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Lesen im Zeitalter der elektronischen Medien

Immer noch oder wieder ein Akt der
Kontemplation und Meditation?

  • Klaus Kanzog: Kontemplatives Lesen, Meditation und Dichtung. München: IUDICIUM 2007. 200 S. 16 s/w, 4 farb. Abb. Kartoniert. EUR (D) 19,80.
    ISBN: 978-3-89129-185-6.
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Fragestellung

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Die Literatur zum Thema Lesen hat in den vergangenen drei Jahrzehnten ganz erheblich zugenommen – ein Phänomen, das ohne Zweifel eng zusammenhängt mit der Erfahrung der modernen Medienkultur und deren Auswirkungen auf die gute alte Schriftkultur. Die ältere Leseforschung war vor allem an der Figur des Lesers und seinen Leseweisen interessiert, wobei sie Lesen als eine universell auftretende Kulturtechnik verstand, die es ermöglichte, die Intentionen schriftlicher Texte (und ihrer Verfasser) zu verstehen. Der diesbezügliche Forschungsstand ist zusammengefasst in dem von Alfred Clemens Baumgärtner herausgegebenen Band Lesen – ein Handbuch (Hamburg 1973). An weiteren einschlägigen Untersuchungen, die auch (historische) Leseweisen thematisieren, sind die Arbeiten von Hugo Aust, Rolf Engelsing und Rudolf Schenda zu nennen. 1

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Die jüngere Leseforschung wandte sich dagegen stärker dem Akt des Lesens (Angela Fritz / Alexandra Suess, E. J. Gibson / H. Levin, Sabine Gross) sowie seinen historischen Ausformungen und Rückkoppe­lungen mit dem Entwicklungsgang der Schrift- und Druckkultur zu (Roger Chartier, Erich Schön). 2 Ihre Leistung ist einerseits eine Neu­formulie­rung der »Geschichte des Lesens« (Alberto Manguel, Jost Schneider) 3 in ihrer Pluralität, andererseits eine genauere Vermessung der gegenwärtigen Leseraktivitäten. Der diesbezügliche Forschungsstand ist zusammengefasst in dem von Bodo Franzmann u.a. herausgegebenen Band Handbuch Lesen (Baltmannsweiler 2001). Neigte die ältere Leseforschung zu einer wertenden Antithese von tradierter Schriftkultur und mo­derner Medien­kultur, untersucht die jüngere – hierin eher unbefangener – deren dialektischen Zusammen­hang.

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Klaus Kanzog gehört mit seinem Buch eher in den Kontext der älteren Leseforschung. Darauf weist nicht nur dessen Ent­stehungszeit hin (Lehrveranstaltungen 1973/74 bzw. 1991 an der Ludwig-Maximilians-Universität München), sondern auch das Konzept, »Lesen« als meditative Haltung eines Lesers bzw. als eine »kulturelle Konstante mensch­lichen Verhaltens« (S. 9) aufzufassen. Zugleich muss man jedoch betonen, dass für ihn nicht Leserforschung, sondern Textinterpretation im Mittelpunkt steht. Man wird daher davon ausgehen können, dass der Phi­lologe Kanzog (geb. 1926), der ja zugleich auch einen Forschungsschwerpunkt in der Filmphilologie hat, diesen Stand­punkt bewusst gewählt hat. Ihn interessiert nicht eine Lesetechnik, sondern eine Haltung zum Text. Doch hier argumentiert (besser: plädiert) nicht einer, der »altmodisch« die Präsenz des literalen Textes gegen die Flüchtigkeit medialer Bilder ausspielt, sondern einer, der an eine Lesetradition anknüpft, von der noch nicht ausgemacht ist, ob sie ihre Zeit gehabt hat. Die von ihm angestrebte seriöse Sym­biose von Lesen und Kontemplation gerät dabei allerdings, ob es der Verfasser nun will oder nicht, in die Nachbarschaft zeitgeistiger self-coaching-Verfahren (autogenes Training, Yoga, Meditation usw.), die Verhaltenstherapeuten dem gestressten Leistungsträger als kontemplativen Ausgleich empfehlen und dabei auch dem Lesen große Bedeutung zumessen.

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Inhaltsreferat

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Klaus Kanzog versteht unter dem zentralen Begriff »kontemplatives Lesen« eine bestimmte Lesehaltung, die er von (nicht weiter beachteten) anderen Lesehaltungen (z.B. »schmökern«, kursorisches Lesen) abgrenzt und zugleich erhöht: »Der kontemplative Leser [...] ist der ›wahre Leser‹ und das kontemplative Lesen das eigentliche Zen­trum der Literaturerfahrung« (S. 7). Es ist nicht nur ein langsames und genaues Lesen, sondern ein meditativer Akt der Selbst-Versenkung, den Kanzog als »das bewusste zeitweilige Heraustreten aus der Realität, das Ein­treten in einen suggestiv vermittelten ›anderen Raum‹ und schließlich die Rückkehr in die Realität« (S. 9) beschreibt. Diese Grundfigur, ganz der klassischen Texthermeneutik geschuldet, zieht sich durch das gesamte Buch – und wird weder argumentativ gegen andere, kritische Textinterpretationsverfahren entfaltet, noch auf andere Weise näher begründet. Nur an ganz versteckter Stelle (S. 132 f.) findet sich ein erkenntnistheoretischer Exkurs zur Phänomenologie Edmund Husserls, deren sieben Schritte (Bedingungen der Anschauung) von der naiven Vorstellung über die Enthaltung (Epoché) von jedem Urteil mittels »eidetischer Reduktion« bis zur Anschauung des »Wesens« zustimmend referiert werden. 4 Dem folgend vertraut Kanzog ganz auf die Überzeugungskraft seiner aus dieser kontemplativen Lektüre gewonnenen Textinterpretationen.

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In sechs Kapiteln (Textorientierung, Raumorientierung, Bilder, Flächen, Farben, Vademekum) wird dargelegt, wie die kontemplative Lektüre funktioniert, nämlich als »aktive[r] Nachvollzug einer meditativen Leistung des Autors« (S. 9). Diese Leistung manifestiert sich stets über den Text, aber auf verschiedene Weise: als identifika­torisches Angebot, als gelungene Wort-Konstellation, als Anstoß für »autogene Imagogik« (S. 28), als mysti­scher Einklang, als Visualisierung eines meditativen Raumes (z.B. der eigene und der ›andere‹ Raum, der Bühnenraum), als Illustration und Bild-Botschaft (»Ästhetik des Meditativen«, S. 66, »inneres Bild«, S. 84), als bildlich sprechende Textoberfläche (z.B. Ikone, Emblem, Labyrinth, Mittelachse, Konstellation), als Farb­symbolik, als Ratgebung (z.B. Kalender, Stundenbuch, Almanach, Merksatz). An den entsprechenden Text-Angeboten, so Kanzog, besteht kein Mangel – und Kanzogs exemplarische Interpretationen entwickeln am Bei­spiel einschlägiger, klassisch gewordener Texte ein weites Spektrum (vorwiegend) deutscher Literaturge­schichte vom frühen Mittelalter bis zur Gegenwart.

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Aus der chronologisch nicht geordneten Abfolge ragen heraus: B. Brecht (Der Radwechsel, Lesebuch für Städtebewohner, Der hilflose Knabe), R. M. Rilke (Archaischer Torso Apollos, Blaue Hortensie), H. v. Kleist (Über das Marionettentheater, Prinz Friedrich von Homburg), C. F. Meyer (Der Römische Brunnen, Auf Goldgrund), E. Mörike (Um Mitternacht), A. Kubin (Die andere Seite), F. Kafka (Das Schloß, Vor dem Gesetz), H. Kasack (Die Stadt hinter dem Strom) J. W. v. Goethe (Iphigenie auf Tauris, Das Märchen), G. v. Straßburg (Tristan), F. Schiller (Der Gang zum Eisenhammer, Worte des Glaubens / Worte des Wahns), C. v. Greiffenberg (Kreuzgedicht), U. Wyss (Neuw Fundamentbuch), A. Holz (Phantasus), Gedichte von G. Rühm, E. Gomringer, H. Heißenbüttel, A. Gryphius, Novalis (Heinrich von Ofterdingen), E. T. A. Hoffmann (Der Goldene Topf), G. Büchner (Lenz), G. Trakl (In Hellbrunn), J. P. Hebel (König Friedrichs Leibhusar) und H. Heine (Über ihn selbst).

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Das Bändchen ist mit 16 schwarzweißen und vier farbigen Abbildungen, die auch kommentiert werden, reich bebildert. Unge­wöhn­lich ist das abschließende Register mit dem Titel »Aspekte des kontemplativen Lesen«: Es ist nicht nur recht lang (14 Seiten), sondern von einer (zum Teil willkürlichen) Detailliertheit, die weit über die spezielle Information zum kontemplativen Lesen hinausgeht. So verweisen z.B. die Einträge zu »Abglanz«, »Allgemeingültigkeit«, »Anordnung«, »Antwort«, »Aufmerksamkeit« – um nur Beispiele von S. 187 zu nennen – auf Textstellen, die keinen näheren Bezug zum Thema haben: »Abglanz« wird registriert, weil das Wort auf S. 128 in einem Faust-Zitat vorkommt (»Am farbigen Abglanz haben wir das Leben«).

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Kritik

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Klaus Kanzogs kleines Werk lebt von der philologisch genauen, textsensiblen Interpretation, in der u.a. die Kunst der werkimmanenten bzw. existenzphilosophischen bzw. phänomenologischen Literaturinterpretation auf­scheint. So betrachtet, liest sich das Buch auch als Summe eines Philologen und Literaturlehrers, der die Lese-Probleme der längst mediensozialisier­ten akademischen Jugend aus vielen Seminaren kennt und niemals müde wurde, dem flüchtigen Blick die genaue Textlektüre aufzugeben, obwohl er weiß: »Dieses Lesen gelingt heute nicht mehr ohne weiteres« (S. 183). Die theoretischen Herleitungen und Abgrenzungen sind in diesem Buch kein Thema – auch das vielleicht einer Alterseinsicht geschuldet, die darum weiß, wie schnell der literarische Primärtext im Schlachtenlärm der Theore­tiker auf der Strecke bleibt. Problematisch erscheint dem Rezensenten, der aber zugleich seine Unkenntnis über Theorie und Praxis der Meditation eingestehen muss, die ständige Parallelisierung des kontemplativen Lesens mit Strategien des autogenen Trainings. Hat das Lesen diese Stützung nötig? Wäre eine Fundierung auf die ehrwürdige, in der alten Schriftkultur seit dem Mittelalter praktizierten Kunst des kontemplativen Lesens / Lebens im religiösen Bereich nicht ergiebiger gewesen? Dann aber, so ist hinzuzufügen, müssten auch die kulturellen Bedingungen sowie die Grenzen dieser Leseweise aufgezeigt werden.

 
 

Anmerkungen

Hugo Aust: Lesen. Überlegungen zum sprachlichen Verstehen. Tübingen 1983; Rolf Engelsing: Die Perioden der Lesergeschichte in der Neuzeit. In: Ders.: Zur Sozialgeschichte deutscher Mittel- und Unterschichten. Göttingen 1973, S. 112–154; Rudolf Schenda: Volk ohne Buch. Studien zur Sozialgeschichte der populären Lesestoffe 1770–1910. München 1977.    zurück
Angela Fritz / Alexandra Suess: Lesen. Die Bedeutung der Kulturtechnik Lesen für den gesellschaftlichen Kommunikationsprozeß. Konstanz 1986; E. J. Gibson / H. Levin: Die Psychologie des Lesens. Stuttgart 1980; Sabine Gross: Lesezeichen. Kognition, Medium und Materialität im Leseprozeß. Darmstadt 1994. Roger Chartier: Ist eine Geschichte des Lesens möglich? Vom Buch zum Lesen: einige Hypothesen. In: LiLi 14 (1985), H. 57/58, S. 250–273; Erich Schön: Geschichte des Lesens. In: Handbuch Lesen. Hg. von Bodo Franzmann u.a. Baltmannsweiler 2001, S. 1–85.    zurück
Alberto Manguel: Eine Geschichte des Lesens. Reinbek 1999; Jost Schneider: Sozialgeschichte des Lesens. Zur historischen Entwicklung und sozialen Differenzierung der literarischen Kommunikation in Deutschland. Berlin, New York 2004.    zurück
Vgl. Edmund Husserl: Die Idee der Phänomenologie. Fünf Vorlesungen. Hg. von Walter Biemel. Haag 1950, S. 14, 56 f.   zurück