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Lektüren hinter der Mauer

  • Rüdiger Steinlein / Heidi Strobel / Thomas Kramer (Hg.): Handbuch zur Kinder- und Jugendliteratur. SBZ/DDR. Von 1945 bis 1990. Stuttgart, Weimar: J. B. Metzler 2006. XXXIV, 758 S. 47 s/w Abb. Gebunden im Schuber. EUR (D) 299,95.
    ISBN: 978-3-476-02177-9.
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Der in Format und Aufmachung seinen Vorläufern entsprechende Band widmet sich einem Gegenstand, der trotz großer Nähe zur Gegenwart ein geschlossenes Kapitel der Literaturgeschichte darstellt – sowohl historisch wie die politischen Strukturen betreffend. Er vermeidet einen tastenden, oft nur Wertungen anbietenden Abriss literarischer Prozesse der jüngsten Vergangenheit und erlaubt eine umfassende Sicht auf die Dynamik eines Literatursystems unter ganz spezifischen gesellschaftlichen und sozialen Bedingungen. Obwohl auch die Vorgängerbände eine gelungene Mischung von Motiv-, Gattungs- und Sozialgeschichte (oder besser: eine Geschichte des literarischen Lebens im gewählten Ausschnitt) präsentieren, so liegt bei diesem Kompendium doch ein deutlicher Schwerpunkt auf politischen, institutionellen und mentalen Entwicklungen in den behandelten viereinhalb Jahrzehnten.

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Das Handbuch stellt in seiner umfassenden Berücksichtigung dieser Vielfalt von Aspekten eine Pionierleistung dar. Sieht man von den frühen und tendenziösen kinderliterarhistorischen Beiträgen aus der DDR ab (z.B. Günter Ebert: Ansichten zur Entwicklung der epischen Kinder- und Jugendliteratur in der DDR von 1945 bis 1975 [1976], Friedel Wallesch: Sozialistische Kinder- und Jugendliteratur der DDR. Ein Abriß zur Entwicklung von 1945 bis 1975 [1977], Christian Emmrich: Literatur für Kinder und Jugendliche in der DDR [1981]), so finden sich in Klaus Doderers Lexikon der Kinder- und Jugendliteratur (1984) und in Reiner Wilds Geschichte der deutschen Kinder- und Jugendliteratur (1990) zwar hilfreiche, aber höchst kursorische Bemerkungen zur Situation der Kinderliteratur in der DDR; in monographischer Form wurde das Thema bislang nicht in dieser eindringlichen Form bearbeitet. Zumal ältere Beiträge in Aufsatzform, die vor 1990 erschienen sind, taugen häufig mehr als zeit- und ideologiegeschichtliche Zeugnisse und werten mehr, als sie wissenschaftlich informieren. Bereits an dieser Stelle soll darauf hingewiesen werden, dass das Handbuch weitgehend frei ist von Tendenzen – was man allerdings nicht nur von philologischer Redlichkeit, sondern auch 20 Jahre nach Ende der DDR erwarten darf. Die wenigen Ausnahmen bestehen in einer grundsätzlichen Totalitarismuskritik, die historisch diskutabel ist, etwa wenn hinsichtlich der Jugendorganisationen der SED an jene aus der Zeit des Nationalsozialismus erinnert wird (Sp. 49 f.); hier werden Phänomene oberflächlich parallel gesetzt, die genauere Analysen der ideologischen Grundlagen voraussetzen würden.

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Der Aufbau folgt dem bewährten Modell der anderen Handbuch-Bände, was den sich neu für das Thema Interessierenden einen ebenso bequemen Zugang zur Materie erlaubt wie den geübten Benutzern. Nach einleitenden Bemerkungen zu Struktur, Quellen und Mitarbeitern folgt eine knappe Verortung des Bandes in die gesamte Serie mit Betonung der Neuerungen und methodischen Spezifika in einer Kombination von »kritisch-ideologiegeschichtlichen [... ] aber auch gleichrangig kulturwissenschaftlich-mentalitätsgeschichtliche[n], diskursanalytische[n] und systemtheoretische[n] Ansätze[n]« (Sp. 3 f.). Die Einleitung (Teil A, Sp.5–125) präsentiert einen Überblick systematischer Art, der sich vorrangig Aspekten der spezifischen Voraussetzungen einer Kinder- und Jugendliteratur im politischen System der SBZ wie der DDR widmet. Es ist ein wesentlicher Verdienst des Bandes, die Zeit vom Mai 1945 bis zur Gründung der DDR am 7. Oktober 1949 in den Blick zu nehmen. Die Darstellung eines sich nach dem Krieg neu und zögerlich entwickelnden Verlagswesens und seiner Konsolidierung nach 1949 im Zusammenhang mit einer politischen Instrumentalisierung der Verlagsprodukte gebe wesentliche Leitlinien für die weitere Argumentation vor. Diese Politisierung und Ideologisierung bestimmt ebenso die knappe Darstellung des Bildungs- und Erziehungssystems in der DDR wie des Einflusses der »Jungen Pioniere« auf thematische Aspekte der Kinder- und Jugendliteratur. Weitere Abschnitte beschäftigen sich mit dem System der Kinder- und Jugendbibliotheken, dem Familienbild und der Rolle der Kirchen für die Verbreitung jugendlicher Lektüren. Einen wichtigen Platz nimmt die Diskussion des Verlagswesens, wobei besondere Aufmerksamkeit der Rolle der »Evangelischen Verlagsanstalt« in Berlin und dem katholischen »St.-Benno-Verlag« in Leipzig zukommt.

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Teil B widmet sich – analog zu den Vorgängerbänden – einer an den Gattungen der Kinder- und Jugendliteratur orientierten Darstellung, dabei werden folgende Schreib- und Präsentationsformen berücksichtigt: Realistische Erzählungen und Romane mit Gegenwartsstoffen und zeitgeschichtlichen Themen, Mädchenliteratur, antifaschistische Literatur, historische Erzählungen und Romane, Abenteuer- und Kriminalliteratur, Science-Fiction-Literatur, Märchen, Adaptionen, phantastische Kinderliteratur, Kinderlyrik, Bilderbücher und Kinderbuchillustrationen, Sachliteratur sowie Kinder- und Jugendzeitschriften.

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Es folgt der knapp 400 Spalten umfassende bibliographische Teil mit 798 Einzelnennungen. In ihm finden sich (nach den Anonyma) in alphabetischer Abfolge der Autorennamen nicht nur Kurzbiographien (auch von Textern, Herausgebern und Bilderbuchillustratoren) und die üblichen bibliographischen Angaben (einschließlich Angaben zu Umfang, Einband, Format, Beilagen und Preis) auch Informationen zum Lesealter (soweit im entsprechenden Buch vermerkt) und vor allem Sachannotationen, die auf die gattungsspezifischen Kapitel des darstellenden Teils verweisen. Besonders hilfreich sind Hinweise auf Rezensionen in 18 Periodika und Erwähnungen in Literaturgeschichten und Ausstellungskatalogen, ergänzt um die Nennung einzelner Werke in den Lehrplänen für das Fach Deutsch von der zweiten bis zur zehnten Klasse sowie Angaben über Prämierungen. Register zu Namen, Titeln, Chronologie und Gattungen beschließen den Band.

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Der Aufbau der einzelnen Kapitel des darstellenden Teils folgt einer deutlichen (aber nicht allzu starren) Systematik. Die einzelnen Schreib- und Präsentationsformen werden als Genre oder Gattung definiert und in ihrer literarhistorischen Entwicklung nachverfolgt, um schließlich einzelne thematische Aspekte, pädagogische Besonderheiten oder Tendenzen des literarischen Lebens genauer zu besprechen.

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Sehr zu begrüßen sind die in die einzelnen Abschnitte eingefügten »Beispieltexte«, die exemplarische Werke stellvertretend für das jeweilige Genre näher vorstellen. So wird etwa Erwin Strittmatters Tinko (1954) als Beispiel für den Aufbruch in eine sozialistische Gesellschaft nach Ende des Zweiten Weltkriegs aufgeführt, Hanns-Ulrich Lüdemanns Ich – dann eine Weile nichts (1976) stellvertretend für die schwierige Mischung, die sich aus dem thematischen Zwiespalt, einerseits einen Adoleszenzroman für Mädchen zu schreiben und trotzdem die Ankunft der Protagonistin (wie der intendierten Leserinnenschaft) im gewünschten Gesellschaftsmodell nicht aus den Augen zu verlieren, das Kapitel zur Science-Fiction-Literatur (zeitgenössisch meist als »Zukunftsromane« bezeichnet) gibt einen ganzen Strauss an Titeln, die die besonderen Möglichkeiten dieser (noch viel zu wenig untersuchten Texte) aufzeigen, bis hin zur möglichen Kritik am politischen und sozialen System der späten DDR, wie sie in Angela und Karlheinz Steinmüllers Andymon. Eine Weltraum-Utopie (1982) oder Alfred Lemans Schwarze Blumen auf Barnard 3 (1986) zumindest verhalten zu lesen ist.

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Natürlich muss im Rahmen des Handbuchs auf Zitate der Beispieltexte, die stilistische Eigenarten der Texte auch in ihrer historischen Dimension abbilden könnten, verzichtet werden, doch diese Entdeckungsreisen kann der interessierte Benutzerkreis mit Hilfe der Kurzanalysen und Bemerkungen zu Werkgeschichte und Rezeption schließlich durch eigene Lektüre selbst unternehmen.

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Kritische Anmerkungen zum Handbuch halten sich in Grenzen. Eventuell wäre der in beinahe jedem Kapitel zu findende Schematismus der (literar)historischen Phasenbildung zu diskutieren, der nur an wenigen Stellen durchbrochen wird und selbst dann als Gliederung aufrecht erhalten wird, wenn die Ausführungen im betreffenden Abschnitt deutlich betonen, dass die von der Forschung vorgeschlagene historische Sequenzierung innerhalb der DDR-Literatur nicht trägt, wie etwa im Kapitel zur »Erbeliteratur«, also zur Frage eines literarischen Kanons (Sp. 641 ff). Trotz eingehender Diskussion um mögliche Kanonisierungen in der Kinder- und Jugendliteratur, die bis in die erste Hälfte der 1950er Jahre ähnlichen Einschätzung folgt wie im westlichen Deutschland (Sagen des klassischen Altertums, Swift Gullivers Reisen, Defoes Robinson Crusoe, Spyris Heidi) und die Erweiterung als modellhaft empfundener literarischer Traditionen um die russische Literatur des ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhunderts folgt die Darstellung des Handbuchs stark den politischen Entwicklungen in der DDR. Hier wäre ein innerliterarischer Zugriff durchaus vorstellbar gewesen, der literarischen Moden und sich verändernder Lesebedürfnisse mehr Geltung verschaffen könnte als der Nachvollzug politischer Vorentscheidungen bezüglich der literarischen Produktion.

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Auch scheinen mir trotz starker obrigkeitlicher Einflussnahme einige auseinanderdriftende, sich aber parallel entwickelnde Stränge in der Entwicklung einer DDR-Kinderliteratur existiert zu haben, die womöglich eine größere Vielfalt zeigen. Besonders im Bereich der Bilderbücher wären hier Ergänzungen denkbar, die vor allem die zeitgenössische innovative Art der Illustrationen zu berücksichtigen hätte; so wird Frans Haackens grandioses Bilderbuch Das Loch in der Hose (1951) zwar im bibliographischen Teil aufgeführt und kurz gewürdigt, im Fließtext des entsprechenden Kapitels jedoch nicht erwähnt. Lou Scheper-Berkenkamps Bilderbuch Die Geschichten von Jan und Jon und von ihrem Lotsen-Fisch, erschienen 1948 in Leipzig im Verlag Wunderlich, ist weder unter dem Titel noch unter der Verfasserin und Illustratorin verzeichnet.

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Doch mit dieser Kritik begibt sich der Rezensent in einen Teufelskreis, wenn er anfängt, fehlende Werke zu suchen. Das exzellente Handbuch kann natürlich keine Vollständigkeit erreichen und es wäre kleinkrämerisch, nach Details zu suchen. Der interessierte Benutzerkreis sollte sich viel mehr freuen über akkurat gearbeitete und bei aller Kürze treffende Abschnitte wie etwa zur »verdeckten Rezeption Karl Mays« (Sp. 475 ff. mit Walter Püschels Die Trommel des Mahdi aus dem Jahre 1973 oderRobin und die Häuptlingstochter des selben Autors von 1964 als Beispieltexte) oder die umfassende Würdigung der seit 1953 erscheinenden Zeitschrift Frösi oder von Dig, Dag und Digedag, den Comic-Helden aus der Feder von Hannes Hegen [d.i. Johannes Hegenbarth], die den Erfolg der Zeitschrift Mosaik (seit 1955) ausmachten. Auch die Aufmerksamkeit dem Bestsellerautor der DDR-Jugendliteratur Bennon Pludra gegenüber ist positiv hervorzuheben, genauso wie der aufschlussreiche Abschnitt über die eigenständige Märchenrezeption im Kinderbuch der DDR.

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Was kann man Lobenderes über ein der Forschung gewidmetes Handbuch sagen, als dass es Lust macht zur Erstlektüre oder Wiederentdeckung einer – trotz aller ideologischen Absonderlichkeiten – vielfältigen und facettenreichen Kinder- und Jugendliteratur? Für eine historische Aufarbeitung des gesellschaftlichen Lebens in der DDR bietet das Genre ohnehin mehr als genügend Anknüpfungspunkte. Anhand des hier vorgestellten Materials ergeben sich darüber hinaus auch Möglichkeiten, Kanonisierungsprozessen in der Kinder- und Jugendliteratur zu begegnen, die über das Ende der DDR hinaus bis heute wirksam sein könnten. Und vielleicht gibt das Stöbern in diesem Handbuch auch Anreize, in der Schule einmal ein anderes Beispiel für DDR-Literatur zu lesen, als immer nur Ulrich Plenzdorfs Die neuen Leiden des jungen W..