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Das Erbe Käte Hamburgers

Sammelrezension zur »skandinavischen Narratologie«

  • Staffan Hellberg / Göran Rossholm (Hg.): Att anlägga perspektiv. Stockholm, Stehag: Brutus Östlings 2005. 271 S. Kartoniert. SEK 212,00.
    ISBN: 91-7139-718-1.
  • Per Krogh Hansen / Marianne Wolff Lundholt (Hg.): When We Get to the End ... Towards a Narratology of the Fairy Tales of Hans Christian Andersen. (Writings from the Center for Narratological Studies 1) Odense: University Press of Southern Denmark 2005. 390 S. Kartoniert. DKK 300,00.
    ISBN: 87-7674-089-7.
  • Lars-Åke Skalin (Hg.): Fact and Fiction in Narrative. An Interdisciplinary Approach. (Örebro Studies in Literary History and Criticism 5) Örebro: Örebro 2005. 321 S. Kartoniert. SEK 160,00.
    ISBN: 91-7668-425-3.
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Narratologische Arbeiten geographisch auszuwählen, macht im Grunde keinen Sinn, zumindest wissenschaftstheoretisch gesehen. Es wäre befangen, davon auszugehen, dass die Narratologie in Schweden sich axiomatisch von der, sagen wir, niederländischen unterscheide. Die Narratologie ist wie die Literaturtheorie mittlerweile ein internationales Geschäft. Legt man jedoch eine wissenschafthistorische Perspektive an, dann lassen sich durchaus Unterschiede erkennen, die sich oftmals durch sprachliche und andere distributive Barrieren und verzögerte Im- und Exportleistungen erklären lassen. In dieser Hinsicht strebt diese Rezension keinesfalls das Ziel an, etwaige Eigenheiten einer vermeintlich homogenen skandinavischen Narratologie herauszuarbeiten; es geht im Folgenden vielmehr darum, eventuelle sprachlich-distributive Barrieren zu überwinden und dadurch den gedanklichen Austausch zwischen den Wissenschaftskulturen zu befördern. Denn die skandinavische Narratologie ist derzeit durchaus rege, wie die Auswahl der Rezensionsgegenstände aus den letzten Jahren deutlich zeigt, sie spielt aber in der deutschsprachigen oder auch der englischsprachigen Diskussion bestenfalls eine marginale Rolle, wenn sie denn überhaupt wahrgenommen wird. Dabei bestehen, wie sich zeigen wird, durchaus gewisse Zusammenhänge und Verzahnungen zur deutschsprachigen Tradition, nicht zuletzt eine immer wiederkehrende und fast schon traditionelle Bezugnahme auf Käte Hamburger, die ja bekanntlich als Göteborger Exilantin auch auf schwedisch publiziert hat.

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Der von Lars-Åke Skalin herausgegebene Konferenzband Fact and Fiction in Narrative ist der erste englischsprachige Band von mittlerweile drei narratologischen Konferenzbänden, die auf die Zusammenarbeit zwischen der Universität Örebro, Schweden, und dem Center for Narratological Studies, University of Southern Denmark, zurückgehen. Während die beiden ersten Bände sich in dänisch- und schwedischsprachigen Artikeln mit dem Thema der Figur 1 und dem des Erzählers 2 beschäftigen, widmet sich der vorliegende Band dem Problem der Fiktionalität erzählender Texte aus einer Vielzahl einsichtsreicher Perspektiven; er geht auf eine internationale Tagung in Örebro im April 2004 zurück, an der neben einer Reihe schwedischer und dänischer Wissenschaftler auch Vera und Ansgar Nünning teilnahmen.

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Während Ansgar Nünnings Beitrag eine englischsprachige Version einer bereits auf Deutsch veröffentlichten und wichtigen Auseinandersetzung mit den Thesen Hayden Whites ist, in dem er auf eine Reihe erzählerischer Kennzeichen der Fiktionalität narrativer Texte eingeht, liefert Vera Nünning einen wichtigen Beitrag aus diachroner und kulturrelativer Perspektive, der denjenigen von Ansgar Nünning sinnvoll ergänzt. Vera Nünning stellt einsichtig dar, dass eventuelle narratologische Kennzeichen der Fiktionalität historisch veränderlich sind, und dass damit auch die Zuordnung einzelner Texte in den Bereich der Fiktion respektive Nicht-Fiktion historisch variabel sein muss.

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Lars-Åke Skalin, der Doyen der schwedischen Narratologie, schließt sich seinerseits der Hauptthese Nünnings an und plädiert ebenfalls für eine narratologische Distinktion zwischen fiktionalem und nicht-fiktionalem Erzählen, argumentiert allerdings unter Rückgriff auf Käte Hamburger für eine ›Fiktionologie‹, eine Narratologie eigens für fiktionale Texte, da sich das Sprachsystem des nicht-fiktionalen Erzählens fundamental von dem des fiktionalen Erzählens unterscheide. Skalin untersucht in dieser Absicht vor allem die so genannte ›Non-Fiction-Novel‹, die er anhand der Beispiele Strindberg und Capote überzeugend als paradoxales Genre kennzeichnen kann. Auf Skalins Ansatz wird noch zurückzukommen sein.

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Neben einer Fülle von überzeugenden und inspirierten weiteren Beiträgen sollen vor allem drei besonders hervorgehoben werden, da sie auf innovative Weise klassische Problembereiche der Narratologie am Schnittpunkt zwischen Fiktion und Nicht-Fiktion darstellen. Wie von Martin Löschnigg 3 und Monika Fludernik 4 an anderer Stelle hervorgehoben, stellt das unzuverlässige Erzählen eine Darstellungsform dar, die allein dem fiktionalen Erzählen vorbehalten sei. Der dänische Narratologe Per Krogh Hansen untersucht am Beispiel der Berichterstattung zum 11. September in dänischen und amerikanischen Medien die Frage der Fiktionalität anhand der Zuverlässigkeit des Erzählers und kommt dabei zur entgegengesetzten Auffassung von Löschnigg und Fludernik.

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Der schwedische Philosoph Mikael Pettersson widmet sich der nicht minder problematischen Frage nach ›fiktionaler Wahrheit‹ unter Rückgriff auf die Arbeiten von David Lewis und Gregory Currie und schlägt vor, dass neben den etablierten Prinzipien bei der Erzeugung fiktionaler Wahrheiten, nämlich dem Realitätsprinzip, dem Prinzip der allgemeinen Überzeugung, und dem, von Pettersson nicht erwähnten aber unbedingt hinzuzufügenden Prinzip der minimalen Abweichung von Marie-Laure Ryan, 5 vor allem auch ein Prinzip der Kohärenz im Bereich der Fiktion seine Gültigkeit besitzt. Dieses Prinzip exemplifiziert Pettersson am Beispiel von Joseph Conrads The Secret Agent, das er der Argumentation des amerikanischen Philosophen Kendall Walton entnommen hat, dessen Theorie der Fiktion in der schwedischen Literaturtheorie bislang eine größere Rolle gespielt hat als in der deutschsprachigen Diskussion.

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Nicht nur der ebenfalls im vorliegenden Band vertretene Göran Rossholm und Lars-Åke Skalin greifen häufig auf die Theorien Waltons zurück, sondern auch Christer Johansson, dessen Beitrag hier als letzter des besprochenen Bandes betrachtet werden soll. Der Text liefert, und dies soll besonders hervorgehoben werden, eine wertvolle Zusammenstellung und Kategorisierung unterschiedlicher fiktionstheoretischer Modelle und versteht es dabei, den Bogen von so unterschiedlichen Theorien wie der Käte Hamburgers bis zu der Kendall Waltons zu schlagen. Anhand sorgfältig ausgewählter Beispiele gelingt es Johansson, die jeweiligen Modelle, die er mit den Termini ›diegetic‹, ›mimetic‹, ›presentation‹ und ›imagination‹ bezeichnet, in ihren Vorzügen darzustellen; er gelangt allerdings auch zu dem negativen Befund, dass eine umfassende oder integrative Theorie der Fiktion unerreichbar scheint.

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Mit den teilweise gleichen Protagonisten kann der Band von Per Krogh Hansen und Marianne Wolff Lundholt aufwarten, diesmal jedoch auf der Suche nach und vielleicht schon auf dem Weg »Towards a Narratology of the Fairy Tales of Hans Christian Andersen«, wie der Untertitel verkündet. Wer hier wissenschaftstheoretische Bedenken anmeldet, wird von der durchaus disparaten Diskussion um den Status der Narratologie sicherlich bestätigt, denn eine eigene Narratologie für jedes Œuvre eines Autors scheint eine unangebrachte Inflation darzustellen. Dies wäre zudem eine Infragestellung des wissenschaftssystematischen Stellenwerts der Narratologie, zu verorten irgendwo zwischen Theorie, Methode und analytischem Werkzeugkasten. Doch darum geht es in diesem reichhaltigen Band zu Andersens Märchenwelt letztlich nicht, trotz des Untertitels, der dies zumindest als Zielpunkt angibt. Vielmehr, das machen die Herausgeber in ihrem Vorwort deutlich, sollen zwei Zielsetzungen sich gegenseitig erhellen: »The task of the symposium was a double obligation on both the theory of narrative and the tales of Hans Christian Andersen. Our hope was that one the one hand, the models and conceptions of modern narratology could open up new readings of Andersen’s tales, and on the other that Andersen’s often highly complex use of an old tradition (the tradition of the fairy-tale) would throw new light on narratology.« (S. 16)

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Eine eigene ›Anderson-Narratologie‹ wird also nicht gefordert, wohl macht aber Ansgar Nünning, der ebenso wie Vera Nünning Teilnehmer der Konferenz war, die dem Tagungsband zugrunde liegt, in seinem Beitrag deutlich, dass unter der Vielzahl der mittlerweile gehandelten Narratologien eine Narratologie des Märchens seinen berechtigten Platz haben würde: »[W]hat we have, thanks to Propp, is a morphology of the folktale, but what we arguably lack, and need, is a narratology of the fairy tale.« (S. 29) Demzufolge versteht Nünning seinen Beitrag als notwendige Ergänzung der Propp’schen Märchenmorphologie mit ihrem stark ereignisorientierten Modell durch die Einsichten einer erzählerorientierten Dirskursnarratologie, die besonders die Funktion unterschiedlicher Erzählertypen in Betracht ziehen soll. Insbesondere die Funktion von Erzählerkommentaren ist Nünning zufolge im Werk Andersens von hoher Signifikanz. Nünning präsentiert im ersten Teil seines Beitrages zunächst eine vereinfachte Erzählertypologie, die auf einer Reihe bekannter früherer Arbeiten von ihm aufbaut, 6 und liefert daran anschließend eine skizzenhafte Darstellung der metafiktionalen und metanarrativen Elemente in einigen ausgewählten Märchen Andersens. Von hoher Relevanz ist hierbei Nünnings Unterscheidung zwischen Metafiktion und Metanarration, die vor allem im zweiten Teil des Beitrags als grundlegend für die Textinterpretation bei Andersen aufgezeigt wird.

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Dies zeigt sich auch im Beitrag Greger Anderssons im gleichen Band, der ebenfalls die häufigen Erzählerkommentare in den Märchen Andersens untersucht und sich zudem intensiv und kritisch mit Nünnings theoretischem Ansatz auseinandersetzt; er lehnt jedoch die von Nünning vorgeschlagene Unterscheidung zwischen Metafiktion und Metanarration ab. In seiner genauen Analyse der unterschiedlichen Theoriemodelle bei Genette, Nünning und auch Skalin übersieht Andersson allerdings meines Erachtens, dass Illusionsbildung und Fiktionalität nicht gleichzusetzen sind und deshalb die von Nünning gemachte Unterscheidung durchaus sinnvoll ist. 7

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Hervorgehoben werden soll noch Lars-Åke Skalins Beitrag, in dem er explizit auf Käte Hamburger Bezug nimmt und die traditionelle »Universal-Narratologie« dahingehend kritisiert, dass eine eigene »Fiktionologie« von Nöten sei, um exakt zwischen unterschiedlichen Typen des Erzählens unterscheiden zu können: Für Skalin hat Hamburgers Unterscheidung zwischen fingiertem und fiktionalen Erzählen nach wie vor Berechtigung, denn in seinem Modell wird das Erzählen aufgeteilt in relatio, fabula und fictio, wovon nur die erste Form referentiell sei – Erzählung in der Fiktion ist für Skalin nur nachgeahmte relatio und hat keinen wirklichen Erzähler, weshalb Skalin den Begriff des Erzählens in der Fiktion, vor allem im so genannten »erzählerlosen Erzählen« als fundamental anders theoretisch zu bestimmen versteht. 8 Wo wie im Drama oder in heterodiegetischen Teilen der Odyssee eine »story« dargestellt wird, wird nach Skalin eben nicht unbedingt eine Geschichte erzählt, hier handelt es sich also um eine andere Art von untereinander zu unterscheidenden »games, systems, modes« (S. 76). Mit Vorteil ist Skalins Beitrag parallel zu lesen zu seinem Artikel in Att anlägga perspektiv, der nahtlos an die hier vorgetragenen Thesen anknüpft – auf den Text wird weiter unter noch einzugehen sein.

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Bedauerlich ist, dass die sprachlich komplizierten Umstände in der Redaktion des Buches ihre Spuren hinterlassen haben. Dass die nicht Dänisch sprechenden Wissenschaftler in ihren Analysen von meist englischsprachigen Übersetzungen Andersens ausgingen, macht sich erfreulicherweise nicht allzu unangenehm bemerkbar – wenngleich die Unterschiede zwischen dänischem Originaltext und englischsprachiger Übersetzung in einer Reihe von Beiträgen deutlich werden, unter anderem dadurch, dass in Einzelfällen metanarrative Kommentare und Interjektionen im Rahmen der Übersetzungen weggefallen waren, worauf vereinzelt auch aufmerksam gemacht wird. Problematischer ist eher schon die Tatsache, dass der englischsprachige Band durchgehend von Nicht-Muttersprachlern geschrieben und ediert wurde: Bisweilen stören einige gröbere sprachliche Schnitzer durchaus den Lesefluss. Hiervon abgesehen sei der Band zunächst allen Andersen-Forschern, aber auch einer allgemeinen narratologisch interessierten Forschergemeinschaft empfohlen, denn neben stimulierenden Interpretationen zu Andersens Märchen wartet der Band mit grundlegendenen Diskussionen zu narratologischen Kernbereichen auf, insbesondere mit hochwertigen Beiträgen zu Theorie und Praxis der Metanarration und Metafiktion.

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Der von Staffan Hellberg und Göran Rossholm herausgegebene Band Att anlägga perspektiv ist Resultat eines Teilprojekts des interdisziplinären Forschungsprojekts »Mening och Tolkning« [Bedeutung und Deutung] an der Universität Stockholm, in dem von 1996 bis 2002 eine Reihe von Philosophen, Sprach- und Literaturwissenschaftlern aus verschiedenen Philologien »Gundfragen der Geisteswissenschaft« erörtert haben. Narratologisch interessant ist der Band vor allem durch eine Reihe von Beiträgen aus der Literaturwissenschaft, die Fragen der erzählerischen Perspektive aus narratologisch-theoretischer Sicht beleuchten, sich dabei aber nicht notwendigerweise auf das Medium des literarischen Erzählens beschränken.

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Besonders hervorzuheben ist der luzide Beitrag Eva Bromans, die die unterschiedlichen theoretischen Bestimmungen von Perspektive und Fokalisierung vor allem bei Genette und Bal einer gründlichen Untersuchung unterzieht. 9 Ihre minutiöse Rekonstruktion der beiden theoretischen Modelle sowie der vielstimmigen Diskussion um sie ist vor allem deshalb so wertvoll, weil es Broman gelingt, die jeweiligen Fokalisierungsmodelle im Rahmen ihrer eigenen Voraussetzungen darzustellen, ohne dabei in eine argumentative Schieflage beim Vergleich der Theorien zu geraten. Gleichzeitig zeigt Broman deutlich die Schwachpunkte der Modelle auf, aber auch deren Vorteile, um schließlich insbesondere die Rolle des Lesers hervorzuheben, auf dessen Referenzrahmen es letztlich bei der Analyse perspektivisch komplexer Erzählstücke ankomme. Bromans Beitrag wird sicherlich für zukünftige narratologische Arbeiten zum Bereich Perspektive / Fokalisierung eine wertvolle Hilfe sein.

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Die Beiträge von Lars-Åke Skalin und Christer Johansson berufen sich beide auf Käte Hamburger. Skalin nutzt Hamburgers Argumentation insbesondere in Hinblick auf die erlebte Rede, um daraus einmal mehr die Notwendigkeit einer »Fiktionologie« abzuleiten, einer Narratologie allein fiktionaler Texte, bei der eine andere referentielle, praktische und strukturelle Dimension vorherrsche als im Falle des »literarischen Erzählens« (siehe oben). Skalin argumentiert hier wieder einmal ganz im Sinne Käte Hamburgers, wenn er intern fokalisierten Erzählungen, die gegen jede Aussagenlogik natürlicher Sprache verstoßen, dem System der »narrativen Fiktion« zuschreibt, das nicht notwendigerweise einen Erzähler voraussetzt und sich zufolge Skalin in Struktur und Effekt grundlegend vom System des »literarischen Erzählens« unterscheidet. Dieses System kann gleichwohl ebenfalls von fiktiven Personen handeln, evoziert aber ein grundsätzlich anderes Leseerlebnis als das System der »narrativen Fiktion«, welches, so Skalin, als Teil einer »separatistischen Herausforderung« (S. 105) an den erzählerbasierten narratologischen Integrationismus, eine eigene »Fiktionologie« verdienen würde, um ihren spezifischen Eigenschaften überhaupt gerecht werden zu können.

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Ebenfalls an die Arbeiten Hamburgers knüpft der Beitrag von Christer Johansson an, ausgehend von einer Diskussion um eine theoretische Bestimmung des Erzählers, der als Voraussetzung einer transmedialen Erzähltheorie sowohl den Bedingungen der filmischen Fiktion als auch denjenigen der Erzählliteratur gerecht werden muss, denn diese beiden Medien versucht Johansson in seinem Aufsatz narratologisch und fiktionstheoretisch zu verbinden. Johansson konstatiert, dass der Erzählerbegriff in seinen unterschiedlichen Ausprägungen, von Hamburger und Banfield bis Genette und Chatman ein zu vieldeutiges Konzept darstellt, um damit Erzählen in Film und Prosa eindeutig bestimmen zu können; er stimmt jedoch mit Banfield und Hamburger überein, dass die Voraussetzung eines anthropomorphen Erzählers für alle Fälle fiktionaler Narration nicht sinnvoll sei, denn auch Filme seien narrativ, ohne deshalb notwendigerweise eine Erzählerfigur zu benötigen. Unbrauchbar wären hierbei allerdings die sprachlich verankerten Mittel bei Banfield und Hamburger – Johansson wählt deshalb den Weg über die Fiktionstheorie, vor allem mit Theoretikern wie Kendall Walton und Gregory Currie, um das fiktionale Erzählen in Film und Prosa zu bestimmen.

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In gewisser Weise macht Johansson das potenzielle und frequente Fehlen eines Erzählers im Film zur Tugend, weil er die Gemeinsamkeit literarischen und filmischen Erzählens darin sieht, dass in beiden Fällen, sofern es sich um Fiktion handelt, die Vermittlung durch den Erzähler wegfallen kann. Der Erzähler sei, in Anschluss an Skalins Beitrag, »intermittent«, also keine notwendige Voraussetzung. Es kann, muss aber nicht einen Erzähler geben. Besonders interessant ist hierbei Johanssons Anwendung des Modells Kendall Waltons und dessen Unterscheidung in »world of the work« und »world of the game«: Für Walton gibt es die Welt des Werkes, in der explizite Vorstellungen vorgeschrieben werden, und es gibt die Welt des Spiels, in dem die individuell durchaus abweichenden fiktionalen Wahrheiten bei der Rezeption eines fiktionalen Werkes generiert werden, insbesondere diejenigen, die den Rezipienten selbst mit einbeziehen; zum Beispiel imaginiert man als Leser von Gullivers Reisen, dass man selbst gerade das Logbuch in Händen hält und liest. Johanssons Anwendung der Theorie Waltons scheint hier ein wenig zu weit zu gehen, denn schließlich wird wahrscheinlich jeder Leser von Gullivers Reisen diese fiktionale Wahrheit generieren, weshalb sie dann Walton zufolge kein Teil der Spielwelt, sondern einer der Werkwelt wäre. 10 Davon abgesehen liefert Johansson einen grundlegenden und ausgesprochen umfassenden Beitrag, der kreative Wege für intermediale narratologische Analysen untersucht und somit nicht nur Literaturwissenschaftlern, sondern auch medienübergreifend interessierten Filmwissenschaftlern und Vertretern der philosophischen Ästhetik empfohlen sei.

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In seiner Suche nach interdisziplinären Wegen zeichnet sich ohnehin der gesamte Band von Rossholm und Hellberg aus: Neben den Literaturwissenschaftlern Skalin und Johansson und der Graecistin Broman bereichern Beiträger aus der Sprachwissenschaft, der Philosophie, der Semiotik und der Kunstwissenschaft mit unterschiedlichsten Perspektiven diesen eindrucksvollen Band zur Perspektive. 11

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Insgesamt lässt sich als Fazit festhalten, dass die skandinavische Narratologie ein reges und reiches Feld ist, das aufgrund sprachlicher und geographischer Barrieren leicht übersehen wird. Besonders erfreulich ist deshalb die mittlerweile konsequente Entwicklung hin zu englischsprachigen Publikationen, die den hochkarätigen Analysen der nordischen Narratologen einen hoffentlich breiteren Wirkungskreis ermöglichen werden. Lars-Åke Skalins Reihe beispielsweise wird weiterhin auf Englisch veröffentlichen. 12 Und Käte Hamburgers grundlegende Fragen zum Erzähler in der fiktionalen Literatur werden sich auch in Zukunft als Ausgangspunkt eignen. Vielleicht findet ja manch alter Gedanke auf diese Weise wieder zurück nach Deutschland?

 
 

Anmerkungen

Lars-Åke Skalin (Hg.): Ordet och köttet. Om teorin kring litterära karaktärer [Das Wort und das Fleisch. Zur Theorie der literarischen Figur, Übersetzung J. A. B.] (Örebro Studies in Literary History and Criticism 2). Örebro: Örebro University Library 2003.   zurück
Lars-Åke Skalin (Hg.): Berättaren. En gäckande röst i texten [Der Erzähler. Eine trügerische Stimme im Text, Übersetzung J. A. B.] (Örebro Studies in Literary History and Criticism 3). Örebro: Örebro University Library 2003.   zurück
Martin Löschnigg: Narratological Categories and the (Non-)Distinction between Factual and Fictional Narratives. In: John Pier (Hg.): Recent Trends in Narratological Research: Papers from the Narratology Round Table / ESSE4 – September 1997 – Debrecen, Hungary / and other contributions. Tours: PUFR 1999, S. 31–48.   zurück
Monika Fludernik: Fiction vs. Non-Fiction. Narratological Differentiations. In: Jörg Helbig (Hg.): Erzählen und Erzähltheorie im 20. Jahrhundert. Festschrift für Wilhelm Füger. Heidelberg: C. Winter 2001, S. 85–103.   zurück
Marie-Laure Ryan: Fiction, Non-Factuals, and the Principle of Minimal Departure. In: Poetics 9, 1980, S. 403–422.   zurück
Vgl. besonders Ansgar Nünning: Grundzüge eines kommunikationstheoretischen Modells der erzählerischen Vermittlung: Die Funktion der Erzählinstanz in den Romanen George Eliots. Trier: Wissenschaftlicher Verlag Trier 1989.   zurück
Vgl. ebd. besonders S. 155–159.   zurück
Für einen aktuellen Rückblick auf Hamburgers Thesen vgl. Michael Scheffel: »Käte Hamburgers ›Logik der Dichtung‹ – ein Grundbuch der Fiktionalitäts- und Erzähltheorie? Versuch einer Re-Lektüre«. In: Johanna Bossinade / Angelika Schaser (Hg.): Käte Hamburger. Zur Aktualität einer Klassikerin (QuerElles. Jahrbuch für Frauenforschung 8), Göttingen: Wallstein 2003, S. 140–155.   zurück
Der im Original auf Schwedisch geschriebene Beitrag von Broman ist glücklicherweise auch in englischer Übersetzung in einem Tagungsband erschienen (in: Göran Rossholm (Hg.): Essays on Fiction and Perspective. Bern u.a.: Peter Lang 2004), obwohl Broman nicht Teilnehmerin der Konferenz war. Das Erscheinen im Tagungsband beruht nach Angaben des Herausgebers darauf, dass ein Gutachter des Geldgebers den Beitrag als so gut bewertete, dass eine Übersetzung ins Englische finanziert wurde.   zurück
10 
Vgl. Kendall Walton: Mimesis as Make-Believe. On the Foundations of the Representational Arts. Cambridge, London: Harvard University Press 1990, bes. S. 58 ff.   zurück
11 
Auch wenn einige Beiträger und Beiträge, wie erläutert vor allem Bromans Artikel, in dem auf Englisch erschienenen Tagungsband herausgegeben von Rossholm teilweise wieder auftauchen, handelt es sich bei Att anlägga perspektiv um eine davon zu unterscheidende und selbstständige Publikation.   zurück
12 
Ein englischsprachiger Band in Anschluss an die Tagung »The Narrative Turn and the Study of Literary Fiction« mit Beiträgen von norwegischen, schwedischen, dänischen, estnischen und deutschen Narratologen ist in Vorbereitung.   zurück