituation. Dennoch, so bestätigt das Sprichwort, das er hier benutzt, bezwinge sein Herr den Knecht.
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Die heilsgeschichtliche Perspektive weiß um das Irrtümliche dieser Sichtweise; deshalb ist hier das Bild, welches durch das Sprichwort aus dem Mund des Teufels hervorgerufen wird, nur in seiner Verkehrung zu verstehen. Der Herr der Seelen war bis zum Moment der Erlösung der Menschheit aus der ewigen Verdammung der ›erlenhölzerne‹ Luzifer. Diese Seelen sind die ›Knechte‹. Auch von Christi Seele meinten die Teufel, sie würde nach dessen Tod – wie die Seelen aller anderen Menschen bis dahin – Luzifer zukommen. Durch die Menschwerdung, die Passion, den Tod und die Auferstehung Christi jedoch ist dieser eichenhölzerne ›Knecht‹ über den erlenhölzernen ›Herrn‹ hinausgewachsen, weshalb der ›Knecht‹ letztendlich stärker ist als der ›Herr‹. Der Teufel ist überwunden.
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Die Schlussfolgerung, die dann Claußnitzer aus ihrer eigenen Deutung zieht, dass mit diesem Sprichwort schon die Aussage des Priesters, Gott sei gewaltiger als der Teufel (ReO 1913), vorweggenommen würde, kann man trotzdem auch auf die hier vorgelegte alternative Interpretation anwenden.
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Rezeption
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Wie das Redentiner Osterspiel als frühestes Zeugnis einer Rezeption des Lübecker Totentanzes von 1463 gesehen wird,
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so meint die Autorin im Lübecker Buchtotentanz von 1489 das früheste Zeugnis der Spielrezeption zu sehen (Kapitel IX, »Ausklang – Redentiner Osterspiel und Lübecker Buchtotentanz«, S. 207 – S. 215).
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Wie schon vorher für den Totentanz beobachtet Claußnitzer beim Vergleich beider Texte eine derartige Ähnlichkeit, dass sie einen Einfluss des Spieltextes auf den Totentanztext für wahrscheinlich hält. So ließen sich vergleichbare Strukturen, wie etwa die reihende Aufzählung (S. 208), der Tanzaufruf an die Menschen (S. 211) oder die Regionalisierungstendenzen (S. 212 f.) ausfindig machen. Daneben wäre »die Betonung ganz ähnlicher Aspekte bei ihrer Darstellung der Heilsgeschichte und Erlösungsthematik« (S. 214) ein starkes verbindendes Element.
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Zum Glück kommt die Autorin dann selbst zu dem relativierenden Schluss, dass all diese Berührungspunkte letztendlich keinen Beweis einer Verwandtschaft erbringen, sondern dass man es mit »zwei Exponenten predigthafter geistlicher Lehrdichtung [zu tun habe], die beide, wenngleich mit unterschiedlicher Schwerpunktsetzung, den Tod und seine Folgen für den Menschen behandeln und sich auch stilistisch ähneln« (S. 215).
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Schlussbetrachtungen
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Claußnitzer ließ sich viel daran gelegen sein, namentlich den Zusammenhang zwischen dem 1463 entstandenen Totentanzfries, dem Redentiner Osterspiel und dem städtischen Kontext Lübeck darzulegen. Im Unterschied zu den beiden dieselbe Thematik betreffenden früheren Publikationen
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arbeitet sie in dieser Dissertation mehr Einzelheiten aus und geht auf die unterschiedlichen Blickrichtungen beider Kunstwerke ein: der Totentanz, so die Schlussfolgerung, sei mehr dem Moment des Sterbens zugewandt (S. 219), während das Spiel vor allem die Heilserwartung in der Krisensituation bestärken wolle (S. 220). Hier läge der Zeitbezug, hier läge das Ansinnen der Auftraggeber, hier läge die paränetische Kraft des Verfassers.
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Desiderata
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Es ist schade, dass die Autorin sich so ausschließlich auf den in der Form eines Schauspiels realisierten Text ausrichtet und somit im Grunde die Chance vergibt, ihn auch als überzeitliche Dichtung zu verstehen. Zwar deutet sie dessen Potentiale an (S. 217), erkennt auch, dass der Text offenbar die Zeiten zu überdauern versteht, weil er noch in neuester Zeit zur Aufführung gebracht wurde,
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missachtet aber den kodikologischen Befund, dass die Handschrift starke Benutzerspuren trägt.
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Da muss man sich doch fragen, woher diese denn stammen könnten, wo es doch keine Aufführungsbelege aus dem Mittelalter gibt. Hierfür kann es im Grunde nur eine einzige Erklärung geben: der Spieltext wurde als Lesetext verwendet.
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Ein Lesetext ist nicht wie eine Spielaufführung an Einmaligkeit gebunden. Die zum Teil sehr intensiven und klugen Wechselwirkungen zwischen dem Totentanzfries und dem Spieltext, die die Autorin ausgearbeitet hat, kämen bei einer wiederholten und andächtigen Lektüre sicherlich besser zur Geltung. Dem hätte Claußnitzer Rechnung tragen müssen, als sie nach seiner Kontextualisierung fragte.
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Was vor dem Hintergrund dieser Feststellung ausdrücklich zu berücksichtigen wäre, ist zunächst die handschriftliche Umgebung. Selbstverständlich legt Obhof dar, wie diese aus einem einzigen Faszikel bestehende Handschrift zusammengestellt ist. Sie umfasst 12 Blätter (21 x 14 cm). Dem Spiel geht eine Osterpredigt voran, die in so engem Zusammenhang mit dem Spieltext steht, dass der Schreiber es nicht für nötig empfand, eine Zäsur anzubringen.
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Beide Texte sind, wenn auch in unterschiedlichem Schreibduktus, von derselben Schreiberhand verfasst, genau wie der dem Spieltext folgende Osterhymnus O crux aue, spes vnica. Lediglich das dann nachgetragene Rezept in Geheimschrift stammt von einem anderen Schreiber.
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Bloß in einer einzigen Anmerkung (Anm. 474, S. 165) fragt Claußnitzer sich, wie sich diese Texte zueinander verhalten.
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Eckehard Simon teilt mit, dass Lübecker Kirchen im Bereich der szenisch ausgeschmückten Osterliturgie eine lange Tradition kannten – vom 13. Jahrhundert an bis zur Reformation.
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Das bedeutet, dass man dort in Lübeck und Umgebung bestens bekannt war mit der präsentischen Darstellung der Auferstehung in all ihren Einzelheiten (wie die Engel am Grab, der Besuch der Marien am Grab, die Jünger, die den Leichnam suchen wollen) und schließlich dem gemeinsamen Singen des Osterlieds Christus ist auferstanden. Einem Bilddenken, das bei einer lesenden Auseinandersetzung mit dem Spieltext diesen zum Leben erwecken könnte, wäre damit genauso Vorschub geleistet wie dem spielinternen Bilddenken der Wächter. Ist es doch eine Besonderheit des Redentiner Osterspiels, dass es zwar keine »visitatio sepulchri’« kennt, dass aber die Wächter diese in ihrem Bericht an Pilatus und die Hohepriester wohl rapportieren. Claußnitzer geht in Anmerkung 138, S. 38 nur am Rande darauf ein.
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Interessante Aufschlüsse über ein Benutzerverhalten wären auch von dem Überlieferungskontext der Handschrift an sich zu erwarten. Im Jahre 1786 kam die Handschrift, in der das Redentiner Osterspiel aufgezeichnet wurde, an die Karlsruher Badische Landesbibliothek, gemeinsam mit einer Kleinschriftensammlung.
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Ute Obhof wies schon in der Handschriftenbeschreibung auf eine mögliche planmäßige Anlage dieser Sammlung hin: »Die übrigen Stücke wären also als Mitüberlieferung zu betrachten, die der Urheber der Sammlung in einen bestimmten Zusammenhang zum ›RO‹ setzte. […] Auf den ersten Blick sind es überwiegend Texte der katechetischen und praktisch-theologischen Literatur und solche, die aktuelle Fragen der Theologie des 15. Jahrhunderts betreffen.«
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Mit Obhof ist hier also noch einmal auf diese Forschungslücke zu verweisen. Es wäre zu hoffen, dass diese bislang in der Spieleforschung kaum beachtete Kleinschriftensammlung die Aufmerksamkeit auf sich zieht. Die Befragung könnte womöglich zur Klärung der mysteriösen Tatsache beitragen, dass es zwar starke Benutzerspuren an der Handschrift gibt, jedoch keine Aufführungsbelege aus dem Mittelalter.
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Fazit
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Das Verdienst der Monographie Claußnitzers – über ihre beiden vorangehenden Aufsätze hinaus und in Kombination mit diesen – liegt vor allem darin, dass sie die Aufmerksamkeit der Spieleforschung wieder einmal auf das Redentiner Osterspiel lenken kann. Wenn auch ihr Ausgangspunkt längst nicht alles auskosten konnte, was der Text in seinen Kontexten hergibt, so eröffnet die Studie doch jede Menge Ansätze für weiterführende Fragestellungen.
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Nicht unerwähnt bleiben soll die bedauerliche Tatsache, dass neben den fehlerhaften Querverweisen einige bibliografische Angaben fehlen,
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dass es einige Trennungsfehler gibt
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und dass schließlich im Satz Unregelmäßigkeiten
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erscheinen. Schade.
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