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Sein und Schreiben

  • Bettina von Jagow / Oliver Jahraus (Hg.): Kafka-Handbuch. Leben - Werk - Wirkung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2008. 576 S. Gebunden. EUR (D) 49,80.
    ISBN: 978-3-525-20852-6.
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Eine Essaysammlung mit Überblicks-
und Einführungscharakter

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Wer ein Nachschlagewerk erwartet, mag enttäuscht sein: Aus dem Inhaltsverzeichnis geht nicht hervor, dass auf Seite 267 etwas über Willibald Kramms Illustrationen zu Kafkas Proceß steht oder dass auf Seite 125 das literarische Preisausschreiben erwähnt wird, an dem Kafka 1906 teilgenommen hat. (Das 1979 von Hartmut Binder herausgegebene Kafka-Handbuch dagegen erstreckt sein Inhaltsverzeichnis auf fünf Seiten mit fünf Gliederungsebenen und vereinfacht so manche Suche.) Dafür gibt der Band in der Form von Essays verschiedener Kafka-Forscher, die gut leserlich gedruckt und geschriebenen sind, einen aktuellen Überblick über Leben und Werk samt Deutungsansätzen. Die im Anhang befindliche Bibliographie sowie die Werk- und Personenregister helfen außerdem jenen, die etwas Bestimmtes suchen, so dass das Nachschlagen zumindest auf diese Weise ermöglicht wird.

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Die Konzeption des Handbuchs verspricht eine einführende Übersicht über die wichtigsten Themen. Die Gliederung ist vierteilig: I. Der Mensch zwischen Leben und Werk (biographische und fürs Werk relevante Dinge), II. Werküberblick (Entwicklung der Publikationen, historische Kontextualisierungen und thematische Schwerpunkte), III. Deutungsperspektiven (Forschungsrichtungen, methodische Zugänge und Rezeptionsgeschichte) und IV. Einzelinterpretationen (u.a. zu Das Urteil, Die Verwandlung, Der Verschollene, Der Proceß, In der Strafkolonie, der Landarzt- und der Hungerkünstler-Band, Das Schloß).

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Die Beiträge sind angenehm kurz (gut zehn Seiten zumeist), wenig redundant, überblickshaft und dennoch nicht lückenhaft: Es scheint im Hinblick auf den einführenden Charakter des Buches alles Wichtige berücksichtigt zu sein, sowohl in der Gesamtkonzeption als auch in den einzelnen Beiträgen. Allerdings sind nicht alle Beiträge in derselben Qualität und Zweckmäßigkeit. Die Extreme sehen so aus, dass manche Beiträge recht eigensinnige Thesen verfolgen, die man in einem Handbuch nicht erwarten würde, während andere beinahe additiv Aspekte zu einem Überblick versammeln, ohne selbst eine Argumentationslinie zu zeichnen. Insgesamt sind die Beiträge zwar neu geschrieben (bis auf einige, die in überarbeiteter Form bereits Publiziertes beinhalten), bringen aber kaum neue Erkenntnisse oder Ansätze hervor, sondern geben größtenteils den Stand der Dinge in der Kafka-Forschung wieder.

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Erster Abschnitt: Der Mensch
zwischen Leben und Werk

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Im ersten Abschnitt geht es um Biographisches. Vorangestellt ist eine übersichtliche Dreiteilung und Charakterisierung der Phasen der Biographik von Christian Klein. Im Folgenden geht es um die wesentlichen Beziehungen in Kafkas Leben. Das Verhältnis zum Vater wird in kritischer Auseinandersetzung mit dem Brief an den Vater erörtert, der zwar literarischen Charakter habe, aber, so Michael Müller, nicht die Tatsachen verfälsche. Über Kafkas Verhältnis zu Frauen wird gesagt, die Frau sei sowohl Gefährdung als auch Quelle seines Schreibens (Vivian Liska). Christian Schärf betont die existentielle Bedeutung des Schreibens, so auch des Briefeschreibens, das von Kafka für seine literarische Arbeit produktiv gemacht werde. Ähnliches gilt fürs Tagebuchschreiben, das nicht explizit in gesonderten Heften, sondern zusammen mit Notizen und Romanskizzen vorgenommen wurde (Clayton Koelb). Über Max Brod als engstem Freund und Nachlassverwalter heißt es, er habe Kafka nicht verraten, indem er seinem Willen, alles von ihm Geschriebene zu verbrennen, nicht nachgekommen ist, denn er habe, so Galili Shahar und Michal Ben-Horin, Kafkas Wunsch zu publizieren dahinter erkannt. Sander Gilman berichtet von Kafkas beruflichem Werdegang und wie er bei der »Assicurazioni Generali« regelmäßig befördert wurde, hohes Ansehen genoss, gut bezahlt wurde und sich dennoch oft krank meldete wegen Erschöpfung. Über den Verlauf der Krankheit wird ausführlich informiert, allerdings mit dem Resümee, die Existenz an sich, nicht die Tuberkulose, sei Kafkas eigentliche Krankheit gewesen.

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Charakteristisch für die Beiträge im ersten Abschnitt ist der Versuch, Leben und Werk in möglichst enger Verbindung zu sehen. Das gilt bereits für die 2005 von Peter-André Alt verfasste Biographie, in der Leben und Werk als Einheit betrachtet werden, genauer gesagt, das Leben als Konstruktion, deren Fluchtlinien der Literatur entstammten, wie Klein referiert. Die Konflikte mit dem Vater und den Frauen werden als Katalysatoren des Schreibens gedeutet und das Tagebuch- bzw. Briefeschreiben gilt als unablöslich sowohl von der literarischen Produktion als auch vom alltäglichen Leben. Dieser Ansatz ist im Ganzen überzeugend, teilweise allerdings etwas forciert, beispielsweise wenn die Katastrophen innerhalb der erzählten Welten vor dem Hintergrund gelesen werden, dass Kafka Fachmann für Arbeitsunfälle gewesen ist.

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Etwas deplatziert ist der Beitrag über Kafka und die Frauen, denn man erfährt hier kaum etwas über die Frauen, denen Kafka begegnet ist, es werden vielmehr feministische Interpretationen referiert bzw. eine »Feminisierung« des Schreibens aus der Geburtsmetapher abgeleitet. Im Abschnitt über die Deutungsperspektiven wäre dieser Aufsatz passender einquartiert.

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Zweiter Abschnitt: Werküberblick

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Der Werküberblick beginnt mit einem Beitrag von Joachim Unseld über Kafkas Publikationen zu Lebzeiten, der daran erinnert, dass Kafka heute zwar einer der berühmtesten Schriftsteller der Welt ist, zu Lebzeiten aber nicht einmal als freier Schriftsteller eine Existenz aufbauen konnte, weil er im Literaturbetrieb keine besonders gute Stellung hatte. Der Grund für sein Scheitern an der Öffentlichkeit und für das fragmentarische Schreiben seien also die gescheiterten Verlagsbeziehungen gewesen. Annette Steinich gibt sodann eine Charakterisierung und Beurteilung der Editionen von Brod (1935), der Kritischen Kafka Ausgabe (seit 1982 erscheinend) und der Frankfurter Kafka Ausgabe (seit 1995 erscheinend). Im Folgenden werden einige Merkmale von Kafkas Schreiben (Stanley Corngold), seinem kulturellen und literarhistorischen Umfeld untersucht (Hans Dieter Zimmermann, Scott Spector) sowie einige spezielle Aspekte: die Bedeutung von Judentum (Andreas B. Kilcher), Recht (Ulf Abraham) und Film (Oliver Jahraus).

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Dieser Abschnitt ist konzeptionell uneinheitlich. Die beiden ersten Beiträge passen zusammen, die übrigen hätten auf den biographischen Teil (beispielsweise Zimmermanns Aufsatz über Kafkas Prag) und den über die Deutungsperspektiven aufgeteilt werden können (vor allem der über Recht und Justiz von Abraham). Jahraus’ Ausführungen über Kafka und Film zerfallen in zwei separate Teile, weil sie unter einem Namen zwei Dinge behandeln: Es geht zum einen um Kafkas Filmerleben (also eher biographisch) und zum anderen um filmische Adaptionen von Kafkas Texten (also eher rezeptionsgeschichtlich). Der Abschnittstitel »Werküberblick« passt nicht recht und fasst sehr Heterogenes zusammen. Die Kennzeichnung dieses Teils im Vorwort des Handbuchs stiftet leider auch nicht die hier fehlende Kohärenz: »Der Werküberblick thematisiert sodann Kafkas Publikationen zu Lebzeiten, seinen Nachlass und die Editionspraxis, sein Schreiben und seine Einbettung in Raum, Zeit und Systeme.« (S. 10)

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Dritter Abschnitt: Deutungsperspektiven

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Verschiedene Interpretationsansätze werden hier wiedergegeben, so beispielsweise zionistische (Mark H. Gelber), dekonstruktivistische (Detlef Kremer, Maximilian G. Burkhart), gendertheoretische (Dagmar C. Lorenz) und psychoanalytische (Henry Sussmann) Lesarten, aber auch Metareflexionen der Kafka-typischen Interpretationsprobleme (Oliver Jahraus, Els Andringa). Zwar ist diese Gruppe von Beiträgen unspezifisch betitelt, denn Referate von Forschungspositionen enthalten fast alle, aber eine konzeptionelle Uneinheitlichkeit fällt dennoch auf. Der umfassende Bericht der Kafka-Rezeption von Waldemar Fromm, der viele nützliche Literaturangaben enthält, müsste eigentlich eine eigene Rubrik zur Rezeptionsgeschichte konstituieren, in die etwa auch die Ausführungen von Oliver Jahraus über Kafka-Filme passen würden. Sabine I. Gölz behandelt mit der Parabel bzw. dem Parabolischen eine ästhetische Besonderheit Kafkas und Monika Schmitz-Emans referiert unter dem Titel »Kafka und die Weltliteratur«, was Kafka gelesen hat (biographisch) und von wem er gelesen wurde (rezeptionsgeschichtlich).

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Im Einzelnen sind die Beiträge teilweise sehr nah beieinander, bis hin zu Überschneidungen (etwa bei Kremer und Burkhart, die beide über Derrida schreiben), teilweise aber auch sehr unterschiedlich in Stil und Anspruch: Burkhart etwa erklärt im Einführungsstil, was Dekonstruktion ist und liefert eine kritisch distanzierte Darstellung dazu, während Gölz eigene und eigensinnige Lesarten präsentiert. Sie deutet beispielweise das Gibs auf!, das in der gleichnamigen Erzählung eine Antwort auf die Frage nach dem Weg zum Bahnhof ist, als Aufgabe des Lesens. Diese Lektüre ist zugleich charakteristisch für einen großen Teil der Deutungsperspektiven, denn die poetologische Dimension in Kafkas Texten wird von mehreren Beiträgern als wesentlicher Interpretationsansatz herausgestrichen. So werden Gibs auf! oder Vor dem Gesetz oder Der Kreisel als Gleichnisse vergeblicher Kafka-Lektüren verstanden.

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Manche Beiträge sind eher einführend, andere eher voraussetzungsreich. Die Referate der Rezeption bei Fromm fallen teilweise sehr knapp aus, so dass jemand, der nicht weiß, was beispielsweise eine dekonstruktivistische Denkfigur ausmacht, schwer folgen kann. Auch Kremer gibt mit seinem pauschalen Begriff von traditioneller Hermeneutik keine Erklärungen, welche Tradition genau gemeint ist. Daran werden sich aber nicht nur unkundige Leser stoßen, sondern auch die, die wissen, dass unter Hermeneutik nicht einfach ein Glaube an eine eindeutige und immergültige Sinnstiftung zu verstehen ist, zumal der Begriff seit Schleiermacher eine unendliche Aufgabe des Verstehens impliziert, also etwas, das einige Poststrukturalisten als antihermeneutische Innovation beanspruchen.

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Vierter Abschnitt: Einzelinterpretationen

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Der letzte Abschnitt enthält, vergleichbar mit dem Reclam-Bändchen von Michael Müller (Franz Kafka. Romane und Erzählungen, Stuttgart 1994), Interpretationen ausgewählter Werke. Zwar fehlt auch hier der Handbuch-Charakter, zu dem gehört, dass das Werk umfassend und in allen Gattungen vertreten ist und dass auch kleinere Texte im Inhaltsverzeichnis auftauchen, die wichtigsten Werke werden jedoch behandelt. Eine Skizzierung der Werkphasen hätte freilich kompensatorisch und der Übersicht halber vorangestellt werden können.

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Der Betrachtung-Band erscheint 1912 bei Rowohlt als Kafkas erste Publikation und enthält 18 Texte, die von Bettina von Jagow zusammenfassend vorgestellt werden. Dabei wird ein Motiv besonders hervorgehoben, weil es für Kafka charakteristisch sei, und zwar die »Sublimierung allen Begehrens in der Schrift« (S. 406). Oliver Jahraus deutet Das Urteil wie schon in seinem 2006 bei Reclam erschienenen Buch Kafka. Leben, Schreiben, Machtapparate als »modellhafte Szene eines innerfamiliären Machtkampfes auf Leben und Tod« (S. 414). Die Verwandlung wird von Ulf Abraham in fünf Perspektiven beleuchtet: biographisch als Ausweglosigkeit, psychoanalytisch als Verdrängung, ökonomisch als Ausbeutung, ethisch als verfehlte Existenz und interaktionspsycholgisch als Vereinsamung; es folgt eine Betrachtung in Werkkontext und Rezeptionsgeschichte. Die Darstellungsform fällt eher additiv als argumentativ aus. Dasselbe gilt für Bodo Plachtas Ausführungen zu Der Heizer / Der Verschollene. Der zusammengefasste Titel suggeriert irritierenderweise, der Heizer werde pars pro toto oder primär analysiert, dabei wird er nicht einmal in besonderer Weise auf den Rest des Romanfragments bezogen. Anders ist das bei Hans H. Hiebels Analyse von Der Proceß / Vor dem Gesetz, in der das Romanfragment als »Ausweitung einer Parabel, der ›Legende‹ Vor dem Gesetz, d.h. der Geschichte vom vergeblichen Bemühen, Einlass in das ›Gesetz‹ zu erhalten« (S. 456) gelesen wird. Alexander Honold stellt politische und poetologische Interpretationen von In der Strafkolonie vor und bezieht die kolonialen, juristischen und christologischen Implikationen der Erzählung auf die Prozesse der literarischen Textproduktion und -rezeption. Als Kommentar Kafkas zu seinem Schreibprozess bzw. zu seiner Existenz als Schriftsteller werden auch einige Erzählungen aus dem Landarzt- und Hungerkünstler-Band gelesen. Die biographische Fremdheitserfahrung führe, so von Jagow, zu der Fremdheit und Verlorenheit, die das kafkaeske Schreiben kennzeichne, und die Irrfahrt des Landarztes sei mit der der Schriftstellerexistenz Kafkas zu vergleichen. Ähnliches machen Jahraus und von Jagow geltend für den gesellschaftsfernen Status der Kunst sowie der um Autonomie ringenden Künstler in Josefine die Sängerin oder Das Volk der Mäuse und Der Hungerkünstler. Während die Tier- und Künstlergeschichten das Thema Kunst im Spannungsfeld von Individuum und Gesellschaft größtenteils explizit beinhalten, so dass eine autobiographische Deutung naheliegt, versucht Michael Müller, sogar Das Schloß in dieser Weise zu interpretieren: Sein Kommentar hat einen für ein Handbuch auffallend engen Fokus, indem er das Romanfragment als Streben nach einem höheren Dasein in der Kunst auslegt.

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»Der Roman bin ich«

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Insgesamt ist die autobiographisch-poetologische Perspektive auf Kafkas Werk charakteristisch für das neue Handbuch. Dabei sind die Attribute ›autobiographisch‹ und ›poetologisch‹ nahezu synonym zu verstehen, denn das neue Interpretationsmuster der hier versammelten Kafka-Lektüren resultiert offenbar aus der Einsicht, dass das Schreiben für Kafka nicht nur ein wichtiger Lebensinhalt, sondern auf bodenlose Weise existenzgründend ist. »Der Roman bin ich«, sagt Kafka – und diese Identifikation von Schreiben und Sein fordert die Forschung dazu heraus, seine Texte als Allegorien des Schreibprozesses zu lesen. Dieser Ansatz ist nicht verfehlt, aber äußerst verengt. Würden wir uns 125 Jahre nach Kafkas Geburt noch für sein Werk interessieren, wenn es in variierenden Bildern immer dasselbe sagte und nur vom Schreiben handelte? Heuristisch ist eine verengte Sichtweise ja zu rechtfertigen und hat sicherlich auch zu frischen Erkenntnissen geführt. Kremer und nachkommend Schärf verfolgen diesen Ansatz ja schon seit längerem. Als paradigmatische Deutungslinie für ein Handbuch ist er aber nicht neutral und aspektreich genug. Da ist die umgekehrte Herangehensweise von Peter-André Alt angemessener: Die Frage nach Kafkas Biographie ist in engster Verknüpfung mit dem Schreiben zu beantworten. Aber alle Texte aufs Poetologische zu reduzieren, wäre ebenso beschränkt wie das Einmünden jeder Lektüre in die Einsicht der Unlesbarkeit, die auch einmal paradigmatisch gewesen ist. So eng und vordefiniert ist der Rahmen der Analysen dann erfreulicherweise doch nicht. Dies ist nicht zuletzt der Vorzug der Pluralität der Stimmen, die sich hier bündeln, während der Nachtteil die bereits erwähnte qualitative, stilistische und konzeptionelle Heterogenität des Bandes ist.

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Für das Studium oder zur Unterrichtsvorbereitung ist er auf jeden Fall gut zu gebrauchen, auch wenn er etwas teuer ist und nicht ganz die Erwartungen an die Systematik eines Handbuchs erfüllt. Ob das Kafka-Handbuch, das in Kürze von Bernd Auerochs und Manfred Engel herausgegeben wird, mehr Handbuchcharakter hat, wird sich zeigen. Billiger ists jedenfalls nicht.