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Das Wissen der Geheimdienste

  • Eva Horn: Der geheime Krieg. Verrat, Spionage und moderne Fiktion. (Fischer Taschenbuch) Frankfurt/M.: S. Fischer 2007. 544 S. Paperback. EUR (D) 14,95.
    ISBN: 978-3-596-17707-3.
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Spätestens seit Mitte der 1990er Jahre und dem damit gebotenen Abstand zum Kalten Krieg sind Studien zu Spionageliteratur und Agentenfilmen in Blüte gekommen; auch Fiktionen des Verrats und der Verschwörung sind seither immer wieder untersucht worden. Oft haben sich die Arbeiten auf einzelne (meist angloamerikanische) Autoren beschränkt und sich ihrem Gegenstand aus der Perspektive von Gattungs- und Erzähltheorie angenommen. 1 Erst jüngst werden umfassendere diskursanalytische und medientheoretische Perspektiven erprobt. 2 Diese Herangehensweisen werden nun durch eine Analyse ergänzt, die kluge literatur- und filmwissenschaftliche Einzelbeobachtungen in eine komplexe kulturwissenschaftliche Theorie über Geheimdienst und Spionage im 20. Jahrhundert integriert: durch Eva Horns umfangreichen Band über den »geheimen Krieg«.

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Staatsgeheimnisse in modernen Demokratien

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Der Studie liegt die Annahme zugrunde, dass moderne Demokratien auf Staatsgeheimnissen gründen, die von einer grundlegenden Janusköpfigkeit geprägt sind.

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Einerseits schützen Geheimnisse die politische Ordnung, indem sie einen verborgenen Raum konstituieren, in dem Wissen über die Erhaltung der Macht aufbewahrt wird (in der Regel handelt es sich um Wissen über die Feinde des Staates, die dessen Machtanspruch bestreiten). Andererseits unterlaufen die Staatsgeheimnisse das demokratische Prinzip der Transparenz und entziehen sich öffentlicher Kontrolle. Daher ist staatliche Geheimhaltung, die seit dem beginnenden 20. Jahrhundert in Geheimdiensten institutionalisiert wird, nicht nur ein Schutz, sondern zugleich »eine Pathologie des Politischen« (S. 9). Zwangsläufig erzeugt sie Konstellationen der Täuschung, der Spionage, des Verrats und des Verbrechens.

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Mit diesen Konstellationen setzt sich die Studie auseinander, wobei sich Eva Horn weniger für die einzelnen Auswüchse des Geheimdienstwesens als vielmehr grundsätzlich für seine kulturelle Struktur interessiert: Sie fragt nach den Konstruktionsprinzipien des Wissens, das staatlich geschützt wird, nach den inhärenten Gesetzmäßigkeiten des Verrats in der Moderne sowie nach den Formationen von Freundschaft und Feindschaft, die sich aus den spezifischen Konfigurationen von Geheimnis und Verrat im 20. Jahrhundert ergeben. Ihr Forschungsinteresse zielt auf eine kulturwissenschaftlich informierte Theorie des Politischen.

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Geheimnis und Fiktion

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Das argumentative Zentrum der Untersuchung wird durch die These besetzt, dass der gesamte Komplex des Staatsgeheimnisses durch Fiktionalität geprägt bzw. auf sie verwiesen sei. Dabei bestimmt die Verfasserin in Auseinandersetzung mit Jorge Luis Borges Fiktionalität als

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mögliche[n] Aggregatzustand des Wissens von Wirklichkeit […]. Fiktionen sind Hypothesen, Ausfaltungen einer Annahme oder eines Sophismus, narrative Ausspinnungen möglicher Welten oder Weltläufe (S. 50).
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Der entscheidende Aspekt dieser Bestimmung besteht in der Annahme, dass eine Fiktion – als Erzählung einer Geschichte – andere, ebenso plausible Erzählungen derselben Geschichte verdeckt. So handelt es sich bei der Fiktion um eine Ausdrucksform, die etwas artikuliert und verschweigt, die das »Modell einer Verdoppelung des Gegebenen in Geheimes und Offenliegendes« (S. 54) bildet.

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Damit lassen sich zunächst alle Ansätze, die Staatsgeheimnisse aufzudecken versuchen, als Fiktionen lesen: Wie diese produzieren die angeblichen Enthüllungen nur Versionen der Wahrheit und vergrößern eher das Geheimnis, das sie zu ergründen vorgeben. Andererseits ergibt sich aus dem zugrunde gelegten Fiktionsbegriff auch die Fiktionalität des modernen Geheimwissens selbst, das als Wissen vom Feind ebenfalls nur eine Möglichkeit darstellt, dessen Wahrheit zu erfassen, und das darum keine sicheren politischen Handlungsanleitungen bieten kann.

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Diese Zusammenhänge werden im Verlauf der Studie historisch veranschaulicht und theoretisch differenziert; darüber hinaus verweist die Verfasserin auf zahlreiche weitere Berührungspunkte zwischen Geheimdienst und Fiktion. So kommen die Strategien von Spionen zur Sprache, die im Feldeinsatz ihren Gegenspielern eine falsche Identität vorgaukeln, die Konstruktion von zwischenstaatlichen Konflikten als hypothetische Kriege und Kriegsspiele oder die Modellierung realer politischer Ereignisse nach vorgängigen fiktionalen Erzählungen.

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Der fortlaufende Bezug des Staatsgeheimnisses auf die Fiktion verleiht der Argumentation ihre Leitlinien und den unterschiedlichen Untersuchungsstrategien ihre Kohärenz. Mit Blick auf das Erkenntnisinteresse der Studie verknüpft er die Frage nach dem Politischen mit der Frage nach seiner »Poetologie«. So lässt sich Eva Horns Arbeit auch als kulturtheoretische Grundlagenstudie verstehen: Diente die Fiktion in der Vergangenheit allzu oft als Figur, die eine grundlegende Differenz von Kunst und Welt verbürgen sollte, wird sie hier in ihrer kulturellen Relevanz sichtbar gemacht und zugleich die Herausgehobenheit der Kunst aus der Welt negiert.

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Methodologie

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Dies wird auch durch die methodologische Folgerung verdeutlicht, der zufolge literarische und filmische Fiktionen die bedeutendsten Quellen für eine Untersuchung des Staatsgeheimnisses im 20. Jahrhundert darstellen. Diese Fiktionen seien, so Horn,

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die luzideste Möglichkeit, in der Moderne über das politische Geheimnis zu sprechen. Gerade weil Fiktion den Anspruch von Historikern oder Journalisten aufgibt, die eine historische Wahrheit über ein Ereignis vortragen zu können, ist sie besser als alle anderen Diskursformen geeignet, von Geheimnissen zu sprechen, ihre Form zu erläutern – ohne diese Geheimnisse endgültig lüften zu können oder zu wollen (S. 11).
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Es sind demzufolge Spionageromane und Geheimdienstfilme, literarische und filmische Erzählungen von Verrat, Verschwörung und Verschwörungstheorie, anhand derer die Verfasserin die Fragen nach der Struktur des Geheimwissens, den Figurationen des Verdachts und den Freund-Feind-Konstellationen erörtert. Wo sie publizistische und theoretische Texte über die latenten Dimensionen moderner Staatlichkeit heranzieht, stehen diese epistemologisch eher auf einer niedrigeren Stufe als die Literatur.

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Diese für die Methodik der Arbeit wichtige These, der zufolge das literarische und filmische Material einen privilegierten Erkenntnisstatus innehat, kann indes nicht überzeugen. Warum verbindet sich ein fehlender Wahrheitsanspruch zwangsläufig mit einer gesteigerten Wahrheitsfähigkeit? Warum ist Literatur ausschließlich, wie es immerzu heißt, »luzide«? Genauso gut ließe sich sagen, dass gerade sie falsche Fährten legt, in die Irre lockt, zur zusätzlichen Verrätselung des Geheimen beiträgt. Der Versuch, der Literatur einen herausgehobenen Wissensstatus zuzuweisen, ist verlockend und scheint aus literaturwissenschaftlicher Sicht wünschenswert, aber er hält einer genauen Prüfung nicht stand – auch und gerade dann nicht, wenn
nicht-literarische Texte gleichfalls als Fiktionen enttarnt sind.

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Außer durch die theoretisch heikle, aber pragmatisch dann doch legitime Konzentration auf literarische und filmische Quellen ist die Arbeit methodisch dadurch charakterisiert, dass sie sich nicht einem das Forschungsdesign vorstrukturierenden theoretischen Ansatz ausliefert. Zwar spielen Giorgio Agambens Überlegungen zum Ausnahmezustand in Homo Sacer 3 für die Entwicklung der Argumentation ebenso eine Rolle wie die an Lacan geschulten psychoanalytischen Kulturanalysen Slavoj Žižeks 4 . Aber beide Autoren geben keineswegs den Verlauf der Ausführungen vor, die sich vielmehr elegant zwischen unterschiedlichen Theorieapparaten bewegen und sich je an solchen Stellen auf diese berufen, an denen sie die Argumentation wirklich erkenntnisfördernd weiterbringen.

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Theoretische Grundlagen

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Im Anschluss an die einleitende Explikation der Fragestellungen und der Methodologie reflektiert ein theoretisches Kapitel die drei zentralen Kategorien der Arbeit – Verrat, Staatsgeheimnis und Feindschaft. Erstens und mit Blick auf den Verrat geht es dabei um verschiedene »Figuren und Verhaltensformen zwischen den Fronten: Formen der Abtrünnigkeit und Dissidenz, Figuren von Überläufern, Partisanen und Kollaborateuren« (S. 80). Anhand der Ansätze unterschiedlicher Vertreter der politischen Theorie (von Ernst Jünger über Carl Schmitt bis Hans Magnus Enzensberger), die den Verräter als Prototypen politischer Devianz in der Moderne behandeln, werden Möglichkeiten, diese Figuren zu konzipieren, besprochen.

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Zweitens wird die Einordnung des Staatsgeheimnisses in eine Systematik unterschiedlicher »Aggregatzustände« (S. 105) des Geheimen vorgenommen. Geheimnisse können sich als Entzug eines Wissens, das durch ein Verbot der Weitergabe geschützt ist (arcanum), als Tarnung eines Wissens, das dennoch erkannt, herausgelesen werden kann (secretum), oder als Unerschöpflichkeit eines Wissens, das in seiner Komplexität per se nicht erfassbar ist (mysterium), konstituieren. Das moderne Staatsgeheimnis neige dabei am ehesten der Struktur des secretum zu: »Man weiß, da ist etwas, das entdeckt und entschlüsselt werden will«. (S. 122)

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Drittens reflektieren die allgemeinen Ausführungen den Charakter des geheimen Staatswissens als eines Wissens vom Feind – Secret Intelligence ist der Ausdruck, der diese Perspektive bezeichnet. Geheimdienste sind stets auf den Kriegszustand hin ausgerichtet bzw. antizipieren den Krieg in Friedenszeiten. Weil der Feind dabei mit denselben Waffen arbeitet wie man selbst (der Spionage nämlich), muss zur Auskundschaftung des Gegners seine aktive Täuschung hinzutreten:

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Intelligence ist niemals auf reine Aufklärung, Prävention und tendenziell defensive Erhellung über die Pläne des Gegners reduzierbar – sondern ist immer auch Tarnung, Desinformation, Ablenkungsmanöver, Agitation, Abschreckung. (S. 133)
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Aber auch diese Doppelung wird vom Feind imitiert, so dass letztlich alles gesammelte Wissen unzuverlässig wird und grundsätzlich nicht mehr erkennbar ist, ob das Ergebnis der Auskundschaftung ein wahres, relevantes Wissen oder lediglich das vom Feind inszenierte Täuschungswissen darstellt (so stellt sich hier wieder das Problem der Fiktionalität). Um dies einzuschätzen, richten die Geheimdienste Abteilungen ein, die das Material systematisieren und synthetisieren, mit dem Ergebnis einer Teilung in einen abenteuerlichen Außen- und einen bürokratischen Innendienst.

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Aus den Figuren des Verräters, Ordnungen des Geheimwissens und Strukturen der Geheimdienste setzen sich sämtliche Spionageerzählungen (seien sie literarisch, filmisch, publizistisch oder wie auch immer verfasst) zusammen. Diese Elemente werden – wie die folgenden historischen Fallstudien zeigen – je nach historischer Konstellation in unterschiedlicher Weise inszeniert und kombiniert.

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Historische Fallstunden

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In den historischen Fallanalysen, die den Schwerpunkt der Arbeit und nahezu 350 Seiten ausmachen, schlägt die Arbeit einen weiten Bogen vom Beginn bis zum Ende des 20. Jahrhunderts und macht in Umrissen eine Chronologie und Entwicklung des geheimen Wissens moderner Staaten sichtbar.

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Sie untersucht (1) das britische Empire und seine Ansammlung kulturellen Wissens über die Kolonien; (2) den Ersten Weltkrieg mit seiner die Geschlechterkodierungen verwirrenden Figur der Spionin; (3) die zwanziger Jahre und die Durchdringung der demokratischen Staaten mit geheimer und öffentlicher sozialistischer Propaganda; (4) den Kalten Krieg und die mit ihm einhergehenden Aspekte der Spiegelung von West- und Ostmächten, der Übertragung des Feindbildes auf die eigenen Staatsbürger (McCarthy) und auf den Staat selbst (Verschwörungstheorien im Zusammenhang mit der Kennedy-Affäre); und (5) die Zeit nach dem 11. September 2001, die eine Dezentralisierung des Feindes und eine neue, hypertextuell organisierte Ordnung des Wissens bringt.

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Dabei werden einige Entwicklungslinien ausgemacht: erstens die Umcodierungen der Figur des Spions, der im Ersten Weltkrieg als Verführer erscheint, im Kalten Krieg zum trockenen Bürokraten wird und schließlich nur noch als Störfaktor eines zunehmend sich durchsetzenden Berechenbarkeitsphantasmas (the human factor) auftritt. Zweitens die Veränderungen in den Strategien der geheimdienstlichen Wissensbeschaffung, das sich von der Sammlung kultureller Besonderheiten des Feindeslandes (local knowledge) durch Laienagenten hin zur wissenschaftlich fundierten Projektion des Fremdverhaltens und der medial organisierten Aufklärung wandelt. Drittens die Umstrukturierungen des zu erkundenden Feindraums (und damit wiederum des über diesen einzuholenden Wissens), als dessen Leitsymbole in der Frühzeit des 20. Jahrhundert das Labyrinth, im Kalten Krieg die Mauer und heute der Pixel gelten können. Viertens schließlich die Verschiebung des Feindbildes von einem klar erkennbaren äußeren Gegner hin zu einem Gegner, der zunächst im Inneren bzw. Eigenen situiert ist, bis schließlich zu einem Feind, der sich nicht mehr erkennen lässt, weil er sich auf mikroskopischer Ebene – virengleich – einnistet und ausbreitet.

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Fazit

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Eva Horns Studie ist ausgesprochen ertragreich und unbedingt lesenswert. Die Fokussierung auf die Frage nach der fiktionalen Struktur des Wissens und die damit einhergehende kulturpoetologische Zuspitzung des Interesses gewinnen dem Thema des Staatsgeheimnisses interessante neue Perspektiven ab: Sie verdeutlichen einerseits die kulturkonstitutive Rolle der Fiktion und machen andererseits die Wucherung der latenten Dimensionen moderner Staatlichkeit und der Erzählungen über sie verständlich. Die Arbeit glänzt mit einem klaren und eigenständigen Profil und einer hohen Lesefreundlichkeit: Die Verfasserin zieht die Verständlichkeit der Argumentation dem Spiel mit Theoriejargon stets vor. Die einzelnen Studien sind durch eine beständige Rekursion auf die Leitfragen weitgehend integriert, können aber auch als aufschlussreiche eigenständige Beiträge zu den jeweiligen historischen Konstellationen gelesen werden. Wer zu Spionageliteratur und Agentenfilmen forscht, wird künftig an Eva Horns Untersuchung nicht vorbeikommen.

 
 

Anmerkungen

Vgl. exemplarisch Elena Jenssen: Die Narrativik des Geheimen. Erzählplots in den Spionageromanen von John Le Carré. Norderstedt: Libri 2000; Jost Hindersmann: Der britische Spionageroman. Vom Imperialismus bis zum Ende des Kalten Krieges. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1995.    zurück

Marcus Krause / Arno Meteling / Markus Stauff (Hg.): The Parallax View. Zur Mediologie der Verschwörung. München: Fink (im Druck).

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Giorgio Agamben: Homo Sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1995.   zurück
Slavoj Žižek: Enjoy Your Symptom. Jacques Lacan in Hollywood and Out. New York: Routledge 1992.   zurück