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Chaos, Computerspiele und
kontextorientierter Pragmatismus

  • Andreas Jahn-Sudmann / Ralf Stockmann (Hg.): Computer Games as a Sociocultural Phenomenon. Games Without Frontiers - War Without Tears. New York, Houndmills: Palgrave Macmillan 2008. 229 S. Gebunden. EUR (D) 60,99.
    ISBN: 13 978-0-230-54544-1.
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Die inzwischen nicht mehr ganz neue Kulturtechnik des Spiels mit dem Computer ist längst im medialen Mainstream angekommen. Insofern überrascht es nicht, dass in den letzten Jahren zunehmend auch die Medien- und Kulturwissenschaften ihre Zuständigkeit für das neue Medium entdeckt haben. Allerdings ist im Anschluss an Britta Neitzel und Rolf F. Nohr zu konstatieren, dass »die trans-, multi- und interdisziplinären Zugriffe auf das Computerspiel« nach wie vor »jung, disparat und noch keineswegs im Sinne einer Disziplin konsistent sind.« 1 Der dänische Computerspielforscher Jesper Juul hat unlängst im Editorial der Game Studies im Hinblick auf die verschiedenen Disziplinen, die sich heute mit Computerspielen beschäftigen, gar von einem Zustand des produktiven Chaos gesprochen. 2 Tatsächlich scheint die Zahl möglicher Zugänge zum Computerspiel beinahe so groß zu sein wie die Zahl der Spiele selbst. Allerdings macht gerade diese Vielfalt an Zugängen das von Juul diagnostizierte Chaos produktiv, was sich nicht zuletzt in den unzähligen Zeitschriften, Tagungen und Sammelbänden manifestiert, die sich heute aus medien- und kulturwissenschaftlichen Perspektiven dem ›Phänomen Computerspiel‹ widmen. 3

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Obwohl sich hier bisher kaum von einer konsistenten ›Disziplin‹ sprechen lässt, haben die Computer Game Studies ihren ersten großen Methodenstreit bereits überwunden. Vor dem Hintergrund eines zunehmenden Einflusses im weitesten Sinne narratologischer Fragestellungen auf die akademische Beschäftigung mit dem neuen Medium forderten zur Jahrtausendwende Forscher wie Espen Aarseth eine allein der Untersuchung des Computerspiels gewidmete »independent academic structure« 4 . Für Aarseth und viele seiner Anhänger ging es bei dieser ›Unabhängigkeitserklärung‹ gegenüber etablierten Disziplinen – neben der durchaus erfolgreichen Sicherung von Stellen und der Finanzierung von Forschungsprojekten – in erster Linie um die Untersuchung von Computerspielen als Spiele und eben nicht als eine neue Form von Erzählungen. 5 Zwar werden die Auseinandersetzungen zwischen ›Ludologen‹ wie Espen Aarseth, Jesper Juul oder Gonzalo Frasca und ›Narratologen‹ wie Henry Jenkins, Janet Murray oder Marie-Laure Ryan inzwischen in einem deutlich versöhnlicheren Tonfall als noch vor einigen Jahren geführt. Doch obwohl die Computer Game Studies soweit etabliert zu sein scheinen, dass keine dringende Notwendigkeit zur polemischen Markierung des eigenen Reviers mehr besteht, kann kaum von so etwas wie einem methodologischen Konsens die Rede sein.

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Dabei lässt sich die Vielfalt der methodischen Zugänge zum Computerspiel und seinen Spielern offensichtlich nicht auf die Opposition zwischen ›Narratologen‹ und ›Ludologen‹ reduzieren. So hat etwa Julian Kücklich in einem aktuellen Forschungsbericht zu zeigen versucht,

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dass der eigentliche Konflikt in den Game Studies nicht zwischen Ludologie und Narratologie stattfindet, sondern zwischen einem formalistischen Essentialismus und einem kontextorientierten Pragmatismus. 6
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Zwar scheint es kaum sinnvoll zu sein, die in erster Linie aus wissenschaftspolitischen Gründen konstruierte Opposition zwischen ›Narratologen‹ und ›Ludologen‹ durch eine nicht weniger – und wohl ebenfalls nicht grundlos – konstruierte Opposition zwischen ›formalistischen Essentialisten‹ und ›kontextorientierten Pragmatikern‹ zu ersetzen. Zumindest lässt sich aber im Anschluss an Kücklich feststellen, dass die Computer Game Studies ihrer ›formalistischen Hochphase‹ – so es eine solche überhaupt je wirklich gegeben hat – inzwischen weitgehend entwachsen sind und dass die durch den Titel des hier zu besprechenden Sammelbandes in Aussicht gestellte Auseinandersetzung mit dem Computerspiel als ›soziokulturellem Phänomen‹ also durchaus den aktuellen medien- und kulturwissenschaftlichen Entwicklungen in diesem Bereich entspricht.

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Zur Struktur des Sammelbandes

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Die Herausgeber des Bandes betonen in ihrer Einleitung nicht nur den großen kommerziellen Erfolg heutiger Computerspiele, sondern weisen auch darauf hin, dass sie in weiten Teilen der Gesellschaft immer noch als kindische Zeitverschwendung betrachtet oder gar als sogenannte ›Killerspiele‹ mit Amokläufen und anderen Formen von Gewalt assoziiert werden. Erklärtes Ziel der Herausgeber ist es nun nicht, als Advokaten des derart ›bedrängten‹ Computerspiels primär dessen – fraglos vorhandene – soziokulturelle Relevanz zu verteidigen. Vielmehr schreiben sie sich die kritische Auseinandersetzung mit diesem komplexen – und eben nicht auf seine narrativen und / oder ludischen Merkmale reduzierbaren – soziokulturellen Phänomen auf die (Druck-)Fahnen:

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Of course, the acknowledgement of game studies cannot be reduced to cultural upgrading and avoiding everything else that might reinforce its negative image. The point is not to take games seriously, but to take them seriously in a critical way. (S. xv)
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Dieses begrüßenswerte Vorhaben resultiert dabei in einem thematisch, methodisch und qualitativ überaus heterogenen Sammelband, der sich insofern durchaus als Spiegelbild der eingangs skizzierten ›chaotischen‹ Situation innerhalb der Computer Game Studies begreifen lässt.

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Die neunzehn Beiträge des Bandes sind zunächst in sechs Themenbereiche gegliedert, wobei allerdings auch innerhalb der jeweiligen Themenbereiche recht unterschiedliche Frage- und Problemstellungen verhandelt werden. So umfasst etwa der erste Themenbereich zu Design und Ästhetik von Computerspielen (»Game Design and Aesthetics«) vier Beiträge, die sich mit dem ästhetischen Vokabular des Computerspiels (Joost van Dreunen, »The Aesthetic Vocabulary of Video Games«), den Möglichkeiten und Grenzen dokumentarischer Computerspiele (Ian Bogost und Cindy Poremba, »Can Games Get Real? A Closer Look at ›Documentary‹ Digital Games«), der Rolle von Emotionen bei der Rezeption von Filmen und Computerspielen (Doris C. Rusch, »Emotional Design of Computer Games and Fiction Films«), sowie einer Ansammlung von Einzelproblemen im Kontext des Designs von Computerspielen (Henry Jenkins und Kurt Squire, »›Applied Game Theory‹: Innovation, Diversity, Experimentation in Contemporary Game Design«) auseinandersetzen. Die Beiträge zu Raum und Zeit (»Space and Time«), Krieg und Gewalt (»War and Violence«), Ethik und Moral (»Ethics and Morality«), Politik und Ideologie (»Politics and Ideology«) sowie Computerspiel(ern) und kulturellen Identitäten (»Computer Game Play(ers) and Cultural Identities«) behandeln ähnlich breit gestreute Aspekte der jeweiligen Themenbereiche.

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Da es ohnehin kaum möglich zu sein scheint, einer solchen Vielfalt im Rahmen dieser verhältnismäßig kurzen Rezension umfassend gerecht zu werden, möchte ich im Folgenden vor allem exemplarisch auf besonders gelungene Einzelbeiträge eingehen, wobei ich mich an drei übergeordneten Fragestellungen orientiere, die quer durch die von den Herausgebern unterschiedenen Bereiche thematisiert werden. Bei diesen Fragestellungen handelt es sich – erstens – um die Beschäftigung mit der Rezeption von Computerspielen, insbesondere im Kontext der Diskussion um die in vielen aktuellen Spielen zu findenden exzessiven Gewaltdarstellungen, – zweitens – um die Behandlung von Computerspielen, ihren Spielregeln und fiktionalen Welten als ›Texte‹ im weitesten Sinne und – drittens – um die Auseinandersetzung mit den soziokulturellen Kontexten innerhalb derer Computerspiele produziert, vertrieben und rezipiert werden. Damit sei keineswegs behauptet, dass sich alle neunzehn Beiträge des Sammelbandes eindeutig und widerstandslos einem der skizzierten Problembereiche zuordnen ließen. Mir scheint allerdings eine solche Annäherung am ehesten eine Vorstellung der thematischen Breite von Computer Games as a Sociocultural Phenomenon vermitteln zu können, ohne dabei den Anspruch der Rezension, dem Leser einen guten ersten Überblick über den Band zu verschaffen, aufgeben zu müssen.

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Das Spiel und seine Rezeption: Sucht,
Gewalt und Spielgenuss

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Im Hinblick auf die Behandlung der Frage nach der Rezeption von Computerspielen im Rahmen des hier zu rezensierenden Sammelbandes ist zunächst festzustellen, dass zahlreiche Beiträge an die seit einigen Jahren wieder intensiv geführte – in Deutschland bisher vor allem mit dem fragwürdigen Begriff des ›Killerspiels‹ und erst in letzter Zeit zunehmend mit dem Problem der Computerspielsucht verbundene – Debatte um negative Wirkungen bestimmter Computerspiele und den Sinn und Unsinn strengerer gesetzlicher Regelungen anschließen. Die dann tatsächlich hergestellten Bezüge sind allerdings nicht selten eher oberflächlich.

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So verknüpft etwa Jeffrey P. Cain in »Another Bricolage in the Wall: Deleuze and Teenage Alienation« eine durch Gilles Deleuze und Félix Guattari inspirierte ›Mikro-Analyse‹ des Massive Multiplayer Online Role Playing Game (MMORPG) EverQuest sowohl mit der Gewaltdebatte als auch mit dem Problem der Computerspielsucht, ohne dass sich seine recht abstrakten Überlegungen zu einem »model of addi(c)tion as a kind of addition« (S. 57) zwingend aus der durchaus treffenden Beschreibung der Funktionsweise und spezifischen Struktur des MMORPGs ergeben würden. Auch der von Claudia Herbst in »Programming Violence: Language and the Making of Interactive Media« unternommene Versuch, den Programmcode als zentralen »factor in the critical inquiries into correlations between gaming and violent behaviour« (S. 77) zu etablieren, vermag nur bedingt zu überzeugen.

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Um so positiver sticht der Beitrag von Christoph Klimmt, Hannah Schmid, Andreas Nosper, Tilo Hartmann und Peter Vorderer hervor (»›Moral Management‹: Dealing with Moral Concerns to Maintain Enjoyment of Violent Video Games«), der sich aus psychologischer Perspektive mit der Frage auseinandersetzt, welche Rolle Formen von »moral reasoning« (S. 109) der Spieler während des Spiels im Hinblick auf die »pleasurable qualities of video-game violence« (S. 109) spielen. Die Autoren argumentieren, dass ›gewalthaltige‹ Computerspiele ihren Spielern bestimmte »moral cues« (S. 115) zur Verfügung stellen, die es diesen ermöglichen, das Spielgeschehen trotz seiner moralisch fragwürdigen Qualität zu genießen.

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So bietet vor allem die narrative Struktur eines Computerspiels Rechtfertigungsmöglichkeiten für gewalttätige Spielhandlungen, indem diese etwa in den Kontext einfacher »good-versus-evil stories« (S. 115) gestellt werden. Klimmt und Kollegen gehen dabei aber durchaus auch auf subtilere Strategien der Rechtfertigung ein, wie sie etwa bei einem vorteilhaften Vergleich der durch den Spieler ausgelösten gewalttätigen Handlungen mit jenen der Gegner, der Abgabe der Verantwortung für durch den Spieler ausgelöste gewalttätige Handlungen an ›höhere Autoritäten‹, oder der Etablierung von Situationen, in denen gewalttätige Handlungen als Mittel zur Selbstverteidigung verstanden werden müssen, vorliegen.

[17] 

Obwohl die Autoren ihre »theory of enjoyment of violent video games that is enabled by cognitive prevention or override of moral conflict« (S. 117) bedauerlicherweise – und durchaus vergleichbar mit den ebenfalls schwerpunktmäßig mit Rezeptionsprozessen befassten Beiträgen von Doris C. Rusch (»Emotional Design of Computer Games and Fiction Films«) oder Peter Berger (»There and Back again: Reuse, Signifiers and Consistency in Created Spaces«), auf die ich später in einem anderen Zusammenhang noch zurückkommen werde – kaum an konkreten Spielen entwickeln, handelt es sich hier fraglos um einen wichtigen Beitrag zur ›Rezeptionstheorie‹ des Computerspiels, die nach wie vor ein gewisses Desiderat der Computer Game Studies darstellt.

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Das Spiel als ›Text‹:
Spielregeln und fiktionale Welten

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Nun soll keineswegs der Eindruck entstehen, dass die im Titel des Sammelbandes angekündigte Betrachtung von Computerspielen als ›soziokulturelle Phänomene‹ sich ausschließlich auf Rezeptionsprozesse konzentrieren und darüber die detaillierte Analyse der ihnen zugrunde liegenden Spielregeln und der durch sie dargestellten fiktionalen Welten vernachlässigen würde. Allerdings wird die in der Mehrzahl der Beiträge postulierte Beziehung zwischen der spezifischen Gestaltung von Computerspielen und ihren unterschiedlichen soziokulturellen Kontexten nicht von allen Autoren gleichermaßen sorgfältig konstruiert.

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So trifft etwa Joost van Dreunens Behauptung, dass die visuelle Darstellungsebene aktueller Computerspiele Hinweise auf »the social organization of contemporary society« (S. 3) enthält, sicherlich auf die eine oder andere Weise zu, bereichert seine Auseinandersetzung mit deren »particular visual syntax, grammar and vocabulary« (S. 4) aber in recht geringem Maße. In dieser Hinsicht können eher diejenigen Beiträge überzeugen, die Spielregeln oder fiktionale Welten bestimmter Computerspiele als ›Texte‹ zu lesen versuchen, in denen sich spezifische gesellschaftliche Positionen und / oder Normen- und Wertesysteme manifestieren.

[21] 

Besonders gelungen scheint mir dabei der Beitrag der Herausgeber Andreas Jahn-Sudmann und Ralf Stockmann zu sein, die in »Anti-PC Games: Exploring Articulations of the Politically Incorrect in GTA San Andreas« versuchen, am Beispiel des zum Erscheinungsdatum des Bandes aktuellsten Vertreters der kontroversen Grand Theft Auto-Serie das Konzept der ›Political Incorrectness‹ für die Analyse von Computerspielen fruchtbar zu machen. So betonen sie in ihren methodologischen Vorüberlegungen zwar die Problematik von »hasty assessments and normative predefinitions« (S. 152), erarbeiten aber nichtsdestoweniger eine überzeugende »(heuristic) definition of the politically incorrect« (S. 152).

[22] 

Diese ermöglicht es ihnen u.a., die rassistischen, sexistischen, heteronormativen und gewaltverherrlichenden Elemente der fiktionalen Welt von San Andreas »in terms of a calculated provocation or a wilful breach of taboo« (S. 152) zu analysieren und ihre Funktion als »marketing techniques« (S. 160) zu kritisieren, ohne dabei die weitgehend ironische Rahmung dieser Elemente aus den Augen zu verlieren. Zudem stellen die Autoren ihre Analyse von San Andreas immer wieder in einen breiteren kulturgeschichtlichen Kontext, so dass sich ihr Beitrag an einigen Stellen gar als Vorarbeit zu einer umfassenderen ›Geschichte des politisch Unkorrekten‹ lesen lässt.

[23] 

Letztlich ist es gerade die derart kontextualisierte Analyse eines Computerspiels, die »Anti-PC Games« etwa von Sven O. Cavalcantis »Preconscious Apocalypse: The Failure of Captalism in Computer Games« oder Nowell Marshalls »Borders and Bodies in City of Heroes: (Re)imaging American Identity Post 9/11« unterscheidet. Während Cavalcanti in seinem Versuch, die fiktionalen Welten heutiger Computerspiele kapitalismuskritisch als »extensions of present society« (S. 131) zu lesen, kaum im Detail auf einzelne Spiele eingeht – was auch daran liegen könnte, dass »the author hasn’t got enough time to extensively play computer games« (S. 139) –, betrachtet Marshall in seinem – dabei allerdings durchaus überzeugenden – Beitrag den »social impact of bodily discourses circulating within persistent worlds« (S. 149) in erster Linie anhand des MMORPG City of Heroes.

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Das Spiel als ›soziokulturelles Phänomen‹:
Produktion und Rezeption

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Obwohl also die Mehrzahl der Beiträge das ›Phänomen‹ des Computerspiels auf die eine oder andere Weise mit unterschiedlichen soziokulturellen Kontexten in Verbindung bringt, finden sich erstaunlicherweise nur wenige Autoren, die die heutigen Computerspielen zugrundeliegenden Produktionsprozesse ins Zentrum ihrer Überlegungen stellen. Abschließend sollen daher die Beiträge von Henry Lowood (»Impotence and Agency: Computer Games as a Post-9/11 Battlefield«) und Dean Chan (»Negotiating Online Computer Games in East Asia: Manufacturing Asian MMORPGs and Marketing ›Asianness‹«) hervorgehoben werden, die sich jeweils mit zwei sehr unterschiedlichen Kontexten beschäftigen, in denen Computerspiele produziert und rezipiert werden.

[26] 

Chan geht in seinem Versuch einer »contextual analysis of Asian-designed persistent-world games« (S. 195) sowohl auf typische strukturelle Merkmale asiatischer MMORPGs als auch auf ihre Vermarktung als asiatische MMORPGs ein. Der Beitrag verbindet dabei einen informativen und auf die asiatische Computerspielindustrie fokussierten Überblick zur Entwicklung des asiatischen MMORPGs mit weiterführenden Überlegungen zur Frage, inwiefern »›Asianness‹ is subject to intricate processes of modulation, localization and hybridization« (S. 196). Dabei betont Chans wie kaum ein anderer Beitrag des Sammelbandes den Zusammenhang zwischen der Gestaltung eines Computerspiels und dem gesellschaftlichen Kontext, in dem es produziert und vertrieben wird.

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Allerdings vertritt auch Lowood in seinem ebenfalls überaus gelungenen Beitrag die grundlegende Annahme, dass gesellschaftliche Entwicklungen sich in der Gestaltung von Computerspielen niederschlagen. Anders als Chan setzt er sich mit dieser These jedoch im Kontext der Folgen auseinander, die die Anschläge vom 11. September nicht nur auf die amerikanische Gesellschaft, sondern eben auch auf in Amerika produzierte und veröffentlichte Computerspiele hatten. Zwar ist Lowoods Beitrag mindestens ebenso stark historisch orientiert wie Chans, aber die Konzentration auf den relativ kurzen Zeitraum von 2001 bis 2005 ermöglicht ihm eine deutlich detailliertere Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Reaktionen auf die Anschläge vom 11. September und den darauf folgenden War on Terror.

[28] 

Danach reagierte die Computerspielindustrie auf die Anschläge zunächst vor allem, indem »projects with images, plotlines or game-actions reminiscent of the events« (S. 78) eingestellt, verzögert oder zumindest stark modifiziert wurden. Lowood belässt es aber nicht bei dieser Feststellung, sondern geht auch auf die recht unmittelbaren Reaktionen bestimmter Independent Games sowie unterschiedlicher Formen Spieler-seitiger Veränderung bereits existierender Spiele im Rahmen sogenannter ›Mods‹ ein, deren Ausrichtung von »repetitive revenge fantasies« (S. 81) zu dezidierter Kritik am War on Terror etwa in Gonzalo Frascas Flash-basiertem September 12th reicht.

[29] 

Der Hinweis auf den propagandistischen Shooter America’s Army und sein von der Hisbollah finanziertes Gegenstück Special Force runden Lowoods gelungenen Beitrag ab. Unabhängig davon, ob man seiner Schlussfolgerung, dass Computerspiele mit Kriegsthematik nach den Anschlägen vom 11. September als »medium for responding to an environment of threat and uncertainty« (S. 86) verstanden werden müssen, uneingeschränkt folgen möchte, stellen Lowoods Überlegungen zum Einfluss bestimmter gesellschaftlicher Entwicklungen auf die Produktion und Rezeption von Computerspielen für die von den Herausgebern des Sammelbandes angestrebten Critical Game Studies fraglos eine Bereicherung dar.

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Fazit

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Abschließend sei noch einmal betont, dass es sich bei Computer Games as a Sociocultural Phenomenon um einen nicht nur thematisch außerordentlich heterogenen Sammelband handelt. Vielmehr schwankt gerade auch die Qualität und der ›wissenschaftliche Anspruch‹ der einzelnen Beiträge – nicht zuletzt im Hinblick auf die teilweise recht selektive Kenntnisnahme des Forschungsstands – beträchtlich. So darf bezweifelt werden, dass sich Jesper Juuls M.A.-Arbeit von 2001 tatsächlich als Beleg für Doris C. Ruschs immerhin in einem 2008 erschienenem Sammelband getätigte Behauptung eignet, dass »intermedial analyses of games have focused mainly on the structural characteristics of games and films« (S. 22). Zumal sie etwa Jonathan Fromes aufschlussreichen Vergleich der durch Filme und Computerspiele hervorgerufenen Emotionen nicht zur Kenntnis nimmt. 7

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Während derartige ›blinde Flecken‹ Ruschs Argumentation allerdings kaum beschädigen, vermag Peter Bergers Gleichsetzung von ›Immersion‹ und ›Mimesis‹ schon deshalb kaum zu überzeugen, da sie völlig ohne Verweis auf auch nur eine der zahlreichen einschlägigen Arbeiten zu diesen ohnehin nicht unumstrittenen Begriffen auskommt. 8 Das ist umso befremdlicher, als Bergers anschließende Überlegungen im Hinblick auf die von ihm als ›Mimesis‹ bezeichnete ›Selbstvergessenheit‹ des Computerspielers beim Spielen durchaus aufschlussreich geraten sind. Selbstverständlich soll hier nicht die vollständige Aufarbeitung des Forschungsstandes im Rahmen von Beiträgen mit einem durchschnittlichen Umfang von zehn Seiten gefordert werden, aber in Bergers Fall wäre ein kurzer Verweis auf Aristoteles oder Janet Murray, die den Begriff der ›Immersion‹ wesentlich geprägt hat, dann doch zu erwarten gewesen.

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Im Übrigen wird der Verdacht, dass es sich dabei weniger um Idiosynkrasien der Beiträge von Rusch und Berger, als vielmehr um ein grundlegendes Problem des Sammelbandes handelt, nicht zuletzt durch den Umstand bestärkt, dass innerhalb der Computer Game Studies doch recht zentral positionierte Forscher wie Markku Eskelinen, Aki Järvinen, Lisbeth Klastrup, Marie-Laure Ryan oder T. L. Taylor im gemeinsamen Literaturverzeichnis mit keinem einzigen Eintrag auftauchen. Der nicht selten polemisch argumentierende Markku Eskelinen hat den in Henry Jenkins »Game Design as Narrative Architecture« von 2004 fehlenden Verweis auf Arbeiten von Espen Aarseth und Gonzalo Frasca dereinst mit klaren Worten bedacht: »A discussion of the present topic, which ignores these works, cannot hope to break new ground.« 9 Eine solche Behauptung ist recht offensichtlicher Unsinn und es soll hier keineswegs so etwas wie ein ›Zitierzwang‹ gefordert werden. Das Fehlen von Verweisen auf Arbeiten der genannten Forscher im gesamten Sammelband ist aber zumindest auffällig.

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Hinzu kommen einige zwar nicht unbedingt gravierende, jedoch fraglos vermeidbare Fehler im formalen Bereich. So wird das Erscheinungsjahr von Jesper Juuls eingangs erwähntem ›Editorial‹ der ersten Ausgabe der Game Studies im Jahr 2005 sowohl in der Einleitung der Herausgeber (S. xv) als auch im Literaturverzeichnis mit 2001 angegeben, Claudia Herbst zitiert in ihrem Beitrag »Programming Violence: Language and the Making of Interactive Media« zwei unselbstständige Beiträge in einem Sammelband einmal unter den Namen von dessen Herausgebern (S. 71), ein anderes Mal unter dem Namen der Autorin des Beitrags (S. 73) und Jeffrey  P. Cain verweist in seinem Beitrag »Another Bricolage in the Wall: Deleuze and Teenage Alienation« auf das für seine Argumentation durchaus zentrale
A Thousand Plateaus zunächst dem fehlerhaften Eintrag im Literaturverzeichnis entsprechend mit »Deleuze, 1987« (S. 59), auf der selben Seite aber auch mit »Guattari, 1987« (S. 59) und auf der folgenden Seite schließlich richtigerweise mit »Deleuze and Guattari, 1987« (S. 60).

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Computer Games as a Sociocultural Phenomenon ist also alles andere als perfekt. Dass der Sammelband letztlich dennoch – mit den erwähnten Abstrichen – als gelungen betrachtet werden kann, verdankt sich nicht nur der hervorragenden Qualität einzelner Beiträge, sondern auch und gerade dem Umstand, dass die Herausgeber durch ihre Auswahl von in der Regel durchaus soliden und im Hinblick auf ihren jeweiligen thematischen Fokus recht heterogenen Beiträgen einen ansprechend bunten Blumenstrauß medien- und kulturwissenschaftlicher Forschung zum ›soziokulturellen Phänomen des Computerspiels‹ versammelt haben. Zwar handelt es sich hier – trotz der eingangs mit Kücklich konstatierten, in den letzten Jahren verstärkt zu beobachtenden Hinwendung der Computer Game Studies zu einem ›kontextorientierten Pragmatismus‹ – wohl nur bedingt um einen repräsentativen Querschnitt der gegenwärtigen Forschungslandschaft, aber der Band bietet eine solche Vielfalt unterschiedlicher Ansätze, dass die Lektüre dem an der Thematik interessierten Leser sicherlich die ein oder andere gedankliche Anregung bescheren wird. Wer sich im Rahmen der Medien- und / oder Kulturwissenschaft(en) schwerpunktmäßig mit Computerspielen und / oder ihren soziokulturellen Kontexten beschäftigt, kommt um den Sammelband ohnehin nicht herum.

 
 

Anmerkungen

Britta Neitzel / Rolf F. Nohr: Das Spiel mit dem Medium. Partizipation – Immersion – Interaktion. In: Britta Neitzel / Rolf F. Nohr (Hg.): Das Spiel mit dem Medium. Partizipation - Immersion - Interaktion. Zur Teilhabe an den Medien von Kunst bis Computerspiel. Marburg: Schüren 2006, S. 9-17, hier S. 10.

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Vgl. Jesper Juul: Where the Action Is. In: Game Studies 5.1 (2005). URL: http://www.gamestudies.org/0501/editorial/ (31.08.2008).   zurück
Da im Rahmen dieser Rezension kein umfangreicher Forschungsüberblick gegeben werden soll und kann, sei hier vor allem auf einige mehr oder weniger einschlägige Sammelbände verwiesen: Friedrich von Borries / Steffen P. Walz / Ulrich Brinkmann / Matthias Böttger (Hg.): Space Time Play. Computer Games, Architecture, and Urbanism. The Next Level. Basel [u.a.]: Birkhäuser 2007; Nate Garrelts (Hg.): The Meaning and Culture of Grand Theft Auto. Critical Essays. Jefferson / NC: McFarland & Co. 2006; Britta Neitzel / Matthias Bopp / Rolf F. Nohr (Hg.): »See? I’m Real.« Multidisziplinäre Zugänge zum Computerspiel am Beispiel von ›Silent Hill‹. Münster: LIT 2004; Jost Raesens / Jeffrey Goldstein (Hg.): Handbook of Computer Game Studies. Cambridge / MA und London: MIT Press 2005; Peter Vorderer / Jennings Bryant (Hg.): Playing Video Games. Motives, Responses, and Consequences. Mahwah / NJ, London: Erlbaum 2006; Noah Wardrip-Fruin / Pat Harrigan (Hg.): FirstPerson. New Media as Story, Performance, and Game. Cambridge / MA, London: MIT Press 2004; Mark J. P. Wolf / Bernard Perron (Hg.): The Video Game Theory Reader. New York / NY, London: Routledge 2003.   zurück
Espen Aarseth: Computer Game Studies, Year One. In: Game Studies 1.1 (2001). URL: http://www.gamestudies.org/0101/editorial.html (31.08.2008), o.S.   zurück
Vgl. hierzu beispielsweise die folgenden Überblicksdarstellungen: Gonzalo Frasca: Ludologists Love Stories, too. Notes from a Debate that Never Took Place. In: Level Up. Digital Games Research Conference Proceedings 2003. URL: http://www.ludology.org/articles/Frasca_LevelUp2003.pdf (31.08.2008); Julian Kücklich: Invaded Spaces. Anmerkungen zur interdisziplinären Entwicklung der Game Studies. In: SPIEL. Siegener Periodicum zur Internationalen Empirischen Literaturwissenschaft 23.2 (2004 [erschienen 2007]), S. 285–303; Marie-Laure Ryan: Avatars of Story. Minneapolis / MN: University of Minnesota Press 2006, S. 181–203.   zurück
Kücklich: Invaded Spaces (wie in Anmerkung 5), S. 288.   zurück
Vgl. Jesper Juul: A Clash between Game and Narrative. A Thesis on Computer Games and Interactive Fiction. (Masterarbeit) Kopenhagen 2001. URL: http://www.jesperjuul.net/thesis/AClashBetweenGameAndNarrative.pdf (31.08.2008); Jonathan Frome: Representation, Reality, and Emotions Across Media. In: Film Studies: An International Review 8 (2006), S. 12–25. Zudem online unter der URL: http://www.jonathanfrome.net/papers/representation-reality.pdf (31.08.2008).   zurück
Zum Begriff der ›Mimesis‹ sei hier nur kurz angemerkt, dass dessen umfangreiche Rezeptionsgeschichte weder mit Aristoteles’ Poetik beginnt, noch mit ihr endet und dass gerade aufgrund der aus diesem Umstand resultierenden Vielgestaltigkeit des Begriffs die Voraussetzungslosigkeit von Bergers Argumentation seltsam anmutet. Zu dem sich innerhalb der Computer Game Studies in den letzten Jahren einer gewissen Beliebtheit erfreuenden Begriff der ›Immersion‹ – der zumindest aus meiner Perspektive nicht ohne weiteres mit ›Mimesis‹ gleichgesetzt werden kann – wären neben Janet H. Murray: Hamlet on the Holodeck. The Future of Narrative in Cyberspace. New York [u.a.]: The Free Press 1997, das zwar im Literaturverzeichnis des Sammelbandes auftaucht, aber von Berger nicht zitiert wird, beispielsweise Alison McMahan: Immersion, Engagement, and Presence. A Method for Analyzing 3-D Video Games. In: Mark J. P. Wolf / Bernard Perron (Hg.): The Video Game Theory Reader (wie in Anmerkung 3), S. 67–86 oder Marie-Laure Ryan: Narrative as Virtual Reality. Immersion and Interactivity in Literature and Electronic Media. Baltimore / MD, London: Johns Hopkins University Press 2001, zu nennen.   zurück
Markku Eskelinen: From Markku Eskelinen’s Online Response. In: Noah Wardrip-Fruin / Pat Harrigan (Hg.): FirstPerson (wie in Anmerkung 3), S. 120–121, hier S. 120 f. Zudem online unter der URL: http://www.electronicbookreview.com/thread/firstperson/astragalian (31.08.2008). Vgl. auch Espen Aarseth: Cybertext. Perspectives on Ergodic Literature. Baltimore / MD, London: Johns Hopkins University Press 1997; Gonzalo Frasca: Ludology Meets Narratology. Similitude and Differences between (Video)Games and Narrative (1999). URL: http://www.ludology.org/articles/ludology.htm (31.08.2008); Henry Jenkins: Game Design as Narrative Architecture. In: Noah Wardrip-Fruin / Pat Harrigan (Hg.): FirstPerson (wie in Anmerkung 3), S. 118–130.   zurück